von Thomas Kaiser
Kurz vor den Festtagen, wenn ein grosser Teil der Bevölkerung bereits in den Weihnachtsferien weilt und die übrigen mit den Vorbereitungen für das grosse Fest des Friedens beschäftigt sind, zelebriert der Bundesrat den Abschluss der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Der Zeitpunkt ist kaum zufällig, sondern gehört zum politischen Kalkül.
Am 20. Dezember traten die Schweizer Bundespräsidentin, Viola Amherd, und die EU-Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, zum «Präsidialen Statement zum materiellen Abschluss der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU» vor die Medien. Wer tatsächlich etwas Substanzielles zu den Verträgen erwartet hatte, ging leer aus und wurde auf die Pressekonferenz mit den Bundesräten Beat Jans, Guy Parmelin und Ignazio Cassis vertröstet. Fragen an die beiden Präsidentinnen waren keine zugelassen. So hatten sie freies Feld, ihren Schmusekurs zu demonstrieren, ohne sich kritischen Fragen von Journalisten stellen zu müssen.
Wider demokratischer Gepflogenheiten
Der «offizielle Staatsbesuch», der im Vorfeld kaum publik gemacht wurde, war eine Show auf tiefem politischem Niveau. Offensichtliches Ziel war es, Einigkeit zwischen der EU und der Schweiz zu demonstrieren. Es war ein PR-Auftritt, wie man ihn wahrscheinlich noch nie erlebt hat und der unseren demokratischen Gepflogenheiten entgegensteht.
Viola Amherd redete um den heissen Brei herum, lobte permanent und penetrant das gute Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU und verkaufte den EU-Rahmenvertrag 2.0 als Fortführung des bilateralen Wegs.
Es ist kaum zu glauben, wie Amherd den drohenden Verlust der Schweizer Souveränität als «Vorteil für das Land» und als ein «starkes Signal» für den ganzen europäischen Kontinent propagierte. Es wurde deutlich, dass sich der Bundesrat mit der gleichen Begründung den EU-Sanktionen gegen Russland angeschlossen und mit einem «starken Signal» für EU und Nato die Neutralität verraten hatte. Amherd betonte das «freundschaftliche Verhältnis» zwischen sich und von der Leyen. Das Verhältnis der beiden spielt aber bei der sachlichen Prüfung des Vertrags keine Rolle. Hier geht es um den Inhalt, die Fakten und die Konsequenzen für die Schweiz.
Der Bundesrat ist verpflichtet, sich für das Wohl des ganzen Landes und der gesamten Bevölkerung einzusetzen. Das verlangt die Verfassung von ihm, und zwar langfristig. Doch bei dieser Selbstbeweihräucherung beschleichen einen grosse Zweifel, ob das noch die Richtschnur ist.
Lobhudeleien gegenüber der EU
Während ihres Statements vor der Presse wirkte Viola Amherd unruhig und richtete mehrfach den Blick auf die neben ihr stehende, erhabene Kommissionspräsidentin. Damit war für alle ersichtlich, wen Viola Amherd zufriedenstellen wollte. Ihre Worte waren Lobhudeleien gegenüber der EU und Werbung für das «ausgewogene Verhandlungsergebnis», das beiden Seiten nur «Vorteile bringt». Sie versuchte der anwesenden Presse, den ausgehandelten Vertrag «billig» zu verkaufen. Die beiden Frauen zelebrierten das Ende der Verhandlungen, als ob der Vertrag bereits in Stein gemeisselt wäre. Ist er aber nicht, das ist auch Frau Amherd klar. Am Schluss erwähnte sie doch noch das Parlament und als Feigenblatt das Volk, das jetzt im Zentrum (der Propaganda?) stehe. Sie musste das sagen, denn sie weiss, dass sie am Volk nicht vorbeikommt. Nach dieser Vorstellung kann man erahnen, mit welchen Mitteln die Stimmberechtigten bearbeitet werden, damit der Vertrag nicht zur Makulatur wird. Amherds persönliche Beraterin, Brigitte Hauser Süess, liess denn auch im Interview mit Radio SRF durchblicken, dass der Bundesrat eine Kampagne (Propaganda) vorbereite, um die Verträge dem Volk nahezubringen – damit diesmal nichts anbrennt.
Der Bundesrat legte sich bis jetzt nicht fest, ob er den Rahmenvertrag 2.0 dem obligatorischen Referendum unterstellen will oder nicht. Wenn er das verweigern würde, was den amtierenden Räten durchaus zuzutrauen wäre, übergingen sie die Stimmen der Kantone und umgingen das Ständemehr. Bundesrat Beat Jans hatte bereits im Sommer mit juristischen Winkelzügen versucht, bevor nur irgendetwas ausgehandelt war, die Mitbestimmung der Kantone mit einem zweifelhaften Gutachten zu verhindern. Es geht ihm auch nicht darum, in einem demokratischen Prozess den Vertrag anzunehmen oder abzulehnen, sondern das Volk «muss» das Vertragswerk annehmen, damit der Bundesrat vor der EU sein Gesicht wahren kann.
Wer so weit geht wie Viola Amherd, wird nur schwer seine eigene Befindlichkeit in den Hintergrund stellen können und eine sachliche, auf Fakten beruhende Auseinandersetzung führen. Wenn das nicht geschieht, erleidet die Demokratie enormen Schaden.
Wo sind aufrechte Haltung und Rückgrat?
Das Ständemehr ist in der Schweizer Verfassung festgeschrieben und war 1848 der Kompromiss, der zwischen den Kantonen ausgehandelt wurde, um zu verhindern, dass die bevölkerungsreichen Kantone, diejenigen mit weniger Einwohnern überstimmen und so ihren Willen den kleineren Kantonen aufdrücken könnten. Ohne das Festschreiben des Ständemehrs wäre unser Bundesstaat, wie wir ihn heute kennen, kaum zustande gekommen. Der Föderalismus ist eine der tragenden Säulen unseres demokratischen Staatswesens.
Mit Bundespräsidentin Viola Amherd stand keine Schweizerin vor den Medien, die aufrecht und mit Rückgrat die Souveränität und Eigenständigkeit unseres Landes repräsentierte, keine Landesvertreterin, die mit Engagement die Interessen von Land und Leuten vertritt. Es war eine peinliche Vorstellung, wie wir sie in der letzten Zeit schon öfters erlebt hatten, besonders wenn man sich der Medienkonferenz nach der gescheiterten Veranstaltung auf dem Bürgenstock erinnert. Tragisch ist, dass sich die Schweiz von solchen Politikern und Politikerinnen auf der internationalen Bühne vertreten lassen muss.
Nach ihren Ausführungen übergab Viola Amherd «Ursula» das Wort, und die bedankte sich bei «Viola». Man hat sich bereits «verschwestert». Die angemessene diplomatische Distanz, wenn Grundlegendes auf dem Spiel steht, wurde verlassen: «Säudeckeli – Säuhäfeli», wie man in der Schweiz in solch einem Fall zu sagen pflegt. Mit anderen Worten: Man ist sich einig im üblen Spiel.
Arroganz des Westens
Ursula von der Leyen bezeichnete das vorläufige Ende der Verhandlungen grossspurig als «historisch» und liess die Katze gleich aus dem Sack: Es geht um den Führungsanspruch der EU mit der Schweiz im Seitenwagen. «Wir geben gemeinsame Antworten auf globale Realitäten.» Sie spricht so, als sei die Schweiz bereits ein Teil der EU und Viola Amherd strahlt beflissen. Der Deutschlandfunk spricht von einer «engeren Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU» und übernimmt von der Leyens Aussagen unkritisch. Einheit wurde demonstriert, die vergessen machen soll, wie die EU die Schweiz nach dem gescheiterten Rahmenabkommen abstrafte. Im weiteren erklärte Frau Präsidentin, dass die Schweiz nun auch bei den «Grossen» am Tisch sitzen dürfe. Sie fabulierte über «kraftvolle Partnerschaften» und beschwor: «Solche sind ein Muss»; die Deutungshoheit immer auf der Seite der EU. Die «regelbasierte internationale Ordnung» wurde auch noch bemüht, was nichts anderes bedeutet als die Ignoranz des Westens gegenüber dem internationalen Recht. Internationales Recht kann nur die Uno setzen und nicht die EU. Das erinnert an absolutistische Willkür. Die Betonung der «gemeinsamen Werte» klingt hohl und blasiert. Das Hervorheben von «Rechtsstaatlichkeit» und «Demokratie» soll die Einheit zwischen der Schweiz und der EU bekräftigen. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind unbestritten die Grundlagen eines friedlichen und gleichwertigen Zusammenlebens. Ob die EU diese Ansprüche erfüllt, ist fraglich.
EU und Schweiz nicht kompatibel
Wenn von der Leyen die Demokratie der EU und der Schweiz in einem Atemzug nennt, zeigt sich zum wiederholten Male, dass die Granden der EU keine Ahnung davon haben, wie sehr sich die Demokratie unseres Landes von den Strukturen der EU unterscheidet. Während die EU von Anfang an ausschliesslich von oben nach unten durchorganisiert ist, finden wir in der Schweiz genau das Gegenteil: das direktdemokratische Prinzip von unten nach oben. Das Schweizer Volk ist der Souverän. Letztlich kann es alles zum Scheitern bringen. Das will man in der EU nicht akzeptieren und droht mit «Retorsionsmassnahmen», sprich Sanktionen, sollte der Vertrag an der Urne scheitern. Der ehemalige Grüne Aussenminister, Josef Fischer, äusserte sich in seiner ihm eigenen Überheblichkeit dahingehend, dass er das Volk als unfähig erachte, über so etwas Komplexes wie die EU-Verträge zu entscheiden, man lasse sich das Errungene nicht zerstören. Ein Plebiszit ist für ihn etwas Emotionales: «Bei Volksabstimmungen geht es doch nur um Emotionen.» Das ist bis heute das Demokratieverständnis der EU. Tatsächlich ist das Volk vielfach rationaler als abgehobene Politiker. Direkte Demokratie wäre, wenn überhaupt, nur dann von der EU akzeptiert, wenn das Volk den politischen Vorgaben der Herrschenden zustimmte. Damit wird sie zur Farce. Das ist machiavellistisch und hat nichts mit der Ausgestaltung unserer Demokratie zu tun.
Kein Land in der EU kennt die von der Verfassung garantierte direkte Mitsprache der Bevölkerung im Sinne von Referendum und Volksinitiative. Die EU ist kein Vorzeigemodell für Demokratie. Wenn ein Parlament wie das der EU kein Initiativrecht besitzt, die Gewaltenteilung, wie in einer Demokratie zwingend, kaum erfüllt ist, wenn gewählte Volksvertreter nur eingeschränkte Befugnisse besitzen, kann man beim besten Willen nicht von einer Demokratie sprechen, bestenfalls von einer «gelenkten Demokratie».
Wir sind uns so nah …
Was von der Leyen an diesem Presseauftritt präsentierte, war eine inszenierte Charmeoffensive, abgekartet und gut einstudiert. Es fehlten nur noch die Worte, mit denen der damalige Präsident, John F. Kennedy, vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin die Herzen der Deutschen berührte: «Ich bin ein Berliner.» «Ich bin eine Schweizerin» wäre eine zu billige Kopie gewesen. Von der Leyen hat einen anderen Dreh gefunden: «Wir sind uns so nah, wie man sich nur sein kann.» Was heisst hier «wir»? Seit wann bestimmt von der Leyen, wie nahe sich die Schweizer der EU fühlen? Diese Aussage ist der Gipfel der Arroganz und nur schwer verdaulich. Auch zögert von der Leyen nicht zu bestimmen, dass «die Grenzen zwischen der Schweiz und Deutschland nur noch virtuell» seien.
Bei einer Zugfahrt von der Schweiz nach Deutschland ist sinnvollerweise von einer virtuellen Grenze nichts zu spüren, wenn zum Beispiel der deutsche Grenzschutz, bewaffnet und in voller Montur, in Dreiergruppen die Züge durchsucht und Reisende kontrolliert.
Von der Leyen führte das grosse Wort und Viola Amherd nickte zustimmend, wie eine brave Schülerin. Dass man seitens der EU-Kommission schon ab dem 1. Januar 2025 eine Übergangsregelung für Schweizer Unternehmen angekündigt hat, «die ihnen sofort den Zugang zu den europäischen Programmen gewähren», ist ein ungeniessbares «Zückerli» von der EU. Dieser Schritt bedeutet, bevor Parlament und Volk die Verträge gutgeheissen haben, eine Missachtung der demokratischen Prozesse, auch gegenüber den Mitgliedsländern der EU, was nicht gross erstaunen kann. Mit diesem Schritt wurde ein fait accompli geschaffen, um Unternehmer für eine Unterstützung des Rahmenvertrags 2.0 zu gewinnen. Die EU-Kommission will mit allen Mitteln die Schweiz in die EU zwingen.
Ursula von der Leyen dominierte das Geschehen. Sie zeigte der Schweiz, wer die Fäden in der Hand hält, und gab zu verstehen, dass es die einmalige Chance sei, auch bei den «Grossen der EU» dabei sein zu können. Das soll alles «auf gleicher Augenhöhe» geschehen, wie sie betonte. Wie diese «gleiche Augenhöhe» aussieht, kann man sich nach diesem Auftritt und den Erfahrungen der letzten Jahre lebhaft vorstellen.
Mit der Haltung unseres Bundesrats wird die EU leichtes Spiel haben. Das realisierten auch die Unterhändler und die Kommissionsmitglieder. Wie sollen sie auch einen anderen Eindruck bekommen von Bundesräten, die handstreichartig die Neutralität und jetzt auch die Souveränität über Bord werfen wollen. Doch ob das Volk das alles mitmacht, ist sehr zu bezweifeln. Zum Glück hat es das letzte Wort, und wird es, wenn es den Vertrag ablehnt, auch weiterhin behalten. ■