«In Kriegs- und Friedenszeiten stellen Vertreibung und Verschleppung völkerrechtliche Verbrechen dar»
Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger
Zeitgeschehen im Fokus Was bedeutet Trumps Idee, die Palästinenser umzusiedeln – zu vertreiben – aus völkerrechtlicher Sicht.
Prof. Dr. Alfred de Zayas Diese hirnrissige Idee muss von allen zivilisierten Menschen abgelehnt werden. Trump hat zwar einige konstruktive Ideen bezüglich eines Endes der Kampfhandlungen in der Ukraine, und seine Bemühungen um direkte Verhandlungen mit Putin sind zu begrüssen, aber in Sachen Israel und Palästina liegt Trump völlig falsch. Er ist kein Jurist und kümmert sich nicht um das Völkerrecht. Für ihn gilt allein sein Wille. Wenn er gute juristische Berater hätte, würde er wissen, dass die Umsiedlung der Palästinenser nach geltendem Völkerrecht ein Verbrechen gegen die Menschheit bedeutet. Die «Umsiedlungen» von etwa 800 000 Polen aus dem Warthegau durch Hitler wurden 1946 als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit vom Nürnberger Tribunal verurteilt. Die IV. Genfer Konvention von 1949 verbietet solche Umsiedlungen im Artikel 49 (s. Abb. 1).
Abb. 1
IV. Genfer Konvention, Art. 49
«Zwangsweise Einzel- oder Massenumsiedlungen sowie Deportationen von geschützten Personen aus besetztem Gebiet in das Gebiet der Besetzungsmacht oder das irgendeines anderen besetzten oder unbesetzten Staates sind ohne Rücksicht auf ihren Beweggrund verboten.
Immerhin kann die Besetzungsmacht eine vollständige oder teilweise Evakuierung eines bestimmten besetzten Gebietes durchführen, wenn die Sicherheit der Bevölkerung oder zwingende militärische Gründe dies erfordern. Solche Evakuierungen dürfen nicht die Umsiedlungen von geschützten Personen in Gebiete ausserhalb der Grenzen des besetzten Gebietes zur Folge haben, es sei denn, eine solche Umsiedlung liesse sich aus materiellen Gründen nicht vermeiden. Unmittelbar nach Beendigung der Feindseligkeiten in dem in Frage stehenden Gebiet soll die so evakuierte Bevölkerung in ihre Heimstätten zurückgeführt werden.
Die Besetzungsmacht hat bei der Durchführung derartiger Umsiedlungen oder Evakuierungen im Rahmen des Möglichen dafür zu sorgen, dass angemessene Unterkunft für die Aufnahme der geschützten Personen vorgesehen wird, dass die Umsiedlung in bezug auf Sauberkeit, Hygiene, Sicherheit und Verpflegung unter befriedigenden Bedingungen durchgeführt wird und Mitglieder derselben Familie nicht voneinander getrennt werden.
Die Schutzmacht soll von allen Umsiedlungen und Evakuierungen verständigt werden, sobald sie stattgefunden haben.
Die Besetzungsmacht darf geschützte Personen nicht einer in besonders den Kriegsgefahren ausgesetzten Gegend zurückhalten, sofern nicht die Sicherheit der Bevölkerung oder zwingende militärische Gründe dies erfordern.
Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln.»
Die USA, Israel und Palästina sind alle Vertragsparteien der Genfer Konventionen. Die Verletzung dieses Artikels gilt als schwere Verletzung beziehungsweise als. Verbrechen nach Artikel 146 f. derselben Konvention und muss geahndet werden.
Damit gibt die IV. Genfer Konvention klare Vorgaben.
Es geht nicht nur um die Genfer Konventionen. Es geht um Artikel 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, es geht um Völkergewohnheitsrecht, um Entscheidungen und Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH). Das Selbstbestimmungsrecht der Völker gilt als jus cogens, als zwingendes Völkerrecht. In etlichen Resolutionen der Uno-Generalversammlung und sogar des Uno-Sicherheitsrats wird das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser bekräftigt. Es liegt auf der Hand, dass das Recht auf die Heimat der Palästinenser eine Voraussetzung zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ist.1 Ein Volk kann das Selbstbestimmungsrecht nicht ausüben, wenn es seiner Heimat beraubt wird, wenn es vertrieben wird.
Der Internationale Gerichtshof hat in zwei Gutachten vom 9. Juli 2004 und 19. Juli 2024 das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser bekräftigt und die Besetzung durch Israel als illegal bezeichnet. Im IGH-Fall Südafrika versus Israel geht es darum, dass der Krieg in Gaza und die laufenden ethnischen Säuberungen einem Völkermord gleichzusetzen sind.2 In Bezug auf die «ethnischen Säuberungen» während des Jugoslawien-Kriegs haben die Uno-Sub-Kommission und die Menschenrechtskommission der Uno bereits 1997 und 1998 ethnische Säuberungen als illegal bezeichnet und eine Erklärung über Bevölkerungstransfers und die Sesshaftmachung von Siedlern angenommen (s. Abb. 3).3 Daraus muss man folgenden Schluss ziehen: Vertreibungen verstossen gegen die Uno-Charta, gegen die Menschenrechtserklärung vom 10. Dezember 1948, gegen die Menschenrechtspakte von 1966, gegen die Internationale Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, gegen die Konvention über die Rechte des Kindes und anderen Konventionen. Sie verstossen ebenfalls gegen das 4. Protokoll der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, dessen Artikel 3 besagt: «Niemand darf aus dem Hoheitsgebiet des Staates, dessen Staatsangehöriger er ist, durch eine Einzel- oder eine Kollektivmassnahme ausgewiesen werden …» In Kriegs- und Friedenszeiten stellen Vertreibung und Verschleppung völkerrechtliche Verbrechen dar. Gemäss Artikel 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 sind Vertreibungen Kriegsverbrechen, gemäss Artikel 7 Verbrechen gegen die Menschheit. Unter bestimmten Umständen erfüllen sie zudem den Tatbestand des Völkermordes gemäss Artikel 6.
Wie gesagt, die Kriminalität und Völkerrechtswidrigkeit von Trumps Vorstellungen sind eindeutig. Und genauso deutlich ist es, dass dies Trump überhaupt nicht interessiert.
Abb. 3
Erklärung über Bevölkerungstransfer und die Sesshaftmachung von Siedlern
Artikel 1 Die in dieser Erklärung gesetzten Normen sind in allen Situationen anzuwenden, einschliesslich Friedenszeiten, Situationen von Störungen und Spannungen, innerstaatlicher Gewalt, innerstaatlicher bewaffneter Konflikte, Situationen gemischter innerstaatlich-zwischenstaatlicher bewaffneter Konflikte, zwischenstaatlicher bewaffneter Konflikte und Situationen des öffentlichen Notstandes. Die Normen in dieser Erklärung sind unter allen Umständen verbindlich.
Artikel 2 Diese Normen sind verbindlich für und anwendbar auf alle Personen, Gruppen und Obrigkeiten ungeachtet ihres gesetzlichen Status.
Artikel 3 Rechtswidrige Bevölkerungstransfers umfassen eine Praxis oder Politik, die den Zweck oder das Ergebnis haben, Menschen in ein Gebiet oder aus einem Gebiet zu verbringen, sei es innerhalb internationaler Grenzen oder über Grenzen hinweg, oder innerhalb eines, in ein oder aus einem besetzten Gebiet ohne die freie und informierte Zustimmung sowohl der umgesiedelten als auch jeglicher aufnehmenden Bevölkerung.
Artikel 4 1. Jeder Mensch hat das Recht, in Frieden, Sicherheit und Würde in seiner Wohnstätte, in seiner Heimat und in seinem Land zu verbleiben. 2. Niemand darf dazu gezwungen werden, seine Wohnstätte zu verlassen. 3. Die Verbringung einer Bevölkerung oder von Bevölkerungsteilen darf nicht angeordnet, angeregt oder durchgeführt werden, es sei denn, ihre Sicherheit oder zwingende militärische Gründe verlangen es. Alle auf diese Weise verbrachten Personen haben das Recht, unmittelbar nach Beendigung der Umstände, die ihren Ortswechsel erzwungen hat, zu ihren Wohnstätten, in ihre Heimat oder an ihre Herkunftsorte zurückzukehren.
Artikel 5 Die Besiedlung eines besetzten oder umstrittenen Gebiets durch die Besatzungsmacht bzw. die es faktisch beherrschende Macht mit Teilen ihrer eigenen Zivilbevölkerung, sei es durch Transfer oder Anreize ist rechtswidrig.
Artikel 6 Jegliche Praxis oder Politik, die das Ziel oder den Effekt hat, die demographische Zusammensetzung einer Region, in der eine nationale, ethnische, sprachliche oder andere Minderheit oder eine autochthone Bevölkerung ansässig ist, zu ändern, sei es durch Vertreibung, Umsiedlung und/oder durch die Sesshaftmachung von Siedlern oder eine Kombination davon, ist rechtswidrig.
Artikel 7 Bevölkerungstransfers oder -austausche können nicht durch internationale Vereinbarungen legalisiert werden, wenn sie grundlegende Bestimmungen der Menschenrechte oder zwingende Normen des Völkerrechts verletzen.
Artikel 8 Jeder Mensch hat das Recht, in freier Entscheidung und in Sicherheit und Würde in das Land seiner Herkunft sowie innerhalb dessen an den Ort seiner Herkunft oder freien Wahl zurückzukehren. Die Ausübung des Rückkehrrechts schliesst das Recht der Opfer auf angemessene Wiedergutmachung nicht aus, einschliesslich der Rückgabe von Gütern, die ihnen im Zusammenhang mit dem oder als Ergebnis des Bevölkerungstransfers entzogen wurden, Entschädigung für jegliches Eigentum, das ihnen nicht zurückgegeben werden kann und allfällige andere, völkerrechtlich vorgesehene Reparationen.
Artikel 9 Die obengenannten Praktiken des Bevölkerungstransfers stellen Völkerrechtsverstösse dar, die sowohl staatliche Verantwortlichkeit als auch individuelle strafrechtliche Verantwortung begründen.
Artikel 10 Wo durch diese Erklärung verbotene Taten oder Unterlassungen begangen werden, sind die internationale Gemeinschaft als ganze und die einzelnen Staaten dazu verpflichtet: a) die durch solche Taten geschaffenen Situationen nicht als rechtmässig anzuerkennen; b) im Falle laufender Vorgänge die sofortige Beendigung und die Rückgängigmachung ihrer schädlichen Folgen sicherzustellen; c) dem Staat, der eine solche Tat begangen hat oder noch begeht, bei der Aufrechterhaltung oder Verstärkung der dadurch geschaffenen Situation keine Hilfe, Beihilfe oder Unterstützung zu gewähren, sei es finanziell oder in anderer Form.
Artikel 11 Die Staaten sollen Massnahmen ergreifen, die die Verhinderung von Bevölkerungstransfers und der Sesshaftmachung von Siedlern zum Ziel haben, einschliesslich des Verbots der Anstachelung zum rassischen, religiösen oder sprachlichen Hass.
Artikel 12 Nichts in diesen Artikeln darf so ausgelegt werden, dass es den Rechtsstatus irgendeiner Obrigkeit oder von Gruppen oder Personen berührt, die in Situationen von innerstaatlicher Gewalt oder von Störungen und Spannungen oder des öffentlichen Notstandes involviert sind.
Artikel 13 1. Nichts in diesen Artikeln darf so ausgelegt werden, dass es die Anwendung der Bestimmungen gleich welcher internationaler humanitärer oder menschenrechtlicher Instrumente beschränkt oder beeinträchtigt.
Falls unterschiedliche Normen auf dieselbe Situation anwendbar sind, soll diejenige Bestimmung gelten, die den grösstmöglichen Schutz für von Bevölkerungstransfers betroffene Einzelpersonen oder Gruppen bietet.
Quelle: E/CN.4/Sub-2/1997/23
Welche politische Zielsetzung steht hinter Trumps Vorschlag?
Trump, Biden und alle Vorgänger waren «geistige Zionisten» mit der Ausnahme von Jimmy Carter, der zwei wichtige Bücher zu Palästina schrieb: «Palestine: Peace Not Apartheid» (2006) und «We can have peace in the Holy Land» (2009). Man fasst sich an den Kopf, wenn man hört, dass die Israelis das Land Palästina einnehmen könnten, denn so sei es in der Bibel geschrieben. Sogar die ugandische Richterin im IGH, Julia Sebutinde, vertritt diese «evangelikale» Meinung.4 Man darf die Konsequenzen der täglichen Berieselung der amerikanischen Bevölkerung durch die Mainstream-Medien nicht unterschätzen. Es ist eine regelrechte Gehirnwäsche – in Filmen, Theaterstücken, Schulbüchern, Comics – überall wird die Überzeugung vermittelt, man muss Israel gegen die terroristischen Palästinenser schützen. Ich sehe keine rationale politische Zielsetzung. Die amerikanische Allianz mit Israel war und ist kontraproduktiv.
Israel versucht, sein Existenzrecht militärisch, aber auch mit der Vertreibung der Palästinenser zu «verteidigen». Syrien wird mit der gleichen Begründung bombardiert. Ist die Argumentation zu rechtfertigen?
Israel ist ein aggressiver, expansionistischer Staat und war es seit 1947. Es geht gar nicht um Selbstverteidigung, sondern um Landraub. Dies haben die Israelis mit der Komplizenschaft der USA und der Europäischen Union betrieben. Die USA, Grossbritannien und die EU sind alle am Völkermord beteiligt, und alle sollten wegen Verletzungen der Artikel 5, 6, 7 und 8 des Statuts von Rom vor dem Internationalen Strafgerichtshof stehen. Man hat alle unsere «Werte» über Bord geworfen, und die Medien versuchen, dies als «Verteidigung» zu rechtfertigen. Der Zionismus war und ist ein Anachronismus, ein Ausdruck des kolonialen und imperialen Denkens des 19. Jahrhunderts, als es nur um Machtausdehnung ging.
Alle diese Angriffe gegen Syrien, gegen den Irak und den Libanon stellen Verletzungen der Uno-Charta dar, nämlich Art. 2(4). Ausserdem erfüllen sie die Tatbestände der Aggression im Sinne der Resolution 3314 (Declaration on Aggression)5 der Uno-Vollversammlung und des Artikels 5 des Statuts von Rom sowie auch der Kampala Definition von 2010.6 Man soll aufhören mit dem falschen Argument der sogenannten Selbstverteidigung. Es ist blanke Aggression. Alle in der EU und in den USA, die meinen, es sei Selbstverteidigung, machen sich an dem Verbrechen mitschuldig.
Im Westjordanland spielt sich ein ähnliches Szenario wie im Gaza-Streifen ab. Wie bezieht die Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, Stellung dazu?
Alle Uno-Sonderberichterstatter über Palästina haben sich dazu geäussert – John Dugard, Richard Falk, Michael Lynk und nun Francesca Albanese, die zum wiederholten Male in Deutschland mit einem Redeverbot belegt wurde und seit letztem Jahr nicht mehr nach Israel einreisen darf.7 In einem Interview mit Radio ORF sagte Francesca Albanese: «Ich war die erste bei der Uno, die Beweise vorgelegt hat, dass Israel genozidale Akte begangen hat. Natürlich habe ich darüber nicht gejubelt, es lastete sehr schwer auf mir. Ich war am Boden zerstört, ich war richtig krank, als ich den Bericht präsentierte, denn er hat mich geradezu aufgesogen. Ich fühle immer noch den Schmerz in meinem Körper. Er ist bei mir schon seit einem ganzen schrecklichen Jahr. Natürlich gibt es die USA, die mitschuldig sind an dem, was Israel tut. Das Tribunal der Geschichte wird beweisen, wer Recht hat und wer im Unrecht war. Vom rechtlichen Standpunkt her haben im speziellen die westlichen Staaten versagt, diesen Genozid zu verhindern. Daher greifen sie mich natürlich an.
Sie fragen mich, wie die Vereinten Nationen auf diesen Angriff regiert haben? Wissen Sie, es gibt so viel Solidarität für mich, soviel Unterstützung und Liebe. Sie selbst haben es an der Universität in Wien gesehen. Es kamen fast 1200 junge Menschen zu meinem Vortrag, und viele von ihnen – ich habe es gesehen – weinten während meines Vortrags.»8
Hört man in dieser Angelegenheit etwas von Volker Türk beziehungsweise von António Guterres?
Ja, doch, Türk äussert sich aber ängstlich, ohne Überzeugung. Bisher hat er das «G»-Wort nicht gebraucht. Dasselbe gilt für unseren Generalsekretär, António Guterres. Beide Versager. Sogar «Amnesty International» und «Human Rights Watch» haben den Rubikon überquert und sprechen von «Genozid».
Sie haben «80 Thesen zur Vertreibung» geschrieben. Gab es Reaktionen darauf?
Neben den «80 Thesen»9 habe ich die Artikel «Population, Expulsion and Transfer» in der «Encyclopedia of Public Interntional Law», herausgegeben von R. Bernhardt, North Holland, Amsterdam 2000, und «Forced Population Transfers» in der «Max Planck Encyclopedia of Public International Law», herausgegeben von R. Wolfrum, Oxford 2012, geschrieben.
Eine neue Ausgabe der «80 Thesen» ist gerade 2024 erschienen. Ursprünglich hatte ich 50 Thesen verfasst, in der Hoffnung, dass man sie im Geschichts- und Völkerrechtsunterricht gebrauchen würde, dass Politiker und Journalisten sie lesen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen würden. Der leider zu früh verstorbene deutsche Historiker, Andreas Hillgruber, hat die Thesen sehr gelobt und ihren pädagogischen Nutzen hervorgehoben. Auch Alfred Grosser hat sich positiv darüber geäussert. Erlauben Sie, einige meiner Thesen zu zitieren (s. Abb. 2).
Abb. 2
Alfred de Zayas: 80 Thesen zur Vertreibung
«Vertreibung und Verschleppung können auch den Tatbestand des Völkermordes erfüllen. Laut Artikels. II der Uno-Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 ist dafür entscheidend, dass die Verantwortlichen in der Absicht handeln, eine bestimmte nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder auch nur teilweise zu zerstören und in dieser Absicht vorsätzlich Mitglieder dieser Gruppen töten, ihnen unerträgliche Lebensbedingungen auferlegen oder andere Tatbestände verwirklichen, die bei Vertreibungen oft erfüllt sind. Da zumindest einer dieser Tatbestände, nämlich die Zufügung schwerer seelischer Schäden, bei jeder Vertreibung erfüllt ist, sind alle Vertreibungen, die zur zumindest teilweisen Zerstörung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe führen sollen, zugleich auch Völkermorde. Entscheidend ist hier – und das ist wichtig – die (subjektive) Zielsetzung der Zerstörung einer solchen Gruppe und nicht das (objektiv) erzielte Ergebnis, so will es nun einmal der Wortlaut dieser Konvention. Die rechtliche Schlussfolgerung ist immer wieder «kontra-intuitiv»: Vorgänge mit eher geringen Verlusten können den Tatbestand des Völkermordes erfüllen, andere, weit grausamere und verlustreichere Vorgänge hingegen nicht, weil die erwähnte Zerstörungsabsicht nicht vorliegt oder nicht belegbar ist.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrer Resolution 47/121 vom 18. Dezember 1992 die so genannten «ethnischen Säuberungen», die seinerzeit in Jugoslawien stattfanden, als Völkermord eingestuft. Diese Resolution wurde in unzähligen späteren Resolutionen bestätigt und bekräftigt.10 Auch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien hat Aspekte der dortigen «ethnischen Säuberungen» als Völkermord eingestuft, und namentlich das Massaker von Srebrenica als Genozid bezeichnet. Im Prozess Bosnien und Herzegowina vs. Jugoslawien vor dem Internationalen Gerichtshof erging am 26. Februar 2007 ein Urteil, in dem das Verbrechen des Völkermordes – etwa in Srebrenica – festgestellt wurde …
Nach dem Prinzip, ubi jus, ibi remedium, haben Flüchtlinge und Vertriebene Anspruch auf Rehabilitierung und Wiedergutmachung. Sie haben ein Recht auf Rückkehr und Eigentumsrückgabe.11 Das Abkommen von Dayton, das 1995 den Krieg in Bosnien und Herzegowina beendete, hat diese Rechte anerkannt und seitdem durch die Tätigkeit der Human Rights Chamber in Sarajevo teilweise verwirklicht. Wenn Privateigentum im Zusammenhang mit einem Verbrechen gegen die Menschheit oder einem Völkermord entzogen wurde, muss sich der Staat, dessen Bürger die Opfer sind, für Wiedergutmachung durch Rückgabe oder Entschädigung einsetzen, falls der innerstaatliche Rechtsweg nicht zur Wiedergutmachung führt. Die Ausübung des diplomatischen Schutzes ist in diesen Fällen keine Ermessensfrage.»12
Ihre Darlegungen sind klar. Es wäre ein Segen, wenn diese Thesen eine grosse Verbreitung fänden. Sehen Sie heute noch eine Chance für eine zwei Staaten-Lösung in Israel/Palästina?
Kaum mehr. Israel hat sich in die Sache so verrannt, dass nur eine Ein-Staaten-Lösung möglich ist, und zwar wie Prof. Virginia Tilley in ihrem Buch «The One State Solution», University of Michigan Press, 2005, beschrieben hat. Ich bleibe sehr pessimistisch, weil die USA und die europäischen Staaten eine Rebellion gegen das Völkerrecht betreiben, und dies könnte wohl zum Dritten Weltkrieg führen, wenn die Türkei, Irak, Iran, Saudi-Arabien und Ägypten Widerstand gegen die Politik Israels leisten wollten.
Wie kann man Trump von seinem Plan abhalten?
Die Trump-Regierung ist zionistisch und setzt sich über alle völkerrechtlichen Verbote hinweg. Man muss realistisch bleiben – Trumps Haltung zum Völkerrecht ist hegemonistisch und unmoralisch – aber sie ist, wie sie ist. Man kann dieses Faktum nicht ignorieren. Trotzdem müssen wir Trumps kriminelle Absichten unzweideutig ablehnen, auf die Strasse gehen, wie wir 1963 bis 1975 auf die Strasse gingen, um gegen den Vietnamkrieg und den Völkermord zu protestieren. Viele Studenten in Harvard, Columbia, Michigan haben protestiert, viele sind verhaftet worden. Aber man braucht eine Massenbewegung. Man braucht Menschen in den Medien, die den Völkermord eben «Völkermord» nennen, und nicht versuchen, den Genozid zu bagatellisieren. Wir brauchen Journalisten, die Widerstand leisten, Akademiker, die die Wahrheit sagen und nicht Pseudo-Geschichte und Pseudo-Recht im Dienste Washingtons betreiben. Kurz: Man braucht Demokraten, die ihre Stimme erheben und Ethik sowie Mut praktizieren.
Am 25. Februar 2024 hat sich der US-Soldat, Aaron Bushnell, vor der israelischen Botschaft in Washington verbrannt.13 Wie reagierte die Öffentlichkeit darauf?
Seine tödliche Protestaktion wurde kaum zur Kenntnis genommen, weder von Politikern noch Journalisten. Es war kein Fanal, weil die Presse eben nicht über den Völkermord an den Palästinensern und über unsere Mitverantwortung schrieben, sondern über einen «verwirrten jungen Mann». Über die Gründe seines Protestes wurde nicht diskutiert. Natürlich hätten die Medien für einen sofortigen Waffenstillstand appellieren können, für einen gerechten Frieden, aber genau das wollten sie nicht. Unsere Medienlandschaft im Westen – auch in Deutschland – ist pro-israelisch und gegen die Palästinenser, die als Jihadisten beschimpft werden. Darum gibt es heute und gab es damals keinen Aufschrei, keine Empathie für Aaron oder für die Zivilisten in Gaza. Ein Jahr danach sind weitere 40 000 Palästinenser tot, und man will die Überlebenden vertreiben. Man will ihr Land rauben – schön und leer von Palästinensern. Daraus wird eine Mittelmeer Riviera für reiche Israelis, Europäer und Amerikaner errichtet. Obszön, kriminell, unchristlich. Aber genau so sind unsere Medien und unsere Politiker. Ich habe eine katholische Messe in Erinnerung an Aaron Bushnell lesen lassen.
Vize-Präsident JD Vance übte an der Münchner Sicherheitskonferenz deutliche Kritik an der EU sowie versteckt auch an der politischen Kultur in Deutschland. Pistorius’ Reaktion erinnert an einen Hund, dem man auf dem Schwanz getreten ist. Ist Vances Einschätzung über die EU zutreffend?
Ich halte viel von Vize-Präsident Vance und sehe ihn als einen künftigen US-Präsidenten. Allerdings hat er seinen Anwalts-Titel von der Yale University – nicht von meiner Alma Mater Harvard – für uns «Harvard-Boys» ist den «Yalies» nicht zu trauen … aber im Ernst. Natürlich hat Vance recht. Die Europäer sind moralisch bankrott, und es war höchste Zeit, dass jemand den Europäern, und insbesondere den Deutschen, die Leviten liest. Die Europäer tragen eine enorme Verantwortung für die Non-Stop-Provokationen, die zum Maidan-Putsch 2014 und zum Krieg 2022 führten. Putin und Selenskyj hätten ihre Differenzen allein lösen können. Das Doppelspiel von François Holland und Angela Merkel in Minsk 2014 bis 2015 hatte Konsequenzen. Der Westen hat seine Glaubwürdigkeit verspielt, verloren. Nur die narzisstischen Europäer denken noch, dass man ihnen vertrauen sollte. Das sogenannte «Normandie Format» war nichts anderes als politische Heuchelei, um Zeit zu gewinnen. Nun sehen wir die Früchte dieser Haltung. Und nachdem der Krieg ausgebrochen war, vermittelte die Türkei vernünftig. Die Europäer und die Nato haben den Kompromiss vom März 2022 torpediert. Wahnsinn – aber keiner will die Verantwortung dafür übernehmen, dass Selenskyj im Jahr 2022 daran gehindert wurde, Frieden zu machen. Allerdings tragen wir Amerikaner noch mehr Schuld an der Katastrophe als die Europäer. Die Politik von Barack Obama, Hillary Clinton, Victoria Nuland, Joe Biden, Antony Blinken, Jake Sullivan hat uns die Tragödie beschert.
JD Vance erwähnte auch den Krieg in der Ukraine und die Friedensbemühungen von Donald Trump. Geht Trump den richtigen Weg?
Unbedingt. Ich trauere über die Hunderttausenden von Opfern dieses nutzlosen Krieges. Ich bin überzeugt, dass unter einem Präsidenten Trump 2022 kein Krieg ausgebrochen wäre. Trump hätte einen «Deal» mit Putin gemacht. Aber das ist Geschichte. Nun müssen wir dem Unsinn ein Ende setzen. Nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Nahen Osten.
Die Uno-Sub-Kommission und die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen haben 1997 und 1998 ethnische Säuberungen als illegal bezeichnet und eine Erklärung über Bevölkerungstransfers und die Sesshaftmachung von Siedlern angenommen (s. Abb. 3).14
Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
- Alfred de Zayas: Heimatrecht ist Menschenrecht. Universitas München 2001 ↩︎
- https://www.icj-cij.org/case/192 ↩︎
- https://E/CN.4/Sub-2/1997/23 ↩︎
- https://www.aljazeera.com/news/2024/1/26/who-is-julia-sebutinde-the-judge-against-all-icj-rulings-in-israels-case
https://thegrayzone.com/2025/01/24/icj-president-christian-zionist-end-times/ ↩︎ - http://www.un-documents.net/a29r3314.htm ↩︎
- https://1library.net/article/the-kampala-definition-of-the-crime-of-aggression.y6o0w85y ↩︎
- https://www.ohchr.org/en/special-procedures/sr-palestine ↩︎
- https://oe1.orf.at/programm/20250130/782957/Francesca-Albanese ↩︎
- https://www.verlag-inspiration.de/zayas-badenheuer-80-thesen-zur-vertreibung/ ↩︎
- So in No. 48/143 vom Dezember 1993, 49/205 vom Dezember 1994, 50/192 vom Dezember 1995, 51/115 vom März 1997, usw. ↩︎
- Siehe Uno-Unterkommission für Menschenrechte, Resolutionen 2002/30 und 2005/21 sowie den Schlussbericht der Unterkommission über Vertreibung und die Menschenrechte UN Doc E/CN. 4/Sub. 2/1997/23 und die Ausführungen des ersten Uno-Hochkommissars für Menschenrechte Dr. José Ayala Lasso vom 28. Mai 1995 in Frankfurt am Main und 6. August 2005 in Berlin. International Commission of Jurists, The Right to a Remedy and to Reparation for gross Human Rights Violations, Genf 2006. Siehe auch die Uno-Restitutionsprinzipien: Pinheiro Principles on Restitution http://domino.un.org/pdfs/ ocha_pinheiro_principles.pdf. ↩︎
- Eckart Klein: Diplomatischer Schutz im Hinblick auf Konfiskationen deutschen Vermögens durch Polen, Bonn 1992.
Dieter Blumenwitz: Das Offenhalten der Vermögensfrage in den deutsch-polnischen Beziehungen, Bonn 1992. ↩︎ - https://www.counterpunch.org/2024/02/27/us-airman-aaron-bushnells-self-immolation-outside-the-israeli-embassy-in-washington-d-c/ ↩︎
- https://E/CN.4/Sub-2/1997/23 ↩︎