Gaza, eine bedeutende und einst blühende Stadt

Wie eine Handelsstadt zu einer dystopischen Landschaft degradiert wurde

von Dr. phil. Ivo Zanoni*

Man muss es sich einmal vorstellen: In Tel Aviv toben die Partys, die Stadt gilt als ein cooler Ort, an dem das Feiern nie abbricht. Als die coolsten Strassenzüge gelten bezeichnenderweise jene, die sich in Jaffa befinden, in der ehemaligen arabischen Altstadt. Nur etwas mehr als 70 km südlich liegt Gaza. Der Gegensatz könnte nicht grösser sein, aber nicht, weil die Menschen im Gaza-Streifen keine Lust aufs Feiern oder auf ein unbeschwertes Leben hätten, nein, die Gründe liegen ganz anders. Soviel zur geografischen Nähe dieser zwei Pole, die sich nicht anziehen.

Gaza gilt in weiten Teilen der westlichen Welt als hässlicher Ort, als unzivilisierter Streifen, als Hort des Extremismus und seit einigen Monaten als niedergewalzte dystopische Ruinenlandschaft. Der Nachrichtenfluss, der aus Gaza kam, handelte stets von «extremistischen Terroristen» und von «Schaltzentralen der Hamas» in Krankenhäusern, Schulen, Universitäten, Moscheen. Sollte so der Eindruck entstehen, dass eigentlich die gesamte öffentliche Infrastruktur des Streifens verdeckte Terrorzentralen sind? In der Tat ist in der israelischen Armee (IDF) die Meinung verbreitet, wonach es im Gaza-Streifen keine Unschuldigen gebe.
Man kann sich nicht vorstellen, dass es sich bei Gaza um eine blühende Stadt mit einem äusserst fruchtbaren Umland handelte. Gaza war in der Antike und auch später tatsächlich eine blühende Stadt an einer strategischen Position. Hier trafen die Karawanen ein, die zum Beispiel aus dem südlichen Gebiet der arabischen Halbinsel Weihrauch, Myrrhe und Gewürze transportierten. Von Gaza aus gelangten diese Exotika auf dem Seeweg in den Westen. Davon weiss man hier meist nichts beziehungsweise interessierte sich kaum dafür. Man könnte fast meinen, dies sei bewusst so gesteuert, um davon abzulenken, dass die Zerstörung von Gaza ein schlimmes Verbrechen darstellt. Gaza war auch landwirtschaftlich sehr wichtig, und es ist zu vermuten, dass die fruchtbaren Felder nicht nur brach liegen, sondern absichtlich zerstört worden sind. Wenn es nun heisst, die Menschen von Gaza könnten im Rahmen des Waffenstillstands wieder in ihre Häuser zurückkehren und die Felder bestellen, dann ist diese Aussage als Zynismus beziehungsweise als Verschleierung der geschaffenen Tatsachen zu werten.
Seit im Jahr 1948 der Staat Israel gegründet wurde, und der Küstenstreifen bei Gaza unter ägyptische Verwaltung kam, spricht man vom «Gaza-Streifen». Dieser Begriff hat sich im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit derart eingebürgert, dass in Vergessenheit geraten ist, dass wir uns hier an einer Stelle des östlichen Mittelmeers befinden, die von grosser strategischer Bedeutung ist. Der Streifen hat seit 1948 viele Wellen der Unterdrückung, Zerstörung und der wiederkehrenden Kriege erlebt. Das Gebiet, das sich in keiner Weise normal entwickeln konnte, von seinem natürlichen Umland abgeschnitten und immer mehr in ein offenes Lager oder Gefängnis mit zuletzt 2,2 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern verwandelt wurde, lieferte nur noch negative Schlagzeilen, welche die meisten Leute mit Achselzucken quittierten. Viele kollektive Strafen wurden, als wäre tatsächlich jede und jeder schuldig (dort geboren zu sein?), über den Streifen verhängt. Häufig wurde gesagt, die Bewohner hätten dort, was sie verdienten, sie hätten auf Hamas gesetzt, das hätten sie nun davon. Sie hätten die höchste Geburtenrate der Welt. Wovon und wie sollen denn diese vielen Kinder leben? Gespräche und Berichte über Gaza waren und sind von solchen Themen geprägt und sehr häufig mit einem herabmindernden Ton verknüpft. Das Elend, das im abgeriegelten Streifen herrschte, wobei es aber auch ein pulsierendes Leben gab, erklärte man sich ganz einfach: Es ist eine Gesellschaft, die nicht funktionieren kann. Welche Gesellschaft unter den gegebenen Umständen funktionieren könnte, fragte man sich nicht, wohl um nicht sagen zu müssen, dass Israels Politik etwas damit zu tun hat. Man muss sich dieser Stadt auf andere Weise nähern und dabei einen Blick auf ihre Geschichte werfen.

Gaza in der Antike – Transitort und Handelsstadt
Bevor wir einen Blick auf Gaza in der Antike werfen, müssen wir uns fragen, wer denn die Bewohner dieser Stadt damals waren. Arabische Nomaden wanderten vermutlich um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. aus der arabischen Halbinsel in das Gebiet zwischen dem Toten Meer und dem Golf von Akaba am Nordende des Roten Meeres ein. Petra – heute in Südjordanien – machten sie zu ihrem Hauptstammessitz. Diese «Uraraber», in der Forschung Nabatäer genannt, gründeten ein Reich, das seit der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. von Königen regiert wurde. Zur Zeit der grössten Herrschaftsausdehnung reichte das Gebiet im Norden bis Damaskus und im Süden bis in die Gegend des heutigen Mekka. Das Reich der Nabatäer lag im Grenzbereich zwischen Afrika und Asien, zwischen Wüste und fruchtbarem Land. Nachbarkulturen waren die ägyptische, phönizische, aramäische, jüdische und die griechische.¹
Abgesehen von der geostrategischen Lage des Nabatäerreiches befand sich in diesem Territorium auch ein Knotenpunkt von Handel und Wirtschaft. Einerseits ist die Königsstrasse zu nennen, die Ägypten mit Syrien verbindet und andererseits die Weihrauchstrasse, die von Südarabien nach Gaza führt, an die Küste des östlichen Mittelmeeres. Gaza war also ein wichtiges Zentrum des zum Mittelmeer führenden Arabienhandels, der sich in dieser Zeitstufe hauptsächlich auf dem Landweg mit Karawanen abspielte. Nun, gehörte Gaza um die Zeitenwende zum Nabatäerreich? Nein, Gaza lag genau am Schnittpunkt zwischen den nordwestlichen Ausläufern des von den Nabatäern kontrollierten Gebiets, dem Reich der Ptolemäer in Ägypten und dem Reich der Seleukiden im syrisch-palästinensischen Raum, die beiden letzteren «Nachfolgerstaaten» des auseinandergebrochenen Alexanderreichs. Alexander der Grosse hatte Gaza im Jahr 332 v. Chr. nach dreimonatiger Belagerung erobert und die überlebenden Frauen, Männer und Kinder in die Sklaverei verkauft. Alexanders Nachfolger, die Ptolemäer (in Ägypten) und die Seleukiden (in Syrien), beherrschten das Gebiet bis zur Eroberung durch die Römer im 1. Jahrhundert v. Chr., die die Stadt Gaza wieder aufbauten und ihr zu neuer Blüte verhalfen.
Wir dürfen also davon ausgehen, dass in Gaza ein buntes Völkergemisch herrschte, viele Sprachen durcheinander gesprochen wurden und die Menschen hauptsächlich vom Handel lebten. Das kann nicht erstaunen, es liegt in der Natur von Hafen- und Handelsstädten, dass in ihnen verschiedene Welten aufeinanderprallen. Die Waren, die auf der Weihrauchstrasse herantransportiert wurden – dabei handelt es sich um Weihrauch, Myrrhe, Gewürze und Edelmetalle –, waren im gesamten Mittelmeerraum und in grossen Teilen Europas begehrte, teure Luxuswaren. Diesen Handel belegten die schlauen Nabatäer mit einer Transitsteuer, auf der ihr Reichtum beruhte. Im Übrigen beuteten sie die Asphaltvorkommen und die Balsambaumhaine rund ums Tote Meer aus. Solche Karawanenrouten waren somit so etwas wie das, was wir heute als Pipeline bezeichnen würden. Eine solche verlief genau nach Gaza.
Mit den Römern gab es eine Neuordnung im Nahen Osten. Das ehemalige Seleukidenreich wurde unter Pompeius zur römischen Provinz Syria, zu der nun auch Gaza gehörte. Ägypten war bereits 30 v. Chr. römische Provinz geworden. Dasselbe Schicksal ereilte das Nabatäerreich, das 106 n. Chr. unter Kaiser Trajan neu ebenfalls römische Provinz mit dem Namen «Arabia Felix» wurde. Bei der Reichsteilung 395 n. Chr. fielen die palästinensischen und syrischen Provinzen an Ostrom, später Byzanz. In den Gebieten der Nabatäer bis Gaza nahmen die Bewohner das Christentum seit der Mitte des 4. Jahrhundert n. Chr. an, und es hielt sich verhältnismässig lange, bis mit dem Sieg des Sultans Saladin über die Kreuzritter 1187 der Islam endgültig seinen Einzug hielt.²

Gaza in nachantiker Zeit
Einen grundlegenden kulturellen und politischen Wandel in der Region bewirkte die islamische Eroberung im Jahr 636 (Schlacht am Jarmuk). Seither entwickelte sich Gaza zu einer arabischen Stadt.
Nachdem im 11. Jahrhundert vorübergehend Kreuzfahrer das Gebiet erobert hatten, kam es im 12. Jahrhundert unter ägyptisch-mamlukischer Herrschaft. Nach der Niederlage gegen die Osmanen im Jahr 1517 geriet es wie das gesamte Mamlukenreich unter türkische Herrschaft. Das Gebiet des Gaza-Streifens wurde seit 1872 Teil des Sandschaks Jerusalem.
Die Briten bekämpften im Ersten Weltkrieg das Osmanische Reich mit einer Gegenoffensive der Egyptian Expeditionary Force. Die Mittelmächte hatten bei Gaza eine Verteidigungslinie errichtet, um den Einmarsch der Briten zu erschweren. Die Osmanen ihrerseits evakuierten einen Teil von Gazas Bevölkerung bis nach Homs und Aleppo (im heutigen Syrien). Im Rahmen dieser militärischen Auseinandersetzungen wurde Gaza abermals dem Erdboden gleichgemacht. Ein Erdbeben im Jahr 1927 hat der Stadt weiteren Schaden zugefügt. Im Rahmen der Regelungen des Palästinamandats kam Gaza unter britische Verwaltung. Von 1948 bis 1967 – also nach Israels Staatsgründung – stand Gaza unter ägyptischer Verwaltung.
Die Zeit zwischen 1967 und heute soll hier nicht näher erläutert werden, denn dies ist eine Phase, in der Gazas Wirkung nach aussen und seine Interaktionsmöglichkeiten mit der Aussenwelt immer mehr eingeschränkt wurden.³ Die Stadt wurde mehrfach zerstört. Warum geschah dies mehrmals? Seit 1948 löste der Streifen bei den israelischen Nachbarn zunehmende Ablehnung aus. Ohne in die Details zu gehen, sei der Gedanken erlaubt, dass den Menschen in Gaza für ihr Leben und für ihre Zukunft andere Pläne vorschwebten und vorschweben als die Vorstellungen, die in Israel darüber kursieren. Dies hat nichts damit zu tun, dass Israels Existenzrecht in Frage gestellt wird, es hängt eher damit zusammen, dass auch dem Gaza-Streifen das Recht auf ein «normales» Leben nicht abgesprochen werden kann. Hat denn die Abriegelung des Gaza-Streifens letztlich nicht den Extremismus gefördert beziehungsweise dafür gesorgt, dass der Hunger auf Befreiung aus der abgeriegelten Situation immer grösser wurde?
Die genauen Umstände, die am 7. Oktober 2023 zum Angriff der Hamas geführt haben, müssten genauer untersucht werden. Bei aller Drastik, Brutalität, Verachtung, die dabei zum Ausdruck kam, stellt sich dennoch die Frage, ob er als Ausgangspunkt für all jene Dinge benutzt werden kann, die danach geschehen sind: All das, was man als zivile Infrastruktur – häufig mit Hilfsgeldern errichtet – bezeichnet, ist dem Erdboden gleichgemacht worden. Das ist etwas anderes als die für die Tat Verantwortlichen zu stellen und gemäss rechtsstaatlichen Methoden zur Rechenschaft zu ziehen.
Trotz der prekären Verhältnisse, die im Streifen herrschten, gab es in Gaza ein pralles Leben. Es gab da Menschen, die Perspektiven aufbauten und danach trachteten, ein sogenannt normales Leben innerhalb der gebotenen Möglichkeiten zu leben.⁴ Es gab da Moscheen aus anderen Zeiten, archäologische Stätten, sehr fruchtbares Landwirtschaftsland, es gab einmal einen See- und auch einen Flughafen. Von diesen Dingen müssen wir jetzt in der Vergangenheitsform sprechen. Nicht zu vergessen, vor Gaza liegt ein grosses Erdgasfeld (Gaza Marine). Wem gehört es?

Gaza heute und amerikanische Vorstellungen einer «Riviera des Ostens»
Die Nachrichtenbilder, die uns in den letzten Monaten aus Gaza erreichten, zeigten eine dystopische Landschaft. Ruinen, Trümmer, versehrte und traumatisierte Menschen in ihnen. Wenn Bilder für sich selbst sprächen, wäre klar geworden, dass da etwas geschehen ist, das irreversibel ist. Es ist wohl kaum vorzustellen, dass am Tag eins nach einem Waffenstillstand⁵ die ehemaligen Bewohner Gazas und auch der anderen Städte im Streifen einfach aus dem Exil zurückkehren und ihr früheres Leben wiederaufnehmen. In welchen Häusern denn? Mit welcher zivilen Infrastruktur? Innerhalb welcher politischen Rahmenbedingungen? Der Zerstörungsgrad der Gebäude ist sehr hoch, und in den Trümmern lauern sicher auch Giftstoffe und Blindgänger. Eine Rückkehr ist in vielen Fällen gar nicht möglich.
Nachdem ein Recht auf Rückkehr der 1948 aus Israel vertriebenen Palästinenserinnen und Palästinensern nicht gewährt worden ist, stellt sich nun die Frage, ob die abermals Vertriebenen auch nicht mehr nach Gaza zurückkehren können. Und da sind wir bei den grundsätzlichen Fragen angekommen, die seit 1948 auf eine Klärung warten: Das Existenzrecht der einen bedeutet die Auslöschung der anderen? Oder können die beiden «Bevölkerungsgruppen» nebeneinander leben? Aber ist das nun nach all dem, was geschehen ist, überhaupt noch möglich?
Beim Treffen vom 4. Februar 2025 von Benjamin Netanyahu und Donald Trump in Washington wurde «Märchenhaftes» – oder Kriminelles – verkündet: Trump schlug vor, dass die USA den Gaza-Streifen «übernehmen». Zu dieser Fantasie – aus 1001 Nacht oder aus einem schlechten Hollywood-Streifen? – gehört auch, dass die dort ansässige palästinensische Bevölkerung nach Jordanien und Ägypten «umgesiedelt» würde und, so Trump, wohl mit der Mitarbeit seines Sonderbeauftragten für den Nahen Osten, Steve Witkoff, eine «Riviera des Ostens» aus dem Boden gestampft würde. In der wildesten Fantasie hätte man sich so etwas nicht vorstellen können. Steve Witkoff liess auf FoxNews verlautbaren, dass Trumps Vorschläge «mehr Hoffnung» für die Palästinenserinnen und Palästinenser bedeuten. «Mehr Hoffnung für ein besseres Leben». Gemäss ihm wird Gaza nämlich in den nächsten Jahren «unbewohnbar» sein, und: «Ein besseres Leben hängt nicht unbedingt mit dem physischen Raum zusammen, wo ihr euch jetzt befindet. Ein besseres Leben meint bessere Chancen, bessere finanzielle Bedingungen, bessere Aussichten für euch und für eure Familien». Diese Aussagen, in denen der American Dream in einer wüsten Variante aufflammt, lassen erahnen, dass es nur jemanden auf dieser Erde gibt, der diese Konditionen formuliert und zuteilt. Wer sich von ihnen nicht betören lässt, ist wohl ein Mensch, der zu jenem «Haufen von Chaoten» gehört, über die Trump und Co. die Nase rümpfen.

Mahmoud Darwish
Mahmoud Darwish, der wohl berühmteste palästinensische Dichter (1941 bis 2008), schrieb: «Wir haben ein Land aus Worten». Kürzer und prägnanter kann man die Situation von Menschen, denen man die Heimat weggenommen hat, nicht beschreiben. Im Text «Schweigen für Gaza» äussert sich Darwish auf besonders eindrückliche Weise, obwohl er kein Gazaoui war, sondern aus Ramallah stammte. Hier zum Abschluss ein Auszug aus «Schweigen für Gaza» :
« [ … ] Gaza ist kein glänzender Redner, Gaza hat keinen Hals. Aus den Poren seiner Haut sprechen Schweiss, Blut und Feuer.
Deshalb hasst es der Feind auf den Tod, fürchtet es bis zum Verbrechen und versucht es im Meer, in der Wüste oder im Blut zu ertränken.
Deshalb wird es von seinen Verwandten und Freunden geliebt, manchmal bis zur Eifersucht und zur Angst. Denn Gaza ist gleichermassen für Freunde und Feinde brutale Lektion und leuchtendes Beispiel.
Gaza ist nicht die schönste Stadt.
Seine Küste ist nicht blauer als die anderer arabischer Städte.
Seine Orangen sind nicht die besten am Mittelmeer.
Gaza ist nicht die reichste Stadt.
(Fisch, Orangen, Sand, Zelte, durch die der Wind weht, Schmuggelware, Arbeitskräfte im Taglohn.)
Es ist nicht die raffinierteste Stadt. Es ist nicht die grösste Stadt. Aber es ist wie die Geschichte einer Nation. Denn in den Augen seines Feindes ist es hässlich, ärmlich, bestialisch, weil es mehr als alles andere seine gute Laune und seine Ruhe stört, weil es sein Albtraum ist. Denn es meint verminte Orangen, Kinder ohne Kindheit, Alte ohne Alter und Frauen ohne Wünsche. Gerade weil es all dies in sich vereinigt, ist Gaza die schönste, die reinste, die reichste und jene Stadt, die unsere Liebe am meisten verdient.
[ … ] Mag sein, dass die Feinde Gaza besiegen. (Das stürmische Meer kann eine kleine Insel besiegen.)
Sie können seine Bäume fällen.
Sie können ihm die Knochen brechen.
Sie können Panzer in die Bäuche seiner Frauen und Kinder pflanzen. Sie können es ins Meer, in die Wüste oder ins Blut werfen.
Aber:
Die Lüge wiederholt sich nicht.
Es wird nie zu den Eroberern «Ja» sagen.
Es wird sich weiter in die Luft sprengen lassen.
Es ist kein Tod, es ist kein Selbstmord. Es ist Gazas Art, mit der es beweist, dass es zu leben verdient.»⁶
Mahmoud Darwishs Worte sind nicht nur eindrücklich, vieldeutig, symbolisch und manchmal schwer zu ertragen, sondern vor allem von einer geradezu schmerzenden Aktualität. Sein Text ist 1978 entstanden, dies sollte man beim Lesen seiner Zeilen berücksichtigen. Darwishs Worte wirken prophetisch, beschreiben aber mit den Mitteln eines Dichters die schon damals unhaltbaren Zustände in Gaza. Was nun aus dem Gaza-Streifen, Ostjerusalem und dem Westjor­danland werden soll, bleibt weiterhin unklar. Die Zweistaatenlösung wird erwähnt. Wie soll diese funktionieren, wenn zum Beispiel im Westjordanland extremistische jüdische Siedler immer gewalttätiger danach trachten, sich Land anzueignen und unter anderem Olivenhaine der Palästinenser fällen? Zum Abschluss sei diese Frage gestellt: Gilt denn auch der Olivenbaum den vielfach aus den USA eingewanderten fanatischen Siedlern als Feind? Wie gehen sie mit Gottes Schöpfung um?

¹ Das Standardwerk zu Gazas Geschichte liefert Jean-Pierre Filiu: «Histoire de Gaza», Fayard, Paris, 2024. Filius Analyse des 20. und des 21. Jahrhunderts nehmen den Hauptteil seines Werks ein (Kapitel 4 bis 16).
² S. hierzu weiterführend: Ursula Hackl: Die Geschichte der Nabatäer, in: Ausstellungskatalog «Petra und die Weichrauchstrasse», Ausstellung Zürich Galerie Le Point am Hauptsitz der SKA, 1993, 4-13; dies.: Die Geschichte der Nabatäer, in: Begleitbuch zur Ausstellung im Antikenmuseum Basel «Petra – Wunder in der Wüste. Auf den Spuren von J. L. Burckhardt alias Scheich Ibrahim», Schwabe Basel (2012) 42-47. Zu Funden aus dem römischen Gaza s. Ausstellungskatalog Musée d’Art et d’Histoire de Genève: «Gaza à la croisée des civilisations» 2006, Marc-André Haldimann et al.
³ S. Jean-Pierre Filiu: «Histoire de Gaza», Fayard, Paris, 2024, Kapitel 3-16.
⁴ Sybille Oetliker hat in ihrer Textsammlung vier bemerkenswerte und nach westlicher Sehweise progressive Frauen porträtiert: Sybille Oetliker: «Standhaft – rechtlos. Frauen im besetzten Palästina», eFeF-Verlag Bern, 2010, Omayya Joha, Majeda al-Saqqa, Wasfiyeh Mahmud ar-Ramlawi, Muna Ghala’ini, S. 143-194.
⁵ Nach der am 19. Januar 2025 in Kraft getretenen Waffenruhe haben sich viele Menschen im Gaza-Streifen aus ihren Notunterkünften in Bewegung gesetzt, um ihre Häuser zu inspizieren. Es ist klar, dass viele nur Trümmer vorfanden.
⁶ Mahmoud Darwish: Tagebuch der alltäglichen Traurigkeit, Verlag Volk und Welt, Berlin 1979; im Lenos Verlag, Basel erscheint Ende März 2025 eine Neuübersetzung aus dem Arabischen von Farouk S. Beydoun

*Ivo Zanoni, 1966 in Samedan (GR) geboren, studierte in Basel und Rom Klassische Archäologie (Dr. phil.). Autor und freier Journalist, Übersetzer, schreibt in deutscher und italienischer Sprache unter anderem für die Tessiner Zeitung und Terra Ticinese.