Fragile Lage im Nahen Osten

Was wird auf die Menschen im Libanon, in Syrien, in Palästina und im Iran zukommen?

Interview* mit Karin Leukefeld, freie Journalistin und Nahost-Expertin

Zeitgeschehen im Fokus Was hat sich mit den neuen Machthabern für die Menschen in Syrien geändert?
Karin Leukefeld Die Lage hat sich verschlechtert. Eine Zeitlang konnten sich alle frei bewegen. Die Strassen waren geöffnet, die Grenzen auch, man konnte sich hin und her bewegen. Verschiedene Stadtviertel, die früher abgesperrt waren, konnten durchfahren werden. Inzwischen gibt es wieder Kontrollpunkte mit Menschen, die dort Bakschisch haben wollen. Ganz schlecht ist die allgemeine Versorgung mit Strom. Die war früher schon nicht gut, aber in manchen Gebieten hat man mehr Strom bekommen als in anderen. Es gab eine Angleichung auf niedrigem Niveau. In der Altstadt von Damaskus bekommen die Menschen ungefähr eine Stunde Strom am Tag. Es gibt Leute, die das positiv sehen wollen und sagen, andere hätten früher viel mehr bekommen, jetzt haben alle wenig. Das ist auch eine Sichtweise. Aber ohne Strom können die Menschen auch kein Wasser in die Tanks pumpen, die immer auf dem Dach stehen. Also gibt es ein Problem bei der Trinkwasserversorgung. Die Solarpanels, die viele bereits auf ihren Häusern haben, können im Winter nicht genügend Strom produzieren. Es gibt wirklich viele Versorgungsprobleme.
Was sich auch besonders bemerkbar macht, sind die Kürzungen von Lebensmittelsubventionen. Das Brot ist teuer geworden. In Syrien isst man traditionell dünnes Fladenbrot. In einer Tüte sind sieben Brotlaibe abgepackt, das nennt man Rapta. Abhängig von der Grösse der Familie standen einem mehrere dieser Rapta zu. Für ein Rapta musste man 400 syrische Pfund bezahlen. Jetzt gibt es nur noch sechs in einer Tüte, und es kostet zehnmal so viel, 4000 Pfund. Man hört Gerüchte, dass das Ganze noch teurer wird. Der Preis soll sich nochmals verdoppeln.

Kann das bezahlt werden?
An Geld zu kommen ist fast unmöglich. Die Banken haben zwar nicht geschlossen, aber sie haben kein Geld. Leute, die ein Konto besitzen, erhalten meist gar kein Geld. Manche Banken zahlen nicht mehr als 25 US-Dollar aus. Menschen, die ihre Rente oder ihr Geld aus dem Automaten beziehen wollen, bekommen nichts. Im Dezember sind keine Gehälter bezahlt worden. Die Menschen leben davon, was sie erspart haben, was sie auf Pump bekommen oder von den Angehörigen im Ausland, wenn sie ihnen Geld schicken können.

Wer ist von diesem Zustand betroffen?
Es betrifft die Beamten, denn sie haben ein monatliches Gehalt. Die Unternehmer betrifft es, denn sie müssen ihre Angestellten bezahlen. Aber auch sie kommen nicht an ihr Geld heran. Die Unternehmer können ihr eigenes Geld nicht von der Bank abheben, auch nicht an den Automaten holen, denn die sind leer. Und natürlich gibt es sehr, sehr viel Armut, weil Menschen keine Arbeit haben. Bettler auf den Strassen gibt es sehr viele. Kinder, Frauen, alte Menschen.

Die Banken sind also nicht blockiert, sondern können effektiv kein Geld zur Verfügung stellen.
Ja, so ist es, obwohl es Geld gibt. Als die HTS gekommen ist, gingen sie in die Banken und sammelten alles, was dort zu finden war. Alles Bargeld, das Gold, alles, was dort gelagert war, haben sie mitgenommen. Es hiess, es werde in der Zentralbank gelagert, aber niemand weiss, was die Zentralbank damit macht. Und es gibt auch keine Informationen für die Bevölkerung.

Lassen Sie uns auf die ständigen Stromausfälle zurückkommen. Worin liegen die Ursachen dafür?
Es gibt verschiedene Gründe dafür. Zum einen, dass die Anlagen nicht oder zu wenig gewartet werden, und zum andern haben gezielte Angriffe auf die Strominfrastruktur während des Krieges grosse Schäden hinterlassen. In den ersten Jahren sind Techniker dort hingefahren und haben die defekten Anlagen repariert. Sie wurden zum Teil beschossen. Die Regierung al-Assad hat diese Reparaturen zwangsläufig einstellen müssen. Die Wartung der Elektrizitätswerke erfordert zum einen Techniker und zum andern Ersatzteile, die sie nicht bekommen haben. In Gesprächen erfuhr ich, dass das Aussenministerium (unter al-Assad) immer wieder die Uno darum gebeten habe, Europa zur Lockerung dieser einseitigen Sanktionen zu bringen, damit sie Ersatzteile kaufen könnten. Dadurch hätten sie dann zum Erhalt der zivilen Infrastruktur im Sinne der humanitären Hilfe eingesetzt werden können. Das wurde immer abgelehnt. Ein weiterer Aspekt ist die mangelnde Versorgung mit Treibstoff oder fossilen Brennstoffen, um die grossen Kraftwerke betreiben zu können. Es gibt eines mit fünf grossen Turbinen, das wurde noch unter dem Vater von Bashar al-Assad gebaut. Es war damals eine Schenkung an Syrien, die von einem Entwicklungsfonds in Kuweit kam. Dieses Kraftwerk war ein halbes Jahr vom islamischen Staat besetzt, und er hat versucht, das Kraftwerk zu zerstören. Mit Handarbeit sind die Turbinen nach dem Abzug des IS in einer langwierigen Kleinarbeit ersetzt worden. Auch der grosse Staudamm am Euphrat im Norden von Aleppo wurde wiederholt durch Angriffe zerstört. Die Zerstörung der Elektrizitätswerke, der Mangel an Gas und Öl ist der Hauptgrund, warum die Energieversorgung nicht funktioniert.
Das Gleiche gilt für die Wasserversorgung. Sie wurde immer wieder zerstört. Die wichtigste Wasserquelle von Damaskus, die Fijeh Quelle, war eine Zeitlang besetzt. Aktuell wird wieder der Staudamm am Euphrat, östlich von Aleppo von der Türkei beschossen. Seit drei, vier Wochen gibt es für weite Teile der Provinz Aleppo kein Wasser. Die Wasserversorgung war teilweise vom IKRK wieder in Stand gesetzt worden, aber im Moment kann es dort offenbar nicht helfen.

Was Sie jetzt berichtet haben, zeigt doch, dass das Land sich nach dem vorläufigen Sieg über die Dschihadisten nicht erholen konnte. Gab es irgendwo in den grossen Medien einen Bericht dazu?
Es gab einmal eine Presseerklärung von der UNICEF, denn UNICEF und das IKRK waren und sind auch verantwortlich für die Wasserversorgung. Aus der Presseerklärung ging hervor, wie viele Wasseranlagen von bewaffnete Gruppen und auch bei Kämpfen beschädigt worden waren. Aleppo war ganz besonders davon betroffen. Die Stadt war über drei Jahre belagert. Alles, was die Menschen von den Dschihadisten ertragen mussten, hat im Westen kaum interessiert.

Wie reagiert die Bevölkerung, nachdem die neuen Machthaber das Ruder übernommen haben?
Es gab Menschen, die dem HTS zugejubelt haben, es gibt aber auch sehr viele, die ihn ablehnen und dennoch sagen, dass man sich arrangieren muss. Auch innerhalb dieser HTS-Allianz gibt es Widersprüche. Die Allianz kann sich im Augenblick nur halten, weil sie aus dem regionalen und internationalen Ausland unterstützt wird. Es gibt 60 verschiedene Gruppen, die von al-Dscholani, heute Ahmed al Sharaa, aufgefordert werden, ihre Waffen abzugeben und sich dem Verteidigungsministerium unterzuordnen. Was ich in Damaskus gehört habe, wird das von 60 Prozent der Gruppen verweigert, weil sie die Vorgehensweise von HTS ablehnen.

In dem Fall wird es dort noch entsprechende Machtkämpfe geben.
Damit wird gerechnet. Vertreter oppositioneller Gruppen sehen einen inneren Machtkampf auf Syrien zukommen. Viele von den Oppositionsgruppen fragen sich zudem, wo eigentlich die Uno bleibt. Es gibt einen Sonderbeauftragten des Uno-Generalsekretärs, Geir Pedersen. Er ist am Anfang nach Syrien gefahren und hat die neuen Machthaber getroffen. Aber man weiss nicht, was der Inhalt der Gespräche war und ob es Abmachungen gab. Es gibt die Uno-Sicherheitsresolution 2254, die vorsieht, wie ein politischer Übergangsprozess aussehen soll. Aber niemand erwähnt diese Resolution. Die Machthaber des HTS sind nicht gewählt worden, sie haben auch niemanden besiegt. Die syrische Armee hat sich praktisch aufgelöst. HTS hat sich selbst ermächtigt, oder man kann sagen, HTS wurde von «Königsmachern» ermächtigt, die al-Dscholani auf den Thron gehoben haben. Regional sind diese «Königsmacher» Katar, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, die Türkei und Israel. Natürlich haben die USA und die Nato ihre Hände im Spiel. Das bedeutet, al-Dscholani ist mit einem bestimmten Auftrag dorthin gekommen. Die «Königsmacher» haben aber nicht alle die gleichen Vorstellungen und sie haben konkurrierende Interessen. In dem Sinne ist die Lage überhaupt nicht stabil.

Welche Rolle spielen Israel, die USA sowie Saudi-Arabien?
Israel hat die Gunst der Stunde genutzt. Der Waffenstillstand im Libanon ist unter anderem auch deswegen zustande gekommen, weil es Informationen gab, dass es in Syrien einen Vormarsch der HTS geben sollte, allerdings zeitlich etwas später und nicht ganz so, wie er sich vollzogen hat. Einen Tag, nachdem der Waffenstillstand begonnen hatte, stürmte die HTS auf Aleppo. Israel rückte dann über die Uno-Pufferzone auf dem Syrischen Golan nach Syrien bis fast vor die Tore von Damaskus vor. Israelische Truppen besetzten dort Land, bauten Kontrollpunkte, stellten Container auf und liessen verlauten, dass sie mindestens für ein Jahr dort bleiben würden. Die israelische Luftwaffe hat mit mehr als 300 Luftangriffen sämtliche Militäranlagen der syrischen Armee zerstört. Damit ist Syrien ohne Verteidigung. Mit diesem Vorgehen kommt Israel der Erfüllung seines Plans nach einem Gross-Israel näher: die Einnahme der Golanhöhen und Deraa bis nach Suwaida. Israel ist bereits mit den Drusen im Gespräch und möchte das Gebiet als «Pufferzone» unter seine Kontrolle bringen. Das hat es bis jetzt noch nicht gemacht, weil es eine logistische Frage ist. Al-Dscholani will sicher keinen Konflikt mit Israel. Er äusserte sich nicht zu der Zerstörung der Militär-Basen. Er kritisierte zwar die Besetzung durch israelische Truppen, sagte aber gleichzeitig, er wolle keinen Konflikt mit Israel.

Wenn es der Plan Israels ist, sein Territorium ultimativ auszudehnen, würde Saudi-Arabien das akzeptieren?
Saudi-Arabien hat eigene Pläne mit Syrien. Das sind andere Interessen, als sie Israel und die Türkei haben, und damit sind Konflikte auf der regionalen Ebene vorprogrammiert.

Kennt man Saudi-Arabiens Pläne?
Nur Einzelheiten wurden bisher bekannt. Die Saudis wollen grundsätzlich die syrisch-sunnitische Bevölkerung unterstützen. Sie wollen auch, dass die syrischen Flüchtlinge die Möglichkeit haben, aus Jordanien zurückzukehren. Syrien wurde – mit Zustimmung Saudi-Arabiens –wieder in die Arabische Liga aufgenommen. Das wollen die jetzigen Machthaber einfach weiterführen. Man muss diese Entwicklung abwarten. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate hatten al-Assad Unterstützung zugesagt, wenn er die Beziehung zu Iran aufgibt. Das war seit langem eine Forderung von Israel und den USA. Zur Unterstützung al-Assads gehörte, dass Saudi-Arabien und die Emirate die USA wiederholt aufgefordert hatten, die Sanktionen gegen Syrien zu lockern, auch deswegen, um selber dort investieren zu können. Die arabischen Golfstaaten betrachten Syrien als eine Art «Hinterland» für eigene Interessen. Saudi-Arabien hatte bereits begonnen, die Flugzeugflotte von Syrien zu restaurieren, den Flughafen zu sanieren und zu erweitern. Da gab es schon ganz konkrete Pläne.

Es gab doch aber auch Gespräche zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Haben sie nicht einen Vertrag ausgehandelt, um ihre Beziehungen zu verbessern? Beide gehören doch auch zu BRICS. Hat sich das Verhältnis der Staaten wieder verschlechtert?
Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate wurden Anfang 2024 Mitglieder bei BRICS, Saudi-Arabien hat die Mitgliedschaft beantragt, diese wurde bewilligt, aber Riad zögert noch. Was hält, ist die Kommunikation, sind politische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen Iran und Saudi-Arabien, deren Wiederherstellung hatte China 2023 vermittelt. Die Forderung von Saudi-Arabien, dass die syrische Regierung die Kontakte zum Iran einstellen soll, ist eine Forderung des Westens und Israels, die Saudi-Arabien und die Emirate erfüllen sollten, um etwas im Gegenzug zu bekommen. Beispielsweise die Lockerung der Sanktionen gegen Syrien. Seit Beginn des erneuten Gazakrieges am 7. Oktober 2023 stand der Iran in Verbindung mit den arabischen Golfstaaten. Der vorherige und der aktuelle Aussenminister des Iran waren immer wieder zu Gesprächen dort, oder man traf sich bei BRICS oder bei Treffen des Schanghai Kooperationsrats. Als Israel einen grossen Angriff gegen Iran plante, signalisierten die arabischen Golfstaaten, keine Überflugrechte für israelische Kampfjets zu genehmigen. Für den letzten Angriff von Israel auf den Iran nutzte die israelische Luftwaffe die Lufträume Syriens und des Iraks. Das sind Länder, deren Souveränität und territoriale Integrität von Israel seit langem missachtet werden.

Der Mord am iranischen General Suleimani war doch ein Angriff auf eine diplomatische Lösung zwischen Saudi-Arabien und Iran?
Qasem Suleimani war der Beauftragte des Iran für den Austausch zwischen beiden Ländern. Es gab schon eine Zeitlang eine Annäherung beider Staaten. Bagdad hatte sich bereiterklärt, als «Briefkasten» zu fungieren, als Vermittler. Iran hat Briefe für Saudi-Arabien nach Bagdad gebracht und umgekehrt. Die Briefe wurden jeweils durch die Sonderbeauftragten transportiert. Die USA unterstellten Suleimani einen Anschlag zu planen und töteten ihn, aber er war in friedlicher Mission unterwegs. Das Ganze ist eine sehr schwierige Gemengelage, aber man kann schon sagen, dass es bessere Beziehungen unter den regionalen Staaten gibt. Der Westen treibt ein anderes Spiel. Er versucht immer wieder, die regionale Annäherung und Kooperation zwischen den arabischen Staaten zu unterlaufen und drängt stattdessen auf eine «Normalisierung» mit Israel. Gleichzeitig unterstützt der Westen, dass sich Israel dort militärisch weiter ausbreiten kann und die Kontrolle übernimmt. Der Westen unterstützt Israel bei seinem «Krieg an sieben Fronten», wie Netanyahu das gesagt hat: Gaza, Westjordanland, Jemen, Libanon Syrien, Irak, Iran.

Sehen Sie ein Szenario, bei dem es zu einem Krieg zwischen der Türkei und Israel kommen könnte?
Weder Israel noch die Türkei sind glaubwürdig in ihren Äusserungen. Im Falle Syriens haben sie ein Konkurrenzverhältnis. Sie kooperierten darin, den Vormarsch der HTS zu unterstützen. Das ist auch schon alles. Es gibt kaum eine Übereinstimmung in ihren nationalen Interessen. Beide wollen sich ausbreiten. Die einen neo-osmanisch die anderen erstreben ein Erez Israel, Gross-Israel. Man darf bei allem nicht vergessen, dass die Türkei Nato-Mitglied und Israel Nato-Partner ist. Damit wird die Entwicklung von den USA gesteuert und auch bestimmt. Denn die USA führen die Nato.

Was könnte unter all diesen Prämissen die Zukunft von Syrien sein?
Es wäre möglich, dass Syrien aufgeteilt wird. So wie man nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt hatte. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte Frankreich Syrien nach religiösen Gruppen aufgeteilt. Dagegen gab es eine starke Rebellion von verschiedenen Volksgruppen. Alle waren gegen die Franzosen, sie wollten diese nicht als Fremdbesatzer. Der Westen ist hier schon etwas einfallslos, wenn er immer wieder auf gescheiterte Ideen zurückkommt. Man sieht schon jetzt wieder, dass Druck auf die Christen, auf die Alawiten, die Drusen ausgeübt wird. Auch gegen die Kurden wird Druck ausgeübt, vor allem von der Türkei. Die Kurden wiederum wollen, dass Syrien ein föderaler Staat werden soll. Darin sollen die Drusen ein Drusengebiet, die Kurden ein Kurdengebiet, die Alawiten ein Alawitengebiet und so weiter erhalten, in denen sie ihre jeweiligen Rechte umsetzen können sollen. Das bedeutet vor allem eine Teilung Syriens, und die Schwächung der syrischen Souveränität und territorialen Integrität. Und das ist genau die Idee, die die Franzosen während ihrer Mandatszeit umsetzen wollten und daran gescheitert sind. Es scheint immer noch das Ziel zu sein, Syrien als Staat zu zerstören. Syrien hat eine Geschichte, und die widerspiegelt sich in einer Einheit in der Vielfalt, einer grossen gesellschaftlichen Toleranz und einer Fähigkeit, miteinander auch Konflikte lösen zu können. Am Anfang des Krieges 2011 gab es Beobachter, die schon damals sagten, der Westen wolle in Syrien das vollziehen, was auf dem Balkan gemacht wurde. Die Syrer erkannten sehr schnell, worum es bei diesem Krieg ging.

Die Waffenruhe im Libanon, die den Startschuss für den Vormarsch der HTS gegeben hat, war für sechzig Tage vereinbart. Wie konsequent wird sie von beiden Seiten eingehalten? Was soll mit dieser Waffenruhe erreicht werden?
Ziel war und ist die Umsetzung der Uno-Sicherheitsratsresolution 1701 (aus dem Jahr 2006). Das heisst, dass die Hisbollah ihre schweren Waffen hinter den Litani zurückzieht. Die libanesische Armee soll personell aufgestockt werden und zusammen mit Unifil die Kontrolle im Südlibanon übernehmen. Das Gebiet soll – das wollen Israel und die USA – zu einer Art «Pufferzone» werden. Die israelischen Truppen sollen sich zurückziehen. Hisbollah hält sich an die Vereinbarungen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie das Kriegsgerät abtransportieren. Hingegen hat Israel die Waffenruhe nicht eingehalten und den Libanon weiterhin bombardiert, Menschen getötet. Nach der Auswertung von Satellitenaufnahmen zwischen Anfang Dezember (2024) und Anfang Januar (2025) hat Israel mindestens 800 Häuser und Gebäude in Orten entlang der «Blauen Linie» in die Luft gesprengt. Schon vor Ablauf der 60 Tage erklärte Israel, dass die Armee nicht abziehen werde, weil die libanesische Armee nicht nachrücke. Die wiederum sagt, Israel blockiere ihr Nachrücken, weil Israel die Truppen nicht abziehe. Die Hisbollah hat sich an die Waffenruhe gehalten, halten müssen und hat nichts gegen die fortgesetzten israelischen Angriffe unternommen. Sie haben lediglich dokumentiert und immer wieder auf die Verletzung der Waffenruhe hingewiesen. Es gibt einen Militärrat, der die Einhaltung der ganzen Massnahmen überwachen soll. Der Militärrat setzt sich zusammen aus dem Chef der libanesischen Armee, dem Chef der israelischen Armee, dem Chef der Unifil, einem US-Amerikaner und einem Franzosen.

Eine sehr interessante Mischung.
Der Militärrat ist nicht in der Lage, Israel dazu zu bringen, dass es seinen Teil der Vereinbarungen einhält. Inzwischen ist die Waffenruhe bis zum 18. Februar verlängert worden, um Israel die Gelegenheit zu geben, sich zurückzuziehen. Was bis jetzt nicht geschehen ist. Die Hisbollah behält sich vor, gegen Israel militärisch vorzugehen. Nach den 60 Tagen Waffenruhe zogen viele Südlibanesen los, um ihre Dörfer wieder einzunehmen. Es war eine beeindruckende Aktion des zivilen Widerstandes der Bevölkerung. Die Menschen standen teilweise – unbewaffnet – den israelischen Truppen direkt gegenüber und forderten deren Abzug. Israel hat das Feuer gegen die unbewaffneten Menschen eröffnet und mindestens 24 getötet. Auch der Cousin eines Bekannten von mir wurde getötet. Dutzende wurden verletzt.

Was kann die Bevölkerung im Libanon von der neuen Regierung erwarten?
Der Libanon hat einen neuen Präsidenten, Josep Aoun. Er war der Chef der libanesischen Armee. Neuer Ministerpräsident wurde Nawaf Salam. Er fungierte als Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Er setzt jetzt die Hisbollah und Amal – beides Parteien der schiitischen Muslime im Libanon – unter Druck, deshalb halten viele im Libanon ihn nicht für unabhängig. Er kooperiert wohl mit verschiedenen libanesischen Kräften, unter anderem dem Kriegsverbrecher Samir Geagea von den Libanesischen Kräften. Das ist eine faschistische, christliche Partei und Miliz. Salam will jetzt eine Regierung zusammenstellen. Amal und Hisbollah machen zusammen mehr als 40 Prozent aus, und es stehen ihnen Ministerämter zu, was den weiteren politischen Prozess im Land bestimmen wird. Der neue Hisbollah-Chef, Naim Kassem, hat deutlich gemacht, dass es der Hisbollah um die politische Stabilität des Libanon und um die Unterstützung der Familien geht, die durch den Krieg schwer geschädigt wurden. Und natürlich um den Wiederaufbau des Landes. Das müsste Vorrang haben. Das kann so gedeutet werden, dass die Hisbollah einen neuen Waffengang ausschliesst.

Wird eine Verlängerung der Waffenruhe mehr Erfolg bringen?
Ob die Verlängerung der Waffenruhe etwas bringt, hängt damit zusammen, ob sich Israel aus dem Libanon zurückzieht. Solange Israel das nicht macht, wird es auf Dauer keine Ruhe geben. Israel verhindert, dass die Menschen wieder in ihre Dörfer zurückkehren können. Es verbietet ihnen, sich ihren Dörfern zu nähern, und erschiesst jeden, der dort hinkommt. Das hat wohl nichts mit der vereinbarten Waffenruhe zu tun. Tatsächlich gab es schon israelische Siedler, die gefordert haben, dass man sie auf libanesischen Boden lässt, da das ihr Land sei und sie dort siedeln müssten.

Würden Sie sagen, dass die Hisbollah geschwächt ist?
Der Hisbollah ist es unter grossen Verlusten gelungen, zu verhindern, dass Israel sein Kriegsziel trotz immenser Zerstörungen erreichen konnte, nämlich den ganzen Süden des Libanon zu besetzen. Politisch hat die Hisbollah ihre Basis im Libanon nicht verloren. In Gesprächen im Libanon konnte ich erfahren, dass einige Menschen enttäuscht sind, dass die Hisbollah Israel nicht geschlagen hat, dass sie nicht ihr gesamtes militärisches Arsenal gegen Israel eingesetzt hat oder einsetzen konnte oder wollte. Viele Fragen werden gestellt. Mehrheitlich zeigen die Menschen, die ich in den betroffenen Gebieten gesprochen habe, eine ausgeprägte Widerstands­ethik. Sie sind eng mit dem Libanon verbunden, es ist ihr Land, und das sie bauen jetzt wieder auf, so gut es geht. Die Hisbollah unterstützt auch diejenigen, die ihre Häuser oder Wohnungen verloren haben. Sie bekommen für ein Jahr die Miete ihrer neuen Wohnungen bezahlt und eine bestimmte Summe, um Möbel zu erwerben und sich neu einzurichten. Und das funktioniert. Das weiss ich von Betroffenen. Politisch kann die Hisbollah nicht ignoriert werden, sie ist präsent. Geschwächt ist sie sicher dadurch, dass die Verbindung zwischen Iran und Syrien nicht mehr vorhanden ist. Das Konzept der Achse des Widerstandes besteht in den jeweiligen Ländern natürlich noch und ist auch aktiv, aber die Kooperation mit und durch Syrien ist zunächst unterbrochen.

Lassen Sie uns auf die Situation in Palästina kommen. Wie entwickelt sich die Lage seit dem Beginn der Waffenruhe?
Der erste Gefangenenaustausch fand vor zwei Wochen statt, seitdem hat es drei weitere Austausche gegeben. Die USA hatten darauf gedrängt. Trumps neuer Sonderbeauftragte für den Nahen Osten, Steve Witkoff, sagte sogar, er wolle persönlich in den Gaza-Streifen reisen, um sich zu überzeugen, dass die Waffenruhe hält. Er wollte sich auch dafür einsetzen, dass das Drei-Phasen-Modell für einen langfristigen Waffenstillstand aufgehen wird. Ob das alles so stattfindet, ist offen. Dass sich die israelische Armee von einigen Punkten zurückzieht, sieht man, es kommen täglich bedeutend mehr Hilfslieferungen in das Gebiet. Dennoch gibt es die Ansage Israels, den Netzarim-Korridor, der Nord- und Süd-Gaza teilt, nicht vollständig zu verlassen. Das ist aber eine Auflage des dreistufigen Abkommens. Probleme sind absehbar.

Auch wenn ein Teil der Bevölkerung zurück in den Norden will, ist die Lebenssituation in der von Israel angerichteten Trümmerwüste der Menschen katastrophal. An Normalität ist sicher nicht zu denken. Wie kann es weitergehen?
Seit der Waffenruhe muss man sehen, dass parallel dazu die israelische Armee eine massive Offensive im Westjordanland begonnen hat. Die Palästinenser kommen nicht zur Ruhe. Es gibt auch keine Pläne darüber, wie der Gaza-Streifen jetzt organisiert werden soll. Die Uno hat eine Beauftrage, Sigrid Kaag, eingesetzt, aber man hört nichts von ihr. Es ist unklar, ob sie überhaupt eine Funktion hat. Die UNRWA, zuständig für die Palästinenser, ist von Israel verboten worden. Die UNRWA ist für die Palästinenser wie eine Regierung. Das betrifft die Versorgung mit Lebenswichtigem wie Schulen, Krankenhäusern und so weiter. In den Institutionen arbeiten viele Palästinenser, aber es gibt auch internationales Personal. Sie leistet, was die palästinensische Autonomiebehörde nicht leisten kann. Sie kümmert sich um alle Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten und dort, wo es palästinensische Flüchtlingslager gibt. Also in Jordanien, Syrien und im Libanon.

Sie gibt den Menschen einen sozialen Halt …
Ja, unbedingt. UNWRA stellt Ausbildungsplätze zur Verfügung in Bereichen wie Technik, Medizin und so weiter. Es gibt UNRWA-Schulen, die exzellent sind. Diejenigen, die an diesen Schulen ausgebildet wurden, haben eine hervorragende Bildung. Die UNRWA hat einen klar definierten Aufgabenbereich, jenseits von palästinensischer Parteipolitik. Israel behauptet dagegen, UNWRA-Mitarbeiter seien «Hamas-Terroristen». Es ist davon auszugehen, dass unter den mehr als 10 000 Mitarbeitern auch solche sein können, die mit der Hamas sympathisieren. Organisationen, die mit der Bevölkerung und für die Bevölkerung arbeiten, haben in der Regel ein breites Spektrum von politischen Meinungen und Einstellungen unter den Mitarbeitern. Das ist doch bei uns auch so.

Mit welcher Begründung geht Israel gegen die Palästinenser im Westjordanland vor?
Die offizielle Begründung ist, dass die Armee gegen Kämpfer vorgehe, die mit der Hamas oder mit dem Islamischen Dschihad kooperierten oder von diesen bewaffnet würden. Es gibt tatsächlich im Westjordanland einen Aufruf, sich gegen die Besatzung zu wehren, und Israel sagt, es bekämpfe dort – vor allem in den Flüchtlingslagern – Hamas-Terroristen. Das Flüchtlingslager in Dschenin wird mit Drohnen und Kampfjets angegriffen. Es gibt dort tatsächlich organisierten, bewaffneten Widerstand, den es auch in anderen Städten des Westjordanlands gibt. Dschenin ist ein Flüchtlingslager von einem Quadratkilometer Fläche, gegründet 1953. Heute leben dort mehr als zehntausend Menschen. Es gibt viele Jugendliche, die noch nie aus dem Lager herausgekommen sind. Dieses Lager ist seit Jahrzehnten immer wieder von israelischen Besatzungstruppen überfallen worden. Es gab und gibt viele zivile Initiativen wie beispielsweise das international bekannte «Freedom Theatre», das 2006 gegründet wurde. Der Gründer und Leiter, Juliano Mer Khamis, wurde 2011 von Unbekannten ermordet. Immer wieder wurden Schauspieler des Theaters von der israelischen Armee verhaftet, auch getötet. Das Theater wurde oft angegriffen, zerstört und irgendwie immer wieder aufgebaut. Zuletzt wurde es im Dezember 2023 von der israelischen Armee überfallen, durchsucht, geplündert und mit religiösen und rassistischen Parolen bemalt. Das Theater steht beispielhaft für die Verwüstung und den Widerstand der palästinensischen Gesellschaft.
In Dschenin wurde auch die Journalistin von Al Jazeera, Shireen Abu Akleh, von israelischen Scharfschützen erschossen, als sie sich mit ihrem Team am Ortsrand, also ausserhalb der Gefahrenzone, aufgehalten hatte. Die Städte und die Flüchtlingslager sind militärisch abgeriegelt. Auch innerhalb des Westjordanlandes sind überall Sperren errichtet, die flexibel gehalten werden und an verschiedenen Stellen die Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. Die Palästinenser können sich fast nicht bewegen. Wenn Israel den Notstand verkündet, dann werden die mobilen Sperren aufgebaut, und es werden Ausgangssperren verhängt.

Vor kurzem war zu hören, dass Yaron Finkelman, Chef des Südkommandos der israelischen Armee und auch der Generalstabschef der israelischen Armee, Herzi Halevi, ihren Rücktritt bekanntgegeben haben – wegen Versagens am 7. Oktober 2023. Kennen Sie die näheren Umstände, worauf sich das Versagen konkret bezieht?
Der IDF-Generalstabschef Halevi hat einen Brief an Ministerpräsident Benjamin Netanyahu geschrieben, der in den israelischen Medien auch veröffentlicht worden ist. Darin stand, er habe versagt, er habe Israel und die israelische Bevölkerung nicht geschützt. Sein Rücktritt sei überfällig, und er empfehle der gesamten Regierung und dem Kriegskabinett, zurückzutreten und ihm zu folgen. Die Forderung nach Rücktritt der Netanyahu-Regierung ist auch von Avigdor Liebermann (Partei Unser Haus Israel) erhoben worden. Lieberman war zwei Mal israelischer Aussenminister. In Israel findet um den 7. Oktober 2023 eine innenpolitische Auseinandersetzung statt. Es ist ganz klar, dass eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung Neuwahlen will. Und ob Netanjahu dann noch so gut dasteht, wie er meint, und einige andere auch, würde sich herausstellen.

Der Geostrategie- und Militärexperte sowie Autor mehrerer Bücher, Jacques Baud, hat in seinem Buch «Die Niederlage des Siegers» ein Kapitel, in dem er die Vorgänge vom 7. Oktober 2023 untersucht. Nach der Lektüre liegt der Verdacht nahe, dass ein grosser Teil der Opfer von der israelischen Armee selbst verursacht wurde. Haben Sie ähnliche Informationen?
Ja, vieles deutet darauf hin, denn der Einsatz der israelischen Armee war nach Aussagen von Beteiligten unkoordiniert und von massiver Gewalt geprägt. Das Ausmass und die Art der Zerstörung – vor allem die Zerstörung von Häusern und grossen Mengen Fahrzeugen – hätten die Palästinenser nicht bewirken können. Sie werden Maschinengewehre und wahrscheinlich ein paar Handgranaten dabeigehabt haben. Die grosse Menge von Raketen, die parallel zum Durchbruch abgefeuert wurden, richteten sich gegen Ziele im Norden des Gaza-Streifens, auf israelische Städte. Die Zerstörungen in den Dörfern und die zerschossenen Fahrzeuge der Menschen, die dort ein Festival gefeiert haben, deutet stark darauf hin, dass die Angriffe von Drohnen und/oder von Kampfhubschraubern ausgingen.
Der Vorwurf der Vergewaltigungen ging hier permanent durch unsere Medien. Netanjahu hat das auch behauptet, ohne nur eine Quelle zu nennen. Es gab eine Uno-Kommission, die das untersuchen sollte, aber Israel verweigerte ihr den Zugang zu zahlreichen Augenzeugen. Es gibt nun eine Stellungnahme von Moran Gaz, einer ehemaligen leitenden Staatsanwältin, die mit der Untersuchung der Ereignisse vom 7. Oktober 2023 beauftragt war. Anfang Januar erklärte sie, dass es keine Anzeichen, Aussagen und Beweise zu möglichen Vergewaltigungen durch die Palästinenser gibt. Wir können also davon ausgehen, dass diese Vorwürfe Teil der israelischen Kriegspropaganda waren oder sind. Doch hiesige Medien greifen das immer wieder auf und beeinflussen so die öffentliche Meinung.

Was war der Sinn dieses Überfalls?
Der Sinn dieser Hamas-Aktion, und darüber redet man nicht, war, möglichst viele Personen unversehrt gefangen zu nehmen, insbesondere israelische Soldaten, um sie gegen in Israel einsitzende palästinensische Gefangene austauschen zu können. Was die Hamas und die anderen beteiligten Organisationen wahrscheinlich versäumt haben, war, dass sie ihren Vorstoss nicht gut abgesichert haben. So konnten einzelne Personen einfach mitlaufen. Die waren meist gar nicht bewaffnet und waren vielleicht für Plünderungen oder verschiedene Zerstörungen verantwortlich. Ich meine diejenigen, die auf den israelischen Panzern standen. Das waren zumeist Jugendliche, die den Angriff realisiert haben und mitgelaufen sind.
Die gesamte israelisch-westliche Berichterstattung war darauf ausgerichtet, die Palästinenser als brutal und unmenschlich darzustellen. Die Bilder der Gefangenenübergabe durch die Hamas und anderer bewaffneter Gruppen an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, entsprechen nicht dem Bilde, was man von den bewaffneten palästinensischen Gruppen gezeichnet hat.

Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser

* Während der redaktionellen Bearbeitung änderte sich die Lage in Syrien erneut.
kl. Am 29. Januar wurde Ahmed al-Sharaa (alias Abu Mohamed al-Dscholani) vom HTS-Militärrat zum Präsidenten bis auf Weiteres ernannt. Die Verfassung (aus dem Jahr 2012) wurde ausgesetzt, das Parlament aufgelöst. Alle im Parlament vertretenen Parteien wurden verboten. Am 29. Januar besuchte der Emir von Katar Sheikh Tamim bin Hamad al-Thani als erster Staatschef den neuen vorübergehenden Präsidenten Al-Sharaa. Katar plant eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau Syriens zu übernehmen.