«Die Neutralität ist unser Schutz und unsere «Raison d’être»

Interview mit alt Botschafter Georges Martin*

Zeitgeschehen im Fokus Von 1980 bis 2017 waren Sie für das Eidgenössische Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Bern sowie weltweit tätig, unter anderem als diplomatischer Berater des ehemaligen Bundespräsidenten René Felber. Wie beurteilen Sie als ehemaliger Diplomat die Bedeutung der Neutralität für die schweizerische Aussenpolitik?
alt Botschafter Georges Martin Eine Journalistin hat einmal gesagt, das Bankgeheimnis sei für die Schweiz so wichtig gewesen – also praktisch in unserer DNA – und jetzt sei es weg. Auch die Neutralität als unsere Eigenschaft und unsere DNA könne man abschaffen. Nein, das ist nicht so. Die Schweiz ist die Mutter aller Neutralität in der Welt. Sie gehört grundsätzlich zur Schweiz. Ohne Neutralität ist sie ein Liechtenstein oder ein Lu­xembourg der Alpen. Das wäre nicht mehr die Schweiz.
Die Gegner der Neutralität sagen immer wieder, die Schweiz würde sich hinter der Neutralität verstecken, lasse Unrecht zu und unternehme nichts. Das ist genau umgekehrt. Die Neutralität ist keine Zurückhaltung, absolut nicht. Die Neutralität braucht Mut, sehr viel Mut und viel Präsenz in der Welt. Es ist die Aufgabe der Schweiz, immer wieder über Verhandlungen, über Frieden und über Menschenrechte zu sprechen. Und das habe ich vermisst in den letzten drei Jahren.
Kurz gesagt, die Neutralität ist eine riesige Verantwortung für ein westliches Land wie die Schweiz. Es gibt nicht mehr viele westliche Länder, die noch neutral sind. Wir haben eine Verantwortung gegenüber der Geschichte und gegenüber unseren Vorvätern. Wir haben die Neutralität geerbt. Es ist wie mit einer Erbschaft, man ist dann verantwortlich, die Erbschaft weiterzugeben. Es wäre sehr bedauerlich und eine grosse Verantwortungslosigkeit, diese Erbschaft zu vernichten und nicht mehr weiter zu geben. Die Neutralität, das ist unsere «Raison d’être». Ohne Neutralität gibt es keine «Raison d’être» für die Schweiz. Ohne Neutralität wäre die Schweiz nur ein reiches Land, wahrscheinlich ein sehr egoistisches, und wir würden nur Handel treiben und Geschäfte machen.
Die Neutralität, das ist immer wieder die Gelegenheit für uns, zu unseren Werten zurückzugehen. In meinen aktiven Jahren haben die Bundesräte, für die ich gearbeitet habe, immer wieder gefragt: «Ist es möglich in dieser oder jener Angelegenheit unsere Interessen und unsere Werte übereinstimmen zu lassen?» Das ist sehr wichtig. Und heute, wenn wir die Neutralität nicht mehr hätten, ich weiss nicht – ehrlich gesagt – welche Werte wir noch hätten. Je weniger man über die Neutralität spricht und je weniger man eine neutrale Aussenpolitik führt, desto weniger spricht man über die Menschenrechte. Das gehört zusammen.

Gibt es Beispiele für die Bedeutung der schweizerischen Neutralität, wenn man in der Geschichte zurückschaut?
Ja, es gibt sehr, sehr viele. Die Neutralität ist wie die Luft. Die Schweiz atmet mit der Neutralität. Die Aussenpolitik der Schweiz war immer eine neutrale Aussenpolitik. Was heisst das? Länder, die Probleme hatten miteinander, sind zu uns gekommen und haben gefragt: «Können Sie helfen?» Es gab zahlreiche Beispiele in Afrika: Tschad, Mali und so weiter. Als ich in Indonesien war, war für die Indonesier die Schweiz die Mutter aller Neutralität. In Aceh haben wir nach dem Tsunami mitgeholfen, den dreissigjährigen Bürgerkrieg zu beenden. Bei den Iranian Nuclear Talks in Genf war die Schweiz hilfreich. Die Libanon-Gespräche haben in der Schweiz und mit Schweizer Hilfe stattgefunden. Auch die Verhandlungen in Kolumbien zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung wurden von der Schweiz unterstützt. Nach dem Krieg zwischen Russland und Georgien haben wir die russischen Interessen in Tiflis und die georgischen Interessen in Moskau vertreten. Es gibt keinen Kontinent, wo wir nicht aktiv waren. Es gab kaum eine Woche ohne Meldungen über die Aktivitäten der Schweiz in Sachen Frieden und Friedensverhandlungen. Aber die letzten vier, fünf Jahre habe ich praktisch nichts mehr gehört.
Jetzt, mit dem Krieg in der Ukraine, hat die Schweiz ihre diplomatischen Dienste angeboten. Aber für Russland kommt die Schweiz nicht mehr in Frage. Russ­land will nicht, dass die Schweiz ihre Interessen in der Ukraine vertritt, weil die Schweiz mit der Neutralitätspolitik gebrochen hat.

Wo haben Sie in Ihrer Arbeit als Schweizer Diplomat positive Erfahrungen mit der Neutralität machen können?
Ich habe angefangen in Südafrika zur Zeit der Apartheid, wo ich mich für ein neues Südafrika und die Freilassung von Nelson Mandela einsetzen konnte.
Ich war als Botschafter in Kenia als es nach den Wahlen 2007 und 2008 zu schrecklichen Unruhen kam mit Tausenden von Toten. Der ehemalige und pensionierte Uno-Generalsekretär Kofi Annan kam nach Kenia und blieb, bis eine Lösung gefunden werden konnte. Bescheiden und im Stillen – die Zeitungen haben nie darüber berichtet – habe ich als Schweizer Botschafter in meinem Büro die Leute empfangen, die zu uns gekommen sind, weil wir neutral waren.
Am Ende meiner Karriere habe ich zwischen Iran und Saudi-Arabien vermittelt. Die saudische Botschaft in Teheran war angegriffen und verwüstet worden. Die saudischen Diplomaten konnten knapp fliehen. Danach hat sich der Iran an die Schweiz gewandt. Der Iran wollte eine Schutzmacht für ihre Leute, die jedes Jahr nach Mekka pilgerten. Die Iraner hätten die Schweiz nie angefragt, wenn wir nicht neutral und nicht für unsere Neutralität bekannt gewesen wären. Dann haben wir uns überlegt, ein Doppelmandat auch für die Saudis zu machen. Wir haben uns Zeit genommen, ihnen das zu erklären. Sie waren sehr interessiert. Über die schweizerische Interessensvertretung konnten zwei Büros eröffnet werden, in Jeddah für die iranischen Pilger nach Mekka und in Meshed im Iran für die saudischen Pilger. Das kam zwei Wochen nach meiner Pensionierung zustande. Ich war froh und stolz, auch etwas beigetragen zu haben, dass sich die zwei Länder wieder gefunden haben. Das ist eben die Rolle der Schweiz. Da zu sein, wenn es brennt, wenn die anderen uns brauchen, und sich nicht aufzuspielen und damit an die Öffentlichkeit zu gehen, wie das heute oft gemacht wird. Man ist viel effizienter, wenn man im Hintergrund bleibt. Man muss einfach zufrieden sein, wenn wir geholfen haben, ohne dass das gross kommuniziert wird. Früher ist das EDA ständig angefragt worden, und wir wurden aktiv. Jetzt hat man das Gefühl, das ist bald die Ausnahme.

Wie hat sich die schweizerische Aussenpolitik in Bezug auf die Neutralität verändert?
Ein ehemaliger Kollege sagte, die Neutralität sei wie ein Haus mit drei Stockwerken. Zuunterst ist das Neutralitätsrecht, im ersten Stock ist die Neutralitätspolitik, und zuoberst ist die Perzeption [Wahrnehmung] dieser Neutralität. Alle Stockwerke sind gleich wichtig. Wenn wir von anderen Ländern nicht mehr als neutral wahrgenommen werden, sind die beiden unteren Stockwerke nutzlos. Man kann nicht einfach sagen, wir sind neutral, und dann eine völlig andere Politik machen. Mit den Sanktionen gegen Russland sind wir nicht mehr neutral. Die EU hat Sanktionen beschlossen, und die Schweiz hat jede dieser Sanktionswellen Stunden später geschluckt.
Der französische Wirtschaftsminister, Bruno Le Maire, sagte, wir haben uns für Sanktionen entschieden, um die russische Wirtschaft in die Knie zu zwingen und zu zerstören. Das haben wir mitgemacht, und das ist ein Kriegsakt und eine krasse Verletzung der Neutralität. Die Perzeption der Neutralität im zweiten Stock ist nicht mehr vorhanden. Kurz nach Anfang des Krieges hat Präsident Biden in einer Rede gelacht und gesagt, ja, schauen Sie einmal, sogar die Schweiz ist auch nicht mehr neutral. Auch die Europäer betrachten uns nicht mehr als neutral. Eine grosse Mehrheit der Elite in der Schweiz, also Medien und Politik, findet, wir müssten uns der heutigen Zeit anpassen. Es gab viele Perioden, wo einige auch immer wieder gesagt haben, wir müssten uns anpassen, so zum Beispiel in den 1930er Jahren.
Wenn wir nur ein parlamentarisches System hätten wie Finnland und Schweden, wären wir schon in der Nato. Aber zum Glück haben wir die direkte Demokratie. Ohne das Volk, ohne unsere direkte Demokratie – davon bin ich fest überzeugt – wären wir schon in der Nato. Das zeigt, dass unsere Neutralität in grosser Gefahr ist. Aber in der Schweiz entscheidet das Volk und nicht die NZZ, nicht Le Temps in Genf, nicht TAMEDIA, auch nicht der Bundesrat und nicht die politischen Parteien.
Das Volk wird in der Schweiz über die Neutralitätsinitiative abstimmen können. Was sagt die Mehrheit dieser Eliten? Das sei eine SVP-Initiative. Weil das eine SVP-Initiative sei, müsse man Nein stimmen. Das ist wahnsinnig! Vor kurzem habe ich mit einem SP-Ständerat gesprochen und ge-sagt, die Beibehaltung der schweizerischen Neutralität ist sehr wichtig. Diese Initiative ist noch wichtiger als alle anderen Initiativen, über die wir seit dem Zweiten Weltkrieg abgestimmt haben. Er hat mir gesagt: «Ja, das stimmt, aber der Text von dieser SVP-Initiative gefällt mir nicht ganz.» Da habe ich geantwortet: «Wir haben auch oft den Texten der SP zugestimmt, auch wenn sie uns nicht in allen Details gefallen haben.» Bis jetzt haben wir noch keine Debatte über die Neutralität. Aber wir werden eine riesige Debatte haben darüber, und das freut mich sehr. Alle Befürworter der Neutralität müssen jetzt kämpfen, noch nicht für ein Ja, aber gegen diese Meinung, gegen diese Marketing-Kampagne, die sagt, es sei eine SVP-Initiative, also inakzeptabel. Die Aussenpolitik, die seit Beginn des Krieges in der Ukraine verfolgt wird, hat die Situation grundlegend verändert. Das ist jetzt eine Volksinitiative.

Wie beurteilen Sie die Ukrainepolitik von Bundesrat Cassis?
Das ist eine Natopolitik, keine neutrale Politik. Man spricht von Cassis und Amherd, aber es ist der Gesamtbundesrat, der zuständig ist für die Aussenpolitik der Schweiz. Das steht in unserer Verfassung. Cassis und Amherd führen die Schweiz in eine falsche Richtung. Aber der Bundesrat korrigiert das nicht. Das ist verantwortungslos. Der Bundesrat hat früher, wenn einer unserer Aussenminister etwas falsch gemacht hätte, reagiert: «Nein, das geht so nicht.» In der Schweiz ist jeder Bundesrat und jede Bundesrätin ein Staatsoberhaupt. Man ist nicht nur zuständig für sein Ressort. Man ist zuständig für das ganze Land im Äusseren und im Inneren.
Die jetzigen Bundesrätinnen und Bundesräte geben den Eindruck, dass sie nur mit ihren eigenen Geschäften beschäftigt sind, und sie sehen das Ganze nicht, vor allem in der Aussenpolitik. Da sind die Leinen sehr sehr lang für Amherd und Cassis. Kurz nach Kriegsanfang begrüsste Cassis Wolodimyr Selenskyj damit, dass die ganze Schweiz und das ganze Schweizer Volk hinter ihm stünden. Das war völlig daneben.
Die Konferenz auf dem Bürgenstock ist vor einem Jahr in Bern und in Davos zustande gekommen. Selenskyj war zu Besuch bei Bundespräsidentin Amherd. In der Pressekonferenz noch vor Davos sagte sie, sie hätten sich geeinigt, dass die Schweiz eine Friedenskonferenz organisieren werde. In ihrer Rede in Davos hat sie das dann offiziell verkündet. Cassis und die Leute vom EDA waren vollkommen überrascht von dieser Idee. Vermutlich hat Cassis gesehen, dass das auch für sein Ansehen gut wäre, und so ist die Konferenz zustande gekommen, etwas amateurhaft.
Für die Konferenz auf dem Bürgenstock wurden Millionen ausgegeben, aber nicht für den Frieden. Damit haben wir unsere Neutralität noch etwas tiefer begraben. Unsere Ukrainepolitik ist also ein Desaster. Vor Trump hatten wir kein westliches Land mehr, das sich für Frieden und Verhandlungen einsetzt, die Schweiz ist weg, das war unsere DNA, das war immer unsere Aufgabe. Jetzt vermitteln die Türkei, Indien, Brasilien.
Aber auch die Schweizer Aussenpolitik in Nahost ist eine Tragödie. Mit dem Hamas-Verbot macht unser Parlament Aussenpolitik. Es geht nicht darum, die Hamas zu lieben. Aber dieses Verbot verhindert, dass die Schweiz diplomatisch aktiv werden kann. Jetzt spielt Katar die Rolle, die die Schweiz hätte spielen können. Das Gleiche droht nun mit einem Verbot der Hisbollah. Das ist völlig daneben. Es ist nicht nur die Bundespräsidentin oder Bundesrat Cassis. Es ist auch das Parlament. Sie führen zur Zeit die Schweiz in eine total falsche Richtung.

Wie ist das eigentlich im EDA, wenn ein neuer Bundesrat kommt? Oft arbeiten dort die Beamten schon sehr lange.
Die meisten Bundesräte oder Bundesrätinnen kommen ohne Ahnung, was Aussenpolitik ist, in das EDA. In der Schweiz ist die Aussenpolitik nicht sehr beliebt, da Politiker damit keine politische Karriere machen können. Meist kommen sie von Kantonsregierungen oder aus dem Parlament.
Wenn ein neuer Chef oder eine Chefin kommt, gibt es im EDA viele gute Leute. Sie haben ein Gremium von Direktoren, die sie beraten. Wenn mein damaliger Chef, Bundesrat René Felber, sagte, ich möchte das und das und das, haben die Direktoren überlegt und dann vielleicht auch gesagt: «Nein, das geht nicht.» Der Bundesrat hat dann versucht zu überzeugen, aber wenn es nicht ging, dann ging es nicht. Diese Leute, die fähig waren, wirklich ein Gespräch zu führen mit dem Chef, die sind weg, es gibt sie nicht mehr. Der Generalsekretär kommt vom Nachrichtendienst. Er hat praktisch den Schlüssel zur Seele und zum Gehirn des Aussenministers. Er macht, was er will im Departement. Er ist zuständig für die Versetzung von Leuten und für die Substanz der Politik. Er hatte selber keine Ahnung, was Aussenpolitik ist.
Früher war immer der Staatssekretär die wichtigste Person im Departement. Unter Bundesrat Burk­halter wurde erstmals ein Staatssekretär nominiert, der von ausserhalb gekommen ist. Das ist nicht gut, wenn der Bundesrat und der Staatssekretär von ausserhalb kommen. Dann gibt es niemanden, um das EDA wirklich arbeiten zu lassen. Vor Burkhalter wurde der Staatssekretär aus den drei, vier oder fünf höchsten Diplomaten ausgesucht, die vom ganzen EDA respektiert waren. Sie hatten auch die nötige Erfahrung. Sie waren als Botschafter oder Botschafterin in London, Paris, in New York und für die EU-Länder und die Nato in Brüssel und so weiter. Als Staatssekretär muss man nicht nur ein guter Beamter sein. Man muss auch kreativ sein, weil man eine kreative Aussenpolitik macht. Das ist sehr, sehr wichtig. Sonst wird nichts gemacht. Das ist wie jetzt eigentlich. Man hat das Gefühl, es gibt bestimmt gute Ideen, es gibt gute Leute, aber das kommt nicht zum Tragen. Es gibt genug Leute um Cassis – wenn Cassis etwas nicht will – die sagen: «Ok, nein, du hast recht.» Das sind Ja-Ja-Leute. Mit solchen Leuten und so einem System geht es nicht vorwärts.

2024 wurde Jean-Daniel Ruch im Verteidigungsdepartement von Viola Amherd als Staatssekretär für Sicherheit eingesetzt. Weshalb hat er sich für diesen Posten geeignet?
Als langjähriger Diplomat hatte er alle Erfahrungen, die für den Posten nötig sind. Er hat auch für Carla del Ponte im Zusammenhang mit dem Internationalen Gerichtshof gearbeitet. Unter Bundesrätin Calmy-Rey habe ich mit ihm zusammengearbeitet. Er war zuständig, um die Kontakte mit der Hamas aufrecht zu erhalten, als diese für EU und USA schon als terroristische Organisation galt. EU und USA waren sehr zufrieden, über diesen Schweizer Diplomaten indirekte Kontakte zur Hamas zu haben. Jean-Daniel Ruch war auch unser Botschafter in Israel und Ankara.
Für das Amt als Staatssekretär für Sicherheit war Jean-Daniel Ruch von einem Auswahlgremium in einem strengen Auswahlverfahren als der geeignetste Bewerber ausgewählt worden. Er ist ein entschiedener Verfechter der Neutralität. Deshalb hat mich seine Wahl sehr überrascht.
In der Pressekonferenz, als Viola Amherd ihn vorgestellt hat gegenüber den Medien, hat auch er das Wort gehabt. Er sagte, dass er alles, was er als Schweizer Diplomat gemacht habe, der Schweizer Neutralität verdanke, weil die Schweiz eben neutral sei. Daraufhin hat Viola Amherd ihm gesagt, aber bitte, das sei nicht das Thema, Neutralität, das sei für das EDA, nicht für sie. Daraufhin habe ich ihm per Linkedin gratuliert und unter anderem den Wunsch ge­äussert, dass er kein Staatssekretär einer Kriegsministerin sein werde und unser chaotisches Abdriften in die Nato stoppen sollte. Jean-Daniel Ruch hat die Gratulation geliked, ohne alles zu lesen.
Dann kam das Ganze im Blick. Der neue Staatssekretär für nationale Sicherheit habe eine Message geliked von einem ehemaligen Diplomaten, der Viola Amherd als Kriegsministerin bezeichnet habe. Jean-Daniel Ruch hat sich entschuldigt, er habe den unteren Teil der Message nicht gelesen. Man hat sofort bemerkt, die Wölfe sind da und fassen ihn ins Auge. Klar war, dass er für die Neutralität ist und eine Annäherung an die Nato ablehnt. Dann wurden diese Frauengeschichten medial frei erfunden. Noch bevor Jean-Daniel Ruch sein Amt angetreten hat, ist er von seinem Amt zurückgetreten.

Dass eine private Gratulation sofort im «Blick» kommt …
Jean-Daniel Ruch selber sagte, die Schweizer seien nicht die einzigen am Steuer gewesen. Er sagte auch, es habe andere gegeben. Diese haben sehr gute Freunde bei uns, deshalb spreche ich seit zwei oder drei Jahren von einem Deep State in der Schweiz. Diese Leute sind da, auch wenn man ihre Gesichter nicht sieht.
Diese Annäherung an die Nato ist nicht vom Himmel gefallen. Im Verteidigungsdepartement sind Leute, die weniger Nato-freundlich waren, versetzt worden oder sind im Ruhestand, so auch zwei oder drei hohe Militärs. Der frühere Chef des Nachrichtendienstes wurde von Viola Amherd versetzt, weil er ein Neutralitätsfreund und kein Natofreund war. Es ist nicht eine schlechte Nachricht, dass Viola Amherd weggeht, aber die anderen bleiben. Der neue Chef oder die neue Chefin muss den Augiasstall ausmisten. Das ist viel schwieriger, als nur die Chefin wegzuhaben.

Jetzt habe ich noch eine Frage zur Europäischen Union. 1992 haben Sie den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) befürwortet. Heute sind Sie kritisch gegenüber der EU. Was sind die Gründe?
1992 war ich nicht nur für den EWR sondern auch für einen Beitritt zur EU. Damals war die EU eine vielversprechende Organisation. Es war der Wille von Wa­shington, nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa einen politischen und einen militärischen Arm zu haben, die EU und die Nato. Die EU hat sich gut entwickelt, Europa hat noch nie so lange Zeit ohne Krieg gelebt, wobei man den Krieg gegen Jugoslawien, die Bombardierung von Belgrad, in den 90er Jahren vergisst. Ich glaube zu wissen, dass Serbien auch zu Europa gehört … Das war ein Nato-Krieg, ein amerikanischer Krieg. Aber wir haben unsere Augen zugemacht, nichts gesehen und wollten nichts hören. Also, offiziell ist es kein Krieg der Nato und der westlichen europäischen Länder.
In den letzten zwanzig Jahren, und vor allem seit dem Kriegsanfang in der Ukraine, bin ich mit der politischen Linie der EU überhaupt nicht mehr einverstanden. Mit Ursula von der Leyen ist die EU eine quasi militärische Organisation geworden, die selber zum Glück noch keine Waffen und Truppen hat. Im Jahr 2021 hätten wir nie gedacht, dass es wieder Krieg gibt mitten in Europa. Wir hätten nie gedacht, dass die EU-Kommission mit Begeisterung diesen Krieg unterstützt. Ich habe das Gefühl, es gibt gar keine EU mehr. In den letzten drei Jahren hat die EU neben ihrem Kriegs­einsatz keine politische Vision zur Beendigung dieses Krieges und für ein neues Zusammenleben in Europa vorgelegt. Wissen Sie noch, dass im Irak-Krieg Chirac mit Frankreich und Schröder mit Deutschland gegen den Krieg waren? Und das war wichtig, das ist die EU. Und Willy Brandt hat die Ostpolitik mit der Sowjetunion und dem Ostblock gemacht. Aber jetzt ist die EU weg. Sie ist nur eine amerikanische Basis oder irgendeine …

… Also eine Agency, eine US-Agency?
Ja, genau.

Was denken Sie zum neuen Rahmenabkommen mit der EU?
Der Text, den wir usprünglich hatten, war offiziell für die Schweiz nicht gut. Die Bundesräte Parmelin und Cassis haben damals den Stecker gezogen. Nach langen Verhandlungen wird jetzt gesagt, der Vertrag sei komplett geändert. Wir wissen nicht, was wirklich anders ist im Vergleich zu früher. Keiner weiss, ausser ein paar wenigen, wie das Abkommen genau aussieht. Die Botschaft an das Parlament soll 1500 Seiten haben.
Im Prinzip werden diese Verträge ein eigenes Leben haben. Sie werden sich entwickeln, aber nicht, weil wir das wollen. Die EU-Kommission produziert Woche für Woche Gesetze, Reglemente und Regulierungen und so weiter. Wenn sich zum Beispiel in einem Bereich das EU-Recht in eine Rich-tung entwickelt, mit der wir nicht einverstanden sind, dann kann unsere direkte Demokratie mit einem Referendum aktiv werden. Und wenn die Schweizer dann dagegen sind, kann dann die EU sagen, jetzt fällt alles weg. Die SVP sagt, das sei ein Unterwerfungsvertrag, ein Kolonialvertrag. Auf einer Seite ist es so. Einige Wirtschaftsfachleute sind aus wirtschaftlichen Gründen dagegen, das ist interessant.
Bundespräsidentin Viola Amherd wollte unbedingt zusammen mit Ursula von der Leyen öffentlich auftreten, bevor sie die politische Bühne verlässt. Es gibt dazu ein Bild, das ich beschämend finde. Sie nimmt die Hände von Ursula von der Leyen und beugt ihren Kopf darüber. Es ist wie eine Verbeugung vor der Königin Elisabeth.

Wie könnte die Beziehung zwischen der Schweiz und der EU gestaltet werden, ohne dass die Souveränität und die Neutralität beschädigt würde? Wie könnten Beziehungen zur EU aussehen?
Man muss mit der EU die bestmögliche Lösung finden für die schweizerische Wirtschaft. Die EU ist jetzt sehr, sehr vorsichtig, weil sie unser System kennt. Sie will unbedingt, dass das Volk und die Kantone dem neuen Rahmenvertrag zustimmen. Ich finde, es ist viel einfacher, gegen die EU zu kämpfen oder sogar gegen die Nato als gegen die eigenen Leute, die wie die Nato und wie die EU sprechen.
Kurz gesagt, ich bin für die beste wirtschaftsfreundlichste Lösung. Und warten wir ab, ich bin nicht sicher, ob der Vorschlag in diese Richtung geht.

Eine politisch unabhängige Schweiz?
Ja, absolut.

Politisch unabhängig, souverän, aber im wirtschaftlichen Bereich eine bestmögliche Zusammenarbeit mit der EU.
Genau. Politisch souverän zu bleiben, lohnt sich nur, wenn wir das wollen. Also mit anderen Worten, wenn wir neutral sind, wenn wir für die Neutralität sind. Die Neutralität ist unser Schutz und unsere «Raison d’être».

Herr alt Botschafter Martin, herzlichen Dank für das Gespräch.
Interview Henriette Hanke Güttinger

* Georges Martin diente als Schweizer Diplomat in verschiedenen Funktionen in Bern und im Ausland. Nachdem er seine Karriere im Südafrika der Apartheid begonnen und Nelson Mandela nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis getroffen hatte, war er in Tel Aviv Zeuge des Golfkriegs. Er war Botschafter in Indonesien und Timor-Leste und später in Kenia, Ruanda, Burundi, Uganda, Somalia und auf den Seychellen. In Bern übte er unter anderem die Funktion des diplomatischen Beraters von Bundespräsident René Felber aus. Er beendete seine Karriere 2017 als stellvertretender Staatssekretär des EDA und Beauftragter für Sonderaufgaben bei Bundesrat Didier Burkhalter.