Quo vadis, Helvetia?

Ungereimtheiten im Verteidigungsdepartement

von Thomas Kaiser

Am 15. Januar hatte Bundesrätin Viola Amherd als Vorsteherin des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) unerwartet auf Ende März ihren Rücktritt bekannt gegeben. Zwei Wochen später hielt sie mit ihrem Armeechef Thomas Süssli, dem Rüstungschef Urs Loher und dem Chef-Programmmanagement Patrik Gerber eine Pressekonferenz ab, um die massiven Vorwürfe über das Missmanagement, vor allem in sieben grossen Armeeprojekten, deren Gesamtkosten sich auf 18 Milliarden Franken an Steuergeldern belaufen, zu entkräften oder wenigstens mildernde Umstände geltend zu machen. Bundesrätin Amherd hat in «weiser Voraussicht» schon vorher die Konsequenzen gezogen, nun stellt sich die Frage, wer es ihr nach den Vorfällen gleichtut. Nachdem mehr und mehr durchsickerte, was in Amherds Departement alles im Argen liegt, wundert einen ihr unerwarteter und schneller Rücktritt nicht mehr.

An der Pressekonferenz vom 31. Januar waren zwei Kommunikationsmuster auffallend: zum einen «mea culpa», für die nicht mehr zu vertuschenden Fehler, und zum anderen, hätten sie bereits reagiert und seien auf gutem Weg. «Ich halte fest, dass es Verbesserungspotential gibt, das wir selber realisieren können und haben das auch entschlossen an die Hand genommen», präzisierte Viola Amherd. Aber sie distanzierte sich auch von bestehenden Schwierigkeiten: «Manche Hürden lassen sich nicht beeinflussen, weil sie sich nicht einfach aus dem Weg räumen lassen.» Man habe die Probleme zum Beispiel bei der Beschaffung von Kriegsgerät zu spät kommuniziert, räumte sie selbstkritisch ein. Um Verzögerungen bei der Auslieferung von Rüstungsgütern zu verhindern, werde die Schweiz, «wenn immer möglich», salopp gesagt, nur noch «von der Stange» kaufen und auf ein «Swiss-Finish» verzichten. «Gute Beispiele sind die Beschaffung des F35 Kampfjets oder die Patriot Fliegerabwehrsysteme oder auch die Möglichkeiten, Anschaffungen zur bodengestützten Luftverteidigung mittlerer Reichweite im Rahmen der internationalen Rüstungskooperation ESI vorzunehmen.» Damit ist wohl gesichert, dass die Armee vollkommen Nato-kompatibel sein wird, auch wenn Thomas Süssli im Interview mit der NZZ erklärte: «Die Schweizer Armee jedoch wird ausschliesslich in der Schweiz verteidigen.»1

Wenn die linke Hand nicht weiss …
Die von Amherd gerne bemühte Interoperabilität und die Teilnahme an Projekten von «Pesco», einer EU-Organisation, die für «Sicherheit und Verteidigung» zuständig ist, deuten auf etwas ganz anderes hin. Hier weiss wohl die linke Hand nicht, was die rechte tut.
Amherds Hauptanliegen war es nach ihren Worten, in Zukunft transparent und offen zu kommunizieren, damit es nicht zu Missverständnissen komme, und sie lobte sich gleich selbst dafür: Die detaillierte Kritik, die die Finanzdelegation der Bundesversammlung üben konnte, sei das Resultat der offenen und transparenten Rapportierung.
Viola Amherd hielt quasi ein Plädoyer – was sie als Juristin auch beherrschen sollte – mit dem sie sich mildernde Umstände erhoffte, indem sie dosiert Fehler zugab, aber auch aufzeigte, wie sie bereits versucht habe, alles wiedergutzumachen.2
Der Chef der Armee relativierte ebenfalls die Vorwürfe und wies darauf hin, dass man auch beachten müsse, wie viele Projekte im VBS gut liefen. Im Interview mit der NZZ vom 27. Januar rechtfertigt er: «Wir reden hier allerdings von sieben Projekten, die uns Sorgen bereiten, insgesamt gibt es etwa 200, und die meisten laufen gut.»3

Stellen geschwärzt
Dass die sieben Projekte ein Gesamtvolumen von 18 Milliarden Franken umfassen, fand Süssli nicht erwähnenswert. Der gleiche Tenor liess sich auch an der Pressekonferenz vernehmen. Er räumte Fehler ein, aber relativierte sie im nächsten Satz wieder.
Wenn Projekte Probleme aufwerfen, gilt es, sie zu beheben. Entscheidend sind die Ursachen, die zu den Problemen geführt haben, und die muss man lösen, was auch personelle Konsequenzen haben kann.
Wie ehrlich das VBS nun kommuniziert, sei einmal dahingestellt. Einen Tag vor besagter Pressekonferenz berichtet Philipp Burkhardt, Bundeshauskorrespondent von Radio SRF, über offensichtliche Ungereimtheiten. Ein Dokument, das Radio SRF vorliegt, zeichnet ein düsteres Bild: «Das Dokument warnt vor einem Kollaps der militärischen Luftraumüberwachung. Und deutet auf ein Klima der Angst in der Führung der Armee hin.» Es geht um Probleme bei dem Projekt C2Air, ein neues Überwachungssystem des Schweizer Luftraums. Das Paper wurde auf Geheiss von Thomas Süssli von der Beratungsfirma KPMG ausgearbeitet. Ihre Aufgabe war es, den Chef der Armee mit einem «Qualitäts- und Risikomanagement» zu begleiten. Im brisanten Dokument waren gewisse Stellen geschwärzt, was mit Sicherheitsbedenken begründet wurde.4 Das scheint bei manchen Bundesräten gängige Praxis zu sein, wenn man sich der Verträge des BAG mit Impfstoffherstellern während der Corona-Zeit erinnert.
Die Armee negierte den Bericht und klassifizierte das Geschriebene als unbedeutend. Das war’s.

Wie hält man es mit der Wahrheit?
Vor genau einem Jahr liess der Armeechef mehrere Veranstaltungen absagen, da die Armee zu wenig Geld habe und sparen müsse. Viola Amherd dementierte diese Aussage.5
Radio SRF liegt aber ein Dokument vor, in dem der Finanzchef des VBS von erheblichen finanziellen Problemen spricht. Viola Amherd widersprach erneut und unterstellte SRF eine Fehlinterpretation des Berichts. Die Affäre hatte keine Konsequenz. Thomas Süssli, der die Finanzprobleme angesprochen hatte, sah plötzlich auch kein Finanzloch mehr. Das Milliarden-Loch gab es laut Amherd nie. Da hatte wohl der Finanzchef falsch gerechnet und Thomas Süssli unnötigerweise die Grossanlässe des Militärs abgesagt. Dass man es mit der Wahrheit nicht immer so genau nimmt, hat man auch rund um die Beschaffung des neuen Kampfjets F35 gesehen. Bei der Abstimmung über den F35, der der beste Kampfjet sei, auch wenn seine Auslieferung wegen Fabrikationsproblemen von den USA blockiert wurde, waren die Kosten für die 36 Exemplare mit sechs Milliarden Franken inklusive Weiterentwicklungskosten angegeben. Inzwischen gibt es ein neues Triebwerk, das die Schweiz ebenfalls einbauen lassen will, damit man keinen Sonderweg gehe. Die Kosten sind in den sechs Milliarden nicht enthalten, so dass sich der Gesamtbetrag um eine unbestimmte Summe erhöht.
Das sind nur wenige der Unstimmigkeiten, die sich im VBS und rund um die Armee abspielen. Viola Amherd hatte die Konsequenzen gezogen, bevor alles bekannt wurde. Vielleicht sollten noch andere in ihrem Departement über einen solchen Schritt nachdenken.

Wo soll die Reise hingehen?
Die Armee muss dringend in ruhigere Gewässer gesteuert werden. Die im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg geförderte Rüstungs- und Kriegshysterie ist der schlechteste Ratgeber. Sich der EU und der Nato aus Angst vor einem permanent beschworenen Angriff Russlands auf Europa an den Hals zu werfen, ist das Dümmste und Unüberlegteste, was man machen kann. Auch von der Nato im Falle eines Krieges irgendeine Unterstützung zu erwarten, ist naiv. Die Nato wird ihr Territorium nach den Vorgaben der USA verteidigen, denn die Nato ist der nukleare Arm der USA in Europa, nur sie alleine entscheidet, wann Atomwaffen eingesetzt werden. Jens Stoltenberg, der Ex-Generalsekretär der Nato, hat im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg deutlich gesagt, dass die Nato eine Atommacht sei. Es geht also darum, im Ernstfall einen Atomkrieg von Europa aus führen zu können, alles andere ist Wunschdenken. Wenn die Schweiz sich der Nato weiter annähert, wird sie möglicherweise in den Strudel eines Krieges gerissen, aus dem sie nicht mehr herauskommt. Im Vordergrund muss die Sicherheit von Land und Bevölkerung stehen auf der Grundlage der Neutralität und Souveränität. Alles andere führt zu mehr Unsicherheit und zur Gefahr, in einen Krieg hineingezogen zu werden. Die Neutralität, wenn sie nicht nur auf dem Papier steht und in Sonntagsreden bemüht wird, ist ein bewährtes Sicherheits- und Friedenskonzept, das konsequentes neutrales Handeln verlangt, sonst ist es weg: «Even Switzerland», wie Joe Biden triumphierte, als die Schweiz in völliger Verblendung die Sanktionen gegen Russland übernahm, muss dringend korrigiert werden.

Verbindliche Sicherheitsarchitektur dringend nötig
Mit dem Abgang von Viola Amherd besteht die Chance, eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger zu wählen, die die Nato- und EU-Anbindung als Resultat der Politik Amherds korrigieren. Das wird nicht einfach sein, aber wenn die Schweiz zur Neutralität zurückfinden will, führt kein Weg daran vorbei, ist er auch noch so steinig.
Vor mehr als 200 Jahren haben die europäischen Grossmächte die Neutralität der Schweiz völkerrechtlich anerkannt mit der Auflage, immerwährend und bewaffnet zu sein. Denn will sich ein neutraler Staat vor einer Vereinnahmung schützen, braucht er eine Armee zur Selbstverteidigung, mehr nicht.
Der Ukraine-Krieg hat gezeigt, dass es in Europa dringend eine verbindliche Sicherheitsarchitektur braucht, in der die Interessen aller Staaten, sowohl der Ukraine als auch Russlands berücksichtigt werden. Wer wäre ein besserer Vermittler und Impulsgeber als ein neutraler Staat. Diese Rolle wäre der Schweiz auf den Leib geschneidert, würde der Bundesrat an den bewährten Grundlagen festhalten. Unser Land könnte aber auch als Anhängsel der Mächtigen unter Verlust der Souveränität und Neutralität ein Schattendasein führen.
Ohne den Grundsatz der Neutralität wäre die Gründung des Roten Kreuzes und sein segensreiches Wirken nicht möglich gewesen. Hier stand die Schweiz Pate. Henry Dunant hat als Schweizer diesen Wert erkannt und die Hilfsorganisation auf dieser Basis gegründet. Diese Haltung braucht es auch in der internationalen Politik, will man Entscheidendes zum Frieden beitragen, der nicht nur auf gegenseitiger Abschreckung beruht.

Quellen:

  1. www.nzz.ch/schweiz/armeechef-thomas-suessli-ueber-pannen-und-verspaetungen-ich-habe-offen-gestanden-aufgehoert-zu-optimistisch-zu-sein-ld.1867984 ↩︎
  2. www.nzz.ch/schweiz/viola-amherd-ueber-kritik-an-armee-pannen-wir-kennen-die-probleme-und-risiken-und-wir-handeln-ld.1868941?ga=1&kid=nl167&mktcid=nled&mktcval=167&utm_medium=EMAIL&utm_source=MoEngage ↩︎
  3. www.nzz.ch/schweiz/armeechef-thomas-suessli-ueber-pannen-und-verspaetungen-ich-habe-offen-gestanden-aufgehoert-zu-optimistisch-zu-sein-ld.1867984 ↩︎
  4. www.srf.ch/news/schweiz/warnung-vor-kollaps-armee-verheimlicht-brisanten-bericht-zur-luftraumueberwachung ↩︎
  5. www.srf.ch/news/schweiz/grosse-finanzierungsengpaesse-neues-dokument-belegt-finanzprobleme-der-armee ↩︎