von Thomas Kaiser
Nach einem Bericht der Organisation «Save the Children» «gab es seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie so viele bewaffnete Konflikte wie heute.» Insgesamt sind es über neunzig. Statistisch betrachtet ist jedes zweite Land der Erde in einen Konflikt verwickelt. Der Bericht hält fest, dass 437 Millionen Kinder in Kriegsgebieten leben, doppelt so viele wie vor 30 Jahren. Das sind 19 Prozent aller Kinder.1
Das sind Kinder, die kein geregeltes Leben haben, ständig an Leib und Leben bedroht sind, selten in die Schule gehen können, in prekären Umständen aufwachsen, in vielen Fällen getrennt von ihren Eltern, und das alles ohne Aussicht auf Besserung. Das sieht man aktuell in Gaza, im Jemen oder im Kongo. Die Menschen erfrieren, sind von jeglicher medizinischen Versorgung abgeschnitten und haben kaum noch Nahrung. Eine langfristige Veränderung der Lage ist nicht in Sicht, auch wenn zum Beispiel Tausende von Palästinensern aus der Trümmerwüste des Südens in die Trümmerwüste des Nordens strömen, zurück zu ihren Häusern, die sie hatten verlassen müssen, bevor Israel diese in Schutt und Asche legte. Es ist ein traumatisches Erlebnis, kein Obdach mehr zu haben. Wo das eigene Haus gestanden ist, erhebt sich nur ein Schutthaufen. Warum nehmen wir das alles hin?
Kriegstreiber zeigen sich irritiert
Jeder Krieg hinterlässt schwerste physische, psychische und materielle Schäden. Das Elend auf beiden Seiten ist riesig, Menschen, die um ihre Angehörigen trauern, die sie unwiederbringlich verloren haben, Verletzte, die ihr Leben mit schwersten körperlichen Beeinträchtigungen bewältigen müssen, beschädigte Seelen, die sich kaum von den Eindrücken erholen können. Das alles hätte nicht sein müssen, wenn sich die beteiligten Regierungen auf eine friedliche Lösung des heraufziehenden Konflikts geeinigt hätten. Das gilt für viele Kriege, auch für den Ukraine-Krieg. Man war so nahe an einer diplomatischen Lösung, doch ein Teil der europäischen Regierungen wollte Krieg. Donald Trump favorisiert aktuell eine diplomatische Lösung zur Beendigung des Ukraine-Kriegs. Damit entsteht eine neue Dynamik. Die europäischen Kriegstreiber zeigen sich irritiert und wollen den Krieg weiterführen. Selenskyj fordert eine europäische Armee, die den Kampf ohne USA weiterführen soll. Wozu einen Krieg weiterführen, der für die Ukraine schon längst verlorenen ist und nur die Zahl der Toten erhöht? Wieso kann sich die Menschheit, wie es in der Präambel der Uno-Charta heisst, nicht «von der Geisel des Kriegs» befreien?
Warum gelingt es in vielen Fällen (nicht in allen) nicht – in der Regel sind es eine Handvoll Menschen, die über Krieg und Frieden entscheiden – einen friedlichen Weg der Konfliktlösung zu beschreiten? Damit die Bevölkerung einen Krieg unterstützt, und sich als Kanonenfutter zur Verfügung stellt – denn es sind auf keinen Fall die politisch Verantwortlichen, die in den Kampf ziehen – muss eine entsprechende Stimmung erzeugt und ein Fall konstruiert werden, der den Krieg als etwas Unausweichliches, ja nahezu Willkommenes darstellt. Geht man zurück in die Geschichte, erkennt man Parallelen zu heutigen Konflikten. Die Muster, wie Menschen in den Krieg getrieben werden, zeigen nur geringfügige Unterschiede, selbst wenn man Jahrhunderte zurückblickt.
Ehrgeiz und Dummheit
Die Kriegsstimmung, die Wilhelm II. mit seinem historischen Satz: «Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!» anheizte, wurde mit Hurra-Gebrüll bestätigt. Fern jeglicher Realität werden die Menschen mit Euphemismen und organisierten Lügen in den Tod getrieben: Wir sind stärker, der Gegner ist schwach, wir sind die Guten, die Gegner Barbaren, Untermenschen und so weiter. Entsprechende Stereotypen lassen sich schnell finden und verbreiten. Der Gegner wird immer als Aggressor dargestellt, damit wird man zum Opfer eines Angriffs: «Uns treibt nicht Eroberungslust, uns beseelt der unbeugsame Wille, den Platz zu bewahren, auf den uns Gott gestellt hat, für uns und alle kommenden Geschlechter. Aus den Schriftstücken, die Ihnen zugegangen sind, werden Sie ersehen, wie meine Regierung und vor allem mein Kanzler bis zum letzten Augenblick bemüht waren, das Äusserste abzuwenden. In aufgedrungener Notwehr, mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert.»2 So erklärte sich Wilhelm II. im August 1914 vor dem deutschen Reichstag und rief zur Unterstützung des Krieges auf, der mehr als vier Jahre währte und nahezu zwanzig Millionen Tote zählte.
Der Philosoph Erasmus von Rotterdam (1466 bis 1536) entlarvte bereits vor 500 Jahren in seiner Schrift, «Klage des Friedens» diese Strategie: «Sie jammern, sie würden dazu gezwungen und gegen ihren Willen in den Krieg geschleppt. Reiss deine Maske runter, wirf die Schminken fort, befrage dein eigenes Herz und du wirst entdecken, dass Zorn, Ehrgeiz und Dummheit dich dazu verlockt haben und nicht die Notwendigkeit, es sei denn, du siehst die restlose Befriedigung all deiner Begierden als Notwendigkeit an.»3 Begierden wie Gier nach Macht, Geld und Ruhm.
Respekt vor dem Krieg geht verloren
Eine über Jahrzehnte gezüchtete Kriegsmentalität begann bereits in der Kinderstube. Kinderbilder während der deutschen Kaiserzeit legen ein beredtes Zeugnis davon ab. Die Kleinen konnten kaum laufen, waren aber bereits mit Stiefelchen, Säbelchen, Gewehrchen und Pickelhaube ausstaffiert, so wie sie später im Erwachsenenalter die Schützengräben säumten. «Robert [ … ] war selig im Dienen, selig in seinem Sohne, besass hundert Photographien von ihm, hatte die Kinderkleidchen aufgehoben, das Spielzeug: die Säbelchen, die Gewehrchen, die Bleisoldaten. Das Mützchen, auf dem stand ‹S.M.S. Hohenzollern›. Der Sohn war zwanzig Jahre alt. Er bekam die Einberufung an einem Dienstag, bekam ein halbes Jahr später das Eiserne Kreuz. Und im Sommer 1916 bekam Robert die Nachricht, dass sein Sohn gefallen war. Auf dem Felde der Ehre. Eine Welt war erschlagen».4 Leonhard Frank beschreibt in seinem 1918 erschienenen Werk «Der Mensch ist gut» diese Szene. Das ganze Buch ist ein flammendes Plädoyer für die Vernunft, den Frieden und gegen den Krieg, verfasst vor mehr als hundert Jahren.
Man ist erschüttert, auf welchem Niveau die Menschheit stehengeblieben ist. Ein Grund dafür ist, dass in Europa das Elend, das die Kriege hinterlassen haben, immer mehr in Vergessenheit gerät. Von der Generation, die den Zweiten Weltkrieg bewusst miterlebt hat, ist kaum noch jemand am Leben. Die nachfolgende Generation weiss vielleicht aus den Erzählungen ihrer Väter oder Grossväter, was Krieg bedeutet hat, doch mit jeder nachfolgenden Generation geht der Respekt vor dem Krieg immer mehr verloren.
Heute spielen Kinder und Jugendliche zu Hause immer noch Krieg, am Bildschirm im Kinderzimmer. Säbelchen und Gewehrchen werden durch virtuelle Waffen ersetzt. Es soll ein Spiel sein, aber man tötet virtuelle Menschen. Kriegsspiele, deren Figuren kaum von realen Menschen zu unterscheiden sind, lehren die Spieler das Töten. Es gibt Punkte für jeden Gegner, den man abknallt. Ein Ranking, das perverser nicht sein kann. Es ist die Vorbereitung auf den Krieg: Unter anderem lernen sie Häuserkampf, werden zum Drohnenpiloten ausgebildet, der im realen Krieg wie zu Hause gemütlich in seinem Sessel sitzt, über eine Kamera den Gegner Hunderte von Kilometern entfernt aufspürt und tötet, ohne je in Berührung mit dem Feind gekommen zu sein. Man nimmt ihn nicht mehr als Menschen aus Fleisch und Blut wahr, sondern wie im «Ballerspiel» als virtuelle Figur.
Den Menschen zum Frieden erziehen …
Bertha von Suttner hat in ihrem aufrüttelnden Antikriegsroman, «Die Waffen nieder» schon vor 130 Jahren versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum der Mensch so weit gebracht wird, sogar mit Begeisterung in den Krieg zu ziehen und sein Leben zu opfern «für sein Vaterland», was ihm das Sterben «versüssen» soll: «Gibt es denn einen schöneren Tod als den auf dem Felde der Ehre – eine edlere Unsterblichkeit als die des Helden? Das alles geht klar und einhellig aus allen Lehr- und Lesebüchern ‹für den Schulgebrauch› hervor, wo nebst der eigentlichen Geschichte, die nur als eine lange Kette von Kriegsereignissen dargestellt wird, auch die verschiedenen Erzählungen und Gedichte immer nur von heldenmütigen Waffentaten zu berichten wissen. Das gehört so zum patriotischen Erziehungssystem. Da aus jedem Schüler ein Vaterlandsverteidiger herangebildet werden soll, so muss doch schon des Kindes Begeisterung für diese seine erste Bürgerpflicht geweckt werden, man muss seinen Geist abhärten gegen die natürliche Abscheu, den der Schrecken des Krieges hervorrufen könnte [ … ]. Die Mädchen, die zwar nicht ins Feld ziehen sollen, werden aus denselben Büchern unterrichtet, die auf die Soldatenzüchtung der Knaben angelegt sind, und so entsteht bei der weiblichen Jugend dieselbe Auffassung, die sich in Neid, nicht mittun zu dürfen, und in Bewunderung für den Militärstand auflöst … alles, was in die Rubrik Krieg gehört, wird nicht mehr vom Standpunkt der Menschlichkeit betrachtet – und erhält eine ganz besondere mystisch-historisch-politische Weihe.»5 Es wäre heute wie damals Aufgabe der Eltern, der Schule, des Staats, die Kinder bewusst zum Frieden zu erziehen, die friedliche Konfliktlösung zu lehren, die Mitmenschlichkeit zu fördern. Wenn der Mensch zum Krieg erzogen werden kann, dann kann man ihn auch zum Frieden erziehen.
… gegen die Kriegstreiberei
Sowohl Bertha von Suttner als auch Leonhard Frank fanden in der Erziehung und der Bildung eine Ursache für die Kriegsbegeisterung. Die Verherrlichung des Militärs und des Kriegs widerspiegelte die Stimmung, die in den Ländern, Frankreich, Grossbritannien, Russland, Deutschland, Italien und anderen vor dem Ersten Weltkrieg herrschte. Es war eine Kriegshysterie und -euphorie, wie sie auch im Ukraine-Krieg zu beobachten ist. Wenn sich in der Politik der USA der Wind dreht, sind alle Kriegstreiber der ersten Stunde wie die Baerbocks, Merzens, Macrons, Starmers oder wie sie alle heissen, völlig konsterniert. Vielleicht meldet sich ihr Gewissen, wenn sie realisieren, was sie in der Ukraine angerichtet haben.
Die Emotionalisierung des Krieges führt zu einer fatalen Verkennung der Wirklichkeit. Die eine Seite träumt mit Überheblichkeit vom grossen Sieg über den Gegner, der zwar völlig überlegen ist, und glaubt am Schluss noch selbst daran. Die Opfer auf dem Weg zum vermeintlichen Sieg sind einkalkuliert und unvermeidlich. Das hat sich über die Jahre hinweg nicht verändert. Vielleicht ist es nicht mehr das Vaterland, wofür man in den Krieg zieht. Aber auch gestern wie heute kann Krieg niemals zum Wohl des Einzelnen geführt werden. Wie soll er auch, Krieg ist für Mensch und Natur verheerend, aber im Ukraine-Krieg, so wird uns von Medien und Politik ständig eingehämmert, gehe es um die westlichen Werte, die Demokratie, die Freiheit, die regelbasierte Ordnung, um zu verhindern, dass Russland gewinnt. Welche Bedeutung hat das Leben des Einzelnen, wenn es um Höheres geht? «Darum ist das Wichtigste und Höchste, was jeder Einzelne erstreben muss und wofür er jederzeit gerne sterben soll, die Existenz, die Grösse, die Wohlfahrt des Reichs.»6
Die Realität des «Heldentums»
Wie sich die Realität, das Sterben für «etwas Höheres» oder «der Weg zum Kriegerdenkmal», tatsächlich darstellt, eröffnen uns Geschichtsbücher, Dokumentationen, Filme, Autobiographien oder autobiografische Romane, meist verfasst von Überlebenden des Kriegs, häufig um die eigenen traumatischen Ereignisse zu verarbeiten und der Nachwelt zur Warnung. Der Leser sieht sich mit ungeschminkter Berichterstattung konfrontiert, die nur schwer zu ertragen ist, aber für Soldaten das tägliche Brot bedeuten.
Erasmus von Rotterdam klagte die Menschen an, die den Frieden ignorierten: «Wenn mich [den Frieden] die wilden Tiere auf diese Weise verschmähten, nähme ich es leichter hin und schriebe die mir zugefügte Schmach der Natur zu, die ihnen ein grausames Wesen eingepflanzt hat; wenn ich stummem Vieh verhasst wäre, würde ich es seiner Unwissenheit zugutehalten, weil ihm jene Geisteskraft versagt ist, die alleine meine trefflichen Eigenschaften erkennen kann. [ … ] Die Natur brachte ein einziges Lebewesen hervor, das mit Vernunft begabt und für den göttlichen Geist empfänglich ist, sie erschuf ein einzig Wesen, das zu Wohlwollen und Eintracht fähig ist – und dennoch: Bei den grausamsten Bestien und beim noch so stumpfsinnigen Vieh fände ich wohl eher Platz als bei den Menschen.»7 Soll sich das tatsächlich nach 500 Jahren immer noch bestätigen?
Moralisches Empfinden auf den Kopf gestellt
Der Krieg verschüttet unser Mitgefühl, unser Gewissen sowie die menschlichen Werte, die unser ethisches Empfinden bestimmen: Anstand, Würde gegenüber den anderen, Menschlichkeit und Respekt vor dem Leben und vor den Toten. Er führt in den Köpfen der Soldaten zu einer völligen Umkehrung menschlicher Grundwerte: «Du sollst nicht töten», «Du sollst nicht stehlen» und so weiter sind kein Tabu mehr, wie wir das in allen Kriegen mit Ernüchterung feststellen müssen: «‹Nur im Krieg, lieber Tilling,› sagte mein Vater, ‹nur im Krieg, im Privatleben haben wir Gott sei Dank, auch weiche Herzen. Ja, ich weiss: Das ist so eine Art Verzauberung. Nach der Kriegserklärung heisst es plötzlich von allen Schrecknissen: Es gilt nicht [ … ]. Im Kriegsspiel herrschen auch solche unausgesprochene Übereinkommen: Totschlag gilt nicht mehr als Totschlag, Raub ist nicht Raub – sondern Requisition, brennende Dörfer stellen keine Brandunglücke, sondern ‹genommene Positionen› vor.»8 Was im zivilen Leben undenkbar ist und selbstverständlich bestraft wird, wird im Krieg belohnt: möglichst viele Gegner zu töten.
Welchen Schmerz durchleiden die Hinterbliebenen? «Man kann das nicht niederschreiben. Diese bebende, schluchzende Frau, die mich schüttelt und anschreit: ‹Weshalb lebst Du denn, wenn er tot ist›, die mich mit Tränen überströmt und ruft: ‹Warum seid ihr überhaupt da, Kinder wie ihr – ›, die in einen Stuhl sinkt und weint. ‹Hast du ihn gesehen? Hast du ihn noch gesehen? Wie starb er?› Ich sage ihr, dass er einen Schuss ins Herz erhalten hat und gleich tot war.»9 Tatsächlich mussten ihm beide Beine amputiert werden, ohne Betäubung, bevor er schliesslich qualvoll starb. Und wie soll dieser leidenden Mutter Trost gespendet werden? Mit dem «Feld der Ehre»?
Mistress Brown, your son is dead
In Abwesenheit jeglicher Empathie und Mitgefühl erfahren Eltern vom Tod ihrer Kinder. Jimmy Cliff hat in seinem Lied «Vietnam» diese Empfindungslosigkeit musikalisch ausgedrückt:
«It was just the next day his mother got a telegram; it was addressed from Vietnam; now mistress Brown, she lives in the USA; and this is what she wrote and said: Don’t be alarmed, she told me the telegram said; but mistress Brown, your son is dead».
Damit «Die Begeisterung, sein Leben für eine höhere Sache zu opfern», die sonst friedlichen Gemüter der Menschen erfasst, braucht es neben den «Säbelchen und Gewehrchen» in der Kinderstube auch noch gezielte Manipulation und Propaganda. Leider spielen unsere Medien eine himmeltraurige Rolle. So einfach lassen sich die Menschen nicht in den Krieg treiben, auch wenn durch Erziehung und Schule ein Nährboden dafür geschaffen wurde. Die Propaganda spielt eine wichtige Rolle, die im Grunde genommen völlig simpel ist. Anne Morelli hat das in ihrer Analyse «Die Prinzipien der Kriegspropaganda» klar dargelegt.10 Die unsinnige Auffassung, Krieg gehöre nun einmal zum Menschen, lähmt den Widerstand. Der Krieg der Guten wird immer aus «edlen Motiven und hehren Zielen» geführt. Der Gegner wird immer entmenschlicht, zum Monster stilisiert, der nicht mehr als Mensch betrachtet werden muss. «Yoav Gallant, der israelische Kriegsminister, gab bekannt, dass er eine ‹komplette Belagerung› des Gaza-Streifens angeordnet habe. Wir kämpfen gegen ‹menschliche Tiere›.» 11
Im Ersten Weltkrieg waren die Linken der SPD (USPD) überzeugt, dass die deutschen Soldaten nicht gegen die französischen in den Krieg ziehen würden. Doch kaum hat der Kaiser seine erwähnte Rede gehalten, übertönte das nationalistische Kriegsgeheul die Friedensformel, die den Krieg hätte verhindern können: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch.»
Bertha von Suttner nimmt Morellis Thesen vorweg, bereits vor 150 Jahren: «Schlechte Eigenschaften, als da sind: Eroberungsgier, Rauflust, Hass, Grausamkeit, Tücke – werden wohl auch als vorhanden und als im Kriege sich offenbarend zugegeben, aber allemal nur beim ‹Feind›. Dessen Schlechtigkeit liegt am Tage. Ganz abgesehen von der politischen Unvermeidlichkeit des eben unternommenen Feldzugs sowie abgesehen von den daraus unzweifelhaft erwachsenen patriotischen Vorteilen, ist die Besiegung des Gegners ein moralisches Werk, eine vom Genius der Kultur ausgeführte Züchtigung.»12
Historischer Hintergrund war die Schlacht von Solferino, bei der die Franzosen zusammen mit dem Königreich Piemont-Sardinien im Ringen um die Herrschaft über Venetien und die Lombardei mit Österreich im Krieg lagen. Als der Kampf beendet war, blieben Tausende von Gefallenen und Verwundeten unversorgt und ohne medizinische Hilfe auf dem Schlachtfeld zurück.
Wenn die Menschlichkeit obsiegt
Henry Dunant war zufällig Zeuge dieser Schlacht, die ihn zutiefst erschütterte. Er hat sich, berührt vom Schicksal der Menschen, ohne Zögern um das Los der verletzten Soldaten gekümmert, selbstlos und aus menschlichem Mitgefühl, was den Grundstein zum weltweit grössten Hilfswerk legte. Seine Geschäfte, die er beabsichtige, liess er fallen. Seine Ausstrahlung führte dazu, dass immer mehr Menschen aus der näheren Umgebung des Schlachtfelds Hilfe anboten und bei der Pflege der Verwundeten und Sterbenden mithalfen. Ungeachtet dessen, welchen Rock sie trugen. «Tutti fratelli», war Henry Dunants tief verwurzelte Überzeugung, die sich auf die selbstlos Helfenden übertrug. «Obgleich jedes Haus zu einer Pflegestätte geworden ist und jede Familie genug zu tun hat, um die Offiziere zu versorgen, die sie aufgenommen hat, gelingt es mir doch vom Sonntagvormittag an eine Anzahl von Frauen aus dem Volke zusammenzubringen, die ihr möglichstes tun, den Verwundeten behilflich zu sein [ … ]. Die Frauen gehen im Kirchenschiff von einem zum anderen mit Krügen und Eimern voll klaren Wassers, um den Durst zu löschen und die Wunden zu befeuchten. Einige dieser behelfsmässigen Krankenschwestern sind schöne, anmutige junge Mädchen. Ihre Sanftmut, ihre Güte, ihre tränenvollen mitleidigen Blicke wie ihre aufmerksame Pflege tragen dazu bei, die Zuversicht und den Mut der Kranken wieder zu heben.»13
«Der Soldat lehnt an der Brüstung. Seine Knie zitterten. Jede Bewegung des feindlichen Offiziers tat ihm weh. Er fühlte den Schmerz in der Hüfte des anderen. Er hätte schreien mögen. Ohne den Blick vom fremden Gesicht zu lassen, griff er nach dem Karabiner. Da schlug der Russe langsam die Augen auf, und der Soldat wusste, dass er es nicht tun würde. Die Augen des anderen blickten erstaunt, sie schienen nichts zu begreifen.
Der Soldat liess das Gewehr sinken und lehnte es an die Böschung zurück. Er kniete nieder und strich dem Verwundeten über die Hand. Im Nebel hämmerte immer noch das Maschinengewehr. Der Soldat schob den Arm unter den Kopf des Russen, umschlang seine Knie und hob ihn auf. Torkelnd schleppte er sich mit seiner Last durch den Graben zum Maschinengewehr.»14
Wenn der Mensch aus dem Kriegswahn erwacht, wird er zum Menschen und sein Mitgefühl regt sich: «Alle diese Toten sind Menschen, alle diese Toten haben geatmet wie ich, alle diese Toten hatten einen Vater, eine Mutter, Frauen, die sie lieben, ein Stück Land, in dem sie wurzelten, Gesichter, die ihnen Freuden und Leiden sagten, Augen, die das Licht sahen und den Himmel. In dieser Stunde weiss ich, dass ich blind war, weil ich mich geblendet hatte, in dieser Stunde weiss ich endlich, dass alle diese Toten, Franzosen und Deutsche, Brüder waren und dass ich ihr Bruder bin.»15
Die Worte von Papst Franziskus, «Krieg ist immer eine Niederlage der Menschheit», sind allgemeingültig und eine Aufforderung an die Verantwortlichen, innezuhalten und nachzudenken. Wenn es eine Niederlage der Menschheit ist, dann impliziert es menschliches Versagen. Das nährt aber auch die Hoffnung, dass die Menschheit in der Lage wäre, Kriege erfolgreich zu verhindern und den «Kriegslüsternen» eine Absage zu erteilen. Das wäre dann der Sieg der Menschheit und mit ihr der Menschlichkeit. Es bräuchte nur den politischen Willen.
Es braucht neutrale Vermittler
Den Dialog zu verweigern, um die bestehenden Probleme zu lösen und den diplomatischen Weg zu beschreiben, ist wider jegliche Vernunft und trägt nicht zum Frieden bei, im Gegenteil, wie uns die aktuelle Situation in der Ukraine zeigt oder der seit über 80 Jahren bestehende Konflikt im Nahen Osten. Gerade Menschlichkeit und Vernunft sind zwingend nötig, um zu Kompromissen und dadurch zu dauerhaften Lösungen zu kommen. Das ist keine neue Weisheit, sondern eine Erfahrung, die in den meisten Fällen zum Erfolg geführt hatte. Ein neutraler Staat könnte hier seine Fähigkeiten einsetzen, in dem er Verhandlungen anbietet und eine Vermittlerrolle einnimmt, wenn er nicht durch Anbiederung an die vermeintlich Mächtigen seine Neutralität verspielt hat. Die Schweiz hätte zum Frieden aufrufen und damit ihre Stimme gegen den Krieg erheben können. Der Bundesrat stellte sich den Kriegshetzern nicht in den Weg. Im Gegenteil, Ignazio Cassis heulte mit den Wölfen.
Wenn die Menschen sich mit all ihren Schwächen zusammenraufen und den Frieden als ihr Ideal anstreben, anstatt weiterhin Milliarden für die Rüstung auszugeben und damit den Krieg zu befeuern, dann können die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts tatsächlich als Zeitenwende in die Geschichtsbücher eingehen. Das mag vielleicht unrealistisch klingen, doch welche andere Möglichkeit steht uns offen? Solche Szenen wie die nachfolgende kennten wir dann nur noch aus der Geschichtsliteratur.
«Schon lag ich an seiner Brust. Reden konnte ich nicht. Das Wort Lebewohl wollte nicht über die Lippen – ich fühlte, dass ich bei der Äusserung des Wortes zusammenbrechen musste. [ … ] Nunmehr sprach er es, das herzzerreissende Wort: ‹Leb’ wohl mein Alles, leb’ wohl› und drückte innig seinen Mund auf den meinen. Wir konnten uns aus dieser Umarmung gar nicht losreissen – war es doch die letzte. Da plötzlich fühlte ich, wie seine Lippen beben, seine Brust sich krampfhaft hebt … und … mich freilassend, bedeckt er sein Gesicht mit beiden Händen und schluchzte laut auf. Das war zu viel für mich, ich glaubte, wahnsinnig zu werden.
‹Arno, Arno›, rief ich ihn umklammernd: ‹Bleib, bleib!› Ich wusste, dass ich Unmögliches verlangte, doch rief ich hartnäckig: ‹Bleib, bleib!›
‹Herr Oberleutnant›, kam es von draussen, ‹schon höchste Zeit›. Noch einen Kuss – den allerletzten – und er stürzte hinaus.»16
- savethechildren.ch/wp-content/uploads/2024/11/20241031_MM_SWOC-Report_de.pdf ↩︎
- Reichstagsprotokolle August 1914 ↩︎
- Erasmus von Rotterdam: Klage des Friedens. Berlin 2024, S. 58 ↩︎
- Leonhard Frank: Der Mensch ist gut. Zürich 1918, S. 8f ↩︎
- Bertha von Suttner: Die Waffen nieder. Volksausgabe, S. 4f ↩︎
- Bertha von Suttner: die Waffen nieder. Volksausgabe, S. 28 ↩︎
- Erasmus von Rotterdam: Klage des Friedens. Berlin 2024, S. 15 ↩︎
- Bertha von Suttner: Die Waffen nieder. Volksausgabe, S. 67 ↩︎
- Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Köln 1998, S. 128 ↩︎
- Anne Morelli: Die Prinzipien der Kriegspropaganda. Springe 2014 ↩︎
- www.puls24.at/news/politik/menschliche-tiere-israel-kuendigt-komplette-belagerung-von-gaza-an/310043 ↩︎
- Bertha von Suttner: Die Waffen nieder. Volksausgabe, S. 17 ↩︎
- Henry Dunant: Eine Erinnerung an Solferino. Bern 1988, S. 38f ↩︎
- Gert Ledig: Die Stalinorgel. Frankfurt a. M. 2003, S. 75 ↩︎
- Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Hamburg 1963, S. 52 ↩︎
- Bertha von Suttner: Die Waffen nieder. Volksausgabe, S. 19f ↩︎