«Widerspruch einlegen, wo unsere Grundrechte in Gefahr sind»


Interview mit Jürg Vollenweider, dem ehemaligen Leitenden Staatsanwalt im Kanton Zürich*

Zeitgeschehen im Fokus Was muss sich der Laie unter den Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) vorstellen?
Jürg Vollenweider Bei den IGV handelt es sich um eine technische Regelung über «sanitäre und Quarantänemassnahmen und andere Vorkehren zur Verhinderung der Ausbreitung von Krankheiten von einem Land ins andere» im Sinne von Artikel 21 der WHO-Verfassung. Dieses Regelwerk wurde erstmals 1951 unter dem Titel «Internationales Sanitätsreglement» erlassen und bei der Revision 2005 in Internationale Gesundheitsvorschriften (IGV) umbenannt. Es geht darum, wie man mit möglichen grenzüberschreitenden Gefahren durch Krankheiten verfahren will, wie sich die Staaten austauschen können und so weiter. Es handelt sich um Standards, die darin festgehalten sind. Während es bei dem Pandemieabkommen, das bis heute nicht zustande gekommen ist, darum geht, eine Art Rahmenabkommen zu vereinbaren.

Warum rufen die IGV bei Experten, zum Beispiel bei Ihnen, grosses Unbehagen hervor?
Es gibt verschiedene Gründe, die das Unbehagen bestimmen. Zunächst mache ich, wie auch andere kritische Menschen, mehrere formale Rechtsbrüche bei der Revision der IGV aus. Zum einen gibt es eine Vorschrift in Artikel 55 Abs. 2 IGV, die verlangt, dass jeder Änderungsvorschlag im Wortlaut mindestens vier Monate, bevor er an der Weltgesundheitsversammlung (WHA) zur Beratung gelangen soll, vom Generaldirektor den Vertragsstaaten kommuniziert werden muss. Diese Vorschrift wurde mehrfach gebrochen. Es lag lange Zeit lediglich eine Entwurfsversion aus dem Jahre 2022 mit zahlreichen Änderungsvorschlägen vor, insgesamt 308 an der Zahl. Die WHO hat sich auf den Standpunkt gestellt, sie habe mit der Übermittlung vom 16. November 2022 ihrer Notifikationspflicht Genüge getan. Es wurden aber nach dem 27. Januar 2024, also weniger als vier Monate vor Beginn der WHA, zahlreiche völlig neue Änderungsvorschläge eingebracht, und zwar bis zur letzten Minute. Das halte ich für einen klaren Bruch der genannten Fristvorschrift.
Zum andern wurden einige Verfahrensregeln der WHO selbst (Rules of procedure) verletzt, die in einem demokratischen Gemeinwesen völlig selbstverständlich sein sollten, zum Beispiel, dass mindestens 24 Stunden vor der Abstimmung dem Plenum ein schriftlicher Bericht der vorbereitenden Kommission mit Antrag vorzulegen ist. Da jeder Mitgliedsstaat eine Stimme hat, muss das Quorum festgestellt werden, damit anschliessend mit Handzeichen, allenfalls elektronisch oder geheim, abgestimmt werden kann. Eine Abstimmung «im Konsens» ist in diesen prozeduralen Regeln nicht vorgesehen, und auf diese Weise, «im Konsens», wurden die IGV-Änderungen einfach durchgewunken. Die Delegierten standen unter einem enormen Druck, man wollte die Änderungen noch am späten Abend unbedingt unter Dach und Fach bringen. Man fügte wohl auch Dinge aus dem gescheiterten Pandemieabkommen in die IGV ein, zum Beispiel den Begriff der «Risikokommunikation».

Worum geht es hierbei?
Dieser Begriff war auch in Artikel 18 des Entwurfs für ein Pandemieabkommen vorgesehen und wurde erstmals am 17. April 2024 in den Entwurf der IGV eingeführt. Dabei geht es um nichts anderes als um die Bekämpfung von «Fehlinformation und Desinformation», was auch immer das bedeuten mag. Der Entwurf des Artikels 44 IGV wurde nach hinten in einen Annex verschoben und mit dem Begriff «Risikokommunikation» versehen. Das ist ein wesentlicher Kritikpunkt, nämlich die erwähnte Bekämpfung, die zuletzt in «Behandlung» («addressing») von angeblicher Fehl- und Desinformation umbenannt wurde.

Sie haben jetzt vor allem juristische und verfahrenstechnisch fragwürdige Punkte erwähnt. Wahrscheinlich gibt es auch inhaltliche Aspekte, die fragwürdig sind.
Es sind grob gesagt fünf Punkte dieser revidierten IGV, an denen ich Anstoss nehme.
Zum einen gibt es eine neue Definition, denn nebst der gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite gibt es jetzt eine Steigerungsform: Die «pandemische Notlage». Das ist ein völlig neuer Begriff, der erstmals im April 2024 eingebracht worden ist. Das ist ein vager Begriff. Ein angeblich erhöhtes Risiko soll genügen, dem Generaldirektor die Möglichkeit zu geben, auch gegen den Rat seines Notfallausschusses und bar jedweder wissenschaftlichen Evidenz, die pandemische Notlage auszurufen – noch schneller und schärfer als bisher.
Ein weiterer Punkt ist die Definitionshoheit, die die WHO über die sogenannten relevanten Gesundheitsprodukte erhalten soll. Dazu gehören insbesondere Impfstoffe und gen- und zellbasierte Therapien sowie andere Gesundheitstechnologien, die von der WHO als Standard definiert werden können. Zusätzlich gibt es eine Verpflichtung der Staaten, Massenproduktion, Finanzierung und Verteilung solcher Produkte zu fördern, und zwar unabhängig davon, ob sie in einem ordentlichen Zulassungsverfahren genau geprüft wurden oder nicht. Die hohen Anforderungen an die Zulassung solcher Medikamente werden weitgehend ausgehebelt, und dies soll unter Einbezug «relevanter Akteure» geschehen. Wenn wir wissen, wie die WHO finanziert wird, insbesondere aus der Ecke der Pharmaindustrie, dann kann man sich vorstellen, wer mit diesen Akteuren gemeint sein soll.
Neu soll eine nationale IGV-Behörde zusätzlich zu einer bereits bestehenden nationalen IGV-Anlaufstelle geschaffen werden, um die Umsetzung der IGV zu koordinieren. Eine Aufgabe dieser nationalen IGV-Behörde sehe ich auch in der Umsetzung der Massnahmen gegen Fehl- und Desinformation, wie sie in Annex 1 der IGV definiert worden sind. Der zentrale Kritikpunkt ist, dass damit Kernkapazitäten geschaffen, ausgebaut und unterhalten werden sollen unter anderem zur Risikokommunikation, also zur Behandlung von Fehl- und Desinformation. Das ist aus meiner Sicht nichts anderes als eine Zensur von abweichenden Meinungen im Sinne der Bekämpfung der sogenannten «Infodemie».

Was ist denn das?
Die WHO hat auf ihrer Homepage definiert, was man darunter verstehen soll, nämlich unter anderem ein «Zuviel an Informationen, einschliesslich falscher und irrführender Informationen». Solche Begriffsbestimmungen zur Bekämpfung von angeblicher Fehl- und Desinformation ziehen sich wie ein roter Faden durch die gegenwärtige Gesetzgebung und bereiten den Boden für weitere solche Bestimmungen. Ich nenne hier den Digital Services Act (DSA), der in der EU seit dem 17. Februar 2024 in Kraft ist. Er verlangt, dass grosse Onlineplattformen nicht nur «rechtswidrige», sondern auch «anderweitig schädliche» Informationen löschen müssen. Etwas Ähnliches haben wir im Uno-Zukunftspakt. Darin heisst es, man müsse dringend vorgehen gegen alle Formen von Hassreden und Diskriminierung «sowie Fehl- und Desinformation». Wenn wir solche Dinge sehen, dann müssen wir feststellen, die WHO bekommt die Deutungshoheit, zu sagen, was falsch oder richtig ist. Dazu gibt es auch bereits ein Urteil in Deutschland, welches im Ergebnis Folgendes bedeutet: Wenn die WHO sagt, das ist falsch oder das ist richtig, dann gilt das. Wenn jemand etwas anderes behauptet, dann muss es im Internet gelöscht und darf nicht weiterverbreitet werden.

Muss man sich dem unterwerfen?
Diese Verpflichtung zur Informationskontrolle, also zur Behandlung von sogenannter Fehl- oder Desinformation – das ist der zentrale Punkt – ist eine einschneidende völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung. Völkerrechtliche Verträge stehen nach unserer Bundesverfassung auf Gesetzesstufe, sind also rechtlich bindend und nach Treu und Glauben zu erfüllen, so auch Artikel 26 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge. Dazu gibt es ein kritisches Gutachten, welches die Verpflichtung zur Informationskontrolle klar als einen möglichen Eingriff in die Meinungs- und Medienfreiheit sieht, was ohne gesetzliche Grundlage nicht umsetzbar ist. Es ist mir völlig unverständlich, wie der Bundesrat in seiner Vernehmlassungsvorlage – er hat zu diesen IGV eine Vernehmlassung lanciert, die noch bis zum 27. Februar 2025 lief – schreibt, es sei keine Gesetzesänderung notwendig, um die Anpassungen in der Schweiz umzusetzen. Es ist mir schleierhaft, wie man so etwas sagen kann bei einer Verpflichtung, die den Schweizer Staat trifft, nämlich Fehl- und Desinformation zu behandeln, sprich zu bekämpfen. Ich sehe es auch nicht ein, wenn der Bundesrat behauptet, das Bundesamt für Gesundheit (BAG) könne die Aufgaben der neuen nationalen IGV-Behörde auch gleich übernehmen, also die ganzen Durchsetzungs- und Koordinationsmassnahmen. Nach Meinung des Bundesrats wäre das mit keinerlei finanziellen Konsequenzen verbunden. Ich habe noch nie erlebt, dass der Staat eine neue Aufgabe übernommen und kein Personal gefordert oder woanders Abstriche gemacht hat. Ich glaube, dass der Bundesrat mit dieser Aussage Parlament und Volk Sand in die Augen streut.
Das betrifft gerade auch den fünften Punkt, nämlich den koordinierenden Finanzierungsmechanismus. Dies ist eine Bestimmung, die auch erst sehr spät eingefügt wurde. Sie war zunächst an einem anderen Ort platziert und wurde am letzten Tag der WHA an eine andere Stelle in den IGV verschoben. Auch das ist ein äusserst merkwürdiges Vorgehen. Da geht es um die Finanzierung bei der Umsetzung der Kernkapazitäten, wie beispielsweise die Massnahmen zur Bekämpfung von Fehl- und Desinformation. Es geht auch um die Erschliessung neuer und zusätzlicher Finanzierungsmittel zur wirksamen Umsetzung dieser Vorschriften. Das soll alles geschehen unter Aufsicht und Führung der WHA, verbunden mit einer Rechenschaftspflicht ihr gegenüber.
Wenn ich das anschaue, verstehe ich noch weniger, wenn der Bundesrat sagt, es habe keinerlei finanzielle Auswirkungen auf die Schweiz. Wie es wirklich sein wird, wage ich nicht zu beurteilen. Ich finde das aber weit aus dem Fenster gelehnt, wenn der Bundesrat von vornherein ausschliesst, dass zusätzliche Kosten entstehen könnten. Es gibt denn auch Ökonomen, die sagen, das weiss man im Moment nicht und kann es zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht beurteilen. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn mit dem Austritt der USA aus der WHO deren grösste Geldquelle wegbricht und gleichzeitig das Budget massiv aufgestockt werden soll. Das sind die Punkte, die mich an diesen revidierten IGV am meisten stören.

Was bedeutet die Entwicklung im Zusammenhang mit den IGV und den darin definierten Vorschriften für den wissenschaftlichen Diskurs?
Das bereits angesprochene Gutachten von Frau Professorin Isabelle Häner findet man auf der Homepage des «Aktionsbündnisses freie Schweiz». Sie spricht von unmittelbarer Eingriffsqualität in die Meinungs- und Medienfreiheit. Dazu gehört aber auch die Informationsfreiheit, die wir als Bürger haben, um uns zu informieren, wie und wo wir wollen, sowie die Wissenschaftsfreiheit. Ich sehe die Wissenschaftsfreiheit bereits heute massiv bedroht, wenn renommierte Wissenschaftler, wie wir das in den letzten fünf Jahren erlebt haben, von gewissen Medien konsequent totgeschwiegen und deren wohlbegründeten und belegten Meinungen ignoriert werden. Ich sehe schon, dass die Regierungen jetzt noch ein Instrument in die Finger bekommen, womit sie sagen können, diese Aussagen widersprechen dem, was die WHO sagt, und müssen deswegen im Netz gelöscht werden, andernfalls wird die Publikation verboten. Das ist dann ein massiver Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. Wir sehen das unter anderem daran, dass die Behörden sich bei den Empfehlungen – teilweise auf politischen Druck hin und wider besseres Wissen – auf die WHO abgestützt haben, welche aber nicht hinreichend wissenschaftlich begründet, sondern teilweise auch wissenschaftlich überhaupt nicht haltbar waren. Nehmen wir nur die Maskenpflicht. Hier gibt es zahlreiche Studien, die das Maskentragen als wenig effizient erachteten. Selbst die WHO hat lange Zeit gesagt, dass das Tragen von Masken in der Öffentlichkeit keinen signifikanten Nutzen bringt. Auf einmal hat die WHO dann umgeschwenkt. Und plötzlich sind dann die Experten umgeschwenkt, auf die sich wiederum die Politik abgestützt hat. Wenn man an die Impfpflicht der deutschen Bundeswehr denkt, die mit Zähnen und Klauen noch aufrechterhalten wurde, als die Mär von der Wirksamkeit des Impfstoffs, insbesondere vom Schutz vor Übertragung schon längst nicht mehr haltbar war. Das wussten wir bereits 2021, als sogar das BAG (Frau Masserey vor Medienschaffenden) einen Schutz vor Übertragung verneinte, und spätestens 2022, als eine hochrangige Vertreterin von Pfizer öffentlich zugab, dass nie untersucht worden sei, ob die Covid-19-«Impfungen» eine Infektionskette unterbrechen können – was später auch die EMA, die Zulassungsbehörde der EU, einräumen musste. Trotzdem wurde das von der Politik immer behauptet, dass Impfen schützt, um die Menschen zum Impfen zu bewegen.

Und Nicht-Geimpfte waren dann die Treiber der Pandemie …
Ja genau, solches Zeugs konnte man ungehemmt und ungestraft von sich geben. Es gibt in Deutschland auch groteske Auswüchse wie den Straftatbestand der Erstellung einer sogenannten Feindesliste (gefährdendes Verbreiten personenbezogener Daten, § 126a StGB). Wenn man zum Beispiel Zitate von solch herabsetzenden und hetzenden Stimmen gegen Ungeimpfte gesammelt hat, ist man Gefahr gelaufen, dafür verurteilt zu werden. Es gab in Deutschland ein Verfahren gegen einen Blogger namens McLiberal, der diese Dinge zusammengetragen hatte, der wurde vom Amtsgericht Köln dann allerdings freigesprochen. Das Verfahren ist aber noch in der Schwebe, weil die Staatsanwaltschaft in Berufung gegangen ist.

Lässt sich aus den Äusserungen des Bundesrats entnehmen, wie er grundsätzlich zu den IGV steht? Ist er skeptisch und will noch ein paar Stimmen einholen?
Nach meiner Beobachtung liegt eine gewisse Ambivalenz in der Haltung des Bundesrates. Er argumentiert widersprüchlich. Auf der einen Seite spricht er ständig von «geringfügigen Anpassungen technischer Natur» und «von geringer Tragweite». Der Begriff «geringe Tragweite» referiert auf das RVOG, das Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz, das dem Bundesrat die Möglichkeit gibt, völkerrechtliche Verträge von geringer Tragweite in eigener Kompetenz ohne Parlament abzuschliessen. Das ist die Diktion des Bundesrates, es seien «nur Anpassungen technischer Natur und von geringer Tragweite». Das hat Frau Bundesrätin Baume-Schneider in der Debatte im Ständerat zur Motion Glarner am 26. September 2024 mehrmals so gesagt. Dann verstehe ich aber doch nicht ganz, warum der Bundesrat auf der anderen Seite – wenn auch freiwillig, wie er betont – eine Vernehm­lassung eröffnet, weil Vernehm­lassungen laut der Bundesverfassung nur bei wichtigen Erlassen durchgeführt werden müssen. Da frage ich mich schon, ob es nun wichtige Anpassungen oder solche von geringer Tragweite sind. Interessant ist, dass der Bundesrat in der Vernehmlassungsvorlage wieder davon spricht, ein grosser Teil der Anpassungen sei «zudem technischer oder rein sprachlicher Art» beziehungsweise die Anpassungen seien «im Allgemeinen von geringer Tragweite».

Was heisst denn das?
Der Bundesrat spricht von «gezielten technischen Anpassungen des bereits bestehenden Instruments» ohne neue Verpflichtungen für die Schweiz und meint damit wohl eher marginale Änderungen der technischen Abläufe beim Ziel der Verhinderung von grenzüberschreitenden Krankheiten. Wie ich Ihnen aber dargelegt habe, gehen die kritisierten Änderungen meines Erachtens weit über solch geringfügige technische Anpassungen hinaus. Dazu haben wir seitens des «Aktionsbündnisses freie Schweiz» und des «Dialogs Globale Gesundheit» ausführliche Vernehmlassungsantworten eingereicht, die auf den jeweiligen Webseiten verfügbar sind.

Wenn der Bundesrat von technischen Anpassungen von geringer Tragweite spricht, dann ist das ein Argument, um den Legislativprozess zu umgehen, das Parlament nicht zu konsultieren und selbst entscheiden zu können. Das wäre doch das Ende eines demokratischen Verfahrens?
Wie gesagt hat der Bundesrat gemäss Artikel 7a des RVOG grundsätzlich die Kompetenz zum Abschluss oder zur Änderung von Verträgen, soweit sie von beschränkter Tragweite sind. Aus den genannten Gründen halte ich jedoch eben gerade diese Voraussetzung bei den IGV-Änderungen nicht als gegeben. Die Motion Glarner aus dem Jahr 2022 spricht von WHO-Instrumenten und wollte sie dem Parlament vorlegen. Sowohl der Ständerat als auch der Nationalrat haben mit grosser Mehrheit diese Motion angenommen, wohl in der Überzeugung, dass da Dinge geregelt werden, die eben gerade nicht von beschränkter Tragweite sind. Das heisst, der Bundesrat ist nun eigentlich in der Pflicht, die Frage einer allfälligen Ablehnung der IGV-Novelle dem Parlament zur Abstimmung vorzulegen. Die Leiterin des BAG wurde in zwei Kommissionen angehört, und sie haben darüber beraten. Sie kamen zum Schluss, dass über die geänderten IGV der Bundesrat ohne Parlament entscheiden könne. Da stellt sich unter demokratischen Aspekten die Frage: Kann denn eine Kommission des Nationalrats eine bereits überwiesene Motion aushebeln, die klar verlangt, dass diese IGV dem Parlament vorgelegt werden müssen? Es ist zwar ein bestehender Vertrag, jedoch mit Anpassungen, die weitreichende Konsequenzen haben, so dass er zwingend Parlament und Volk zur Genehmigung oder Ablehnung vorgelegt werden müsste. Was der Bundesrat erkannt zu haben scheint, ist, dass zumindest die Informationskontrolle im Annex 1 problematisch sein könnte in Bezug auf die verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechte, insbesondere die Meinungsäusserungsfreiheit, Freiheit der Wissenschaften, Informationsfreiheit und so weiter. Er hat in der Vernehmlassungsvorlage festgehalten, dass man hier alternativ einen Vorbehalt dazu anbringen könnte. Bei jedem völkerrechtlichen Vertrag hat ein Vertragsstaat das Recht, einen Vorbehalt anzubringen in dem Sinne, dass er die Vorschrift nicht anzuwenden gedenkt. Dann ist das eine Rückweisung, aber nur in Bezug auf eine Vorschrift. Wir sind jedoch der Meinung, dass andere Vorschriften der IGV genauso problematisch sind und daher die Novelle als Ganzes zurückgewiesen werden muss. Dazu hat der Bundesrat noch bis zum 19. Juli 2025 Zeit, weil die Frist zur Ablehnung von Änderungen 10 Monate beträgt und mit der Notifikation durch den Generaldirektor der WHO beginnt, die am 19. September letzten Jahres erfolgte. Mit anderen Worten: Wenn der Bundesrat diese Ablehnung nicht erklärt, das sogenannte Opting-out, dann treten diese revidierten IGV am 19. Juli 2025 definitiv in Kraft. Dann gibt es kein Zurück mehr.

Es scheint für eine Demokratie aussergewöhnlich, dass eine Kommission sich über eine vom Parlament angenommene Motion hinwegsetzt. Von der WHO kann man, nach dem, was Sie erklärt haben, von einer Gesundheitsdiktatur sprechen. Wir haben eine direktdemokratische Verfassung, wir sind politisch der freiheitlichste Staat, aber die ganzen Abläufe stehen dem entgegen. Wie sehen Sie das?
Ich sehe auch, dass ein demokratischer Prozess gefährdet ist, wenn diese IGV-Änderungen einfach durchgewunken werden, obschon eine klare Mehrheit beider Kammern gesagt hat, wir wollen darüber reden und mitentscheiden. Wenn jetzt vom Bundesrat trotzdem versucht werden sollte, die IGV am Parlament vorbeizuschleusen unter Schützenhilfe dieser beiden Kommissionen, die sagen, der Bundesrat solle das alleine entscheiden, dann finde ich das schon sehr problematisch, und man müsste hier den Bundesrat in die Pflicht nehmen.

Die amtierende Schweizer Bundespräsidentin Karin Keller-Suter hatte auf die Rede des US-Vizepräsidenten James David Vance Bezug genommen, in der er die Bedeutung der Demokratie betonte, was sehr gut auf die beschriebene Problematik passt …
Ja, Frau Bundespräsidentin Keller-Suter hat nach der teilweise akklamierten, aber auch viel geschmähten Rede von JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz in einem vom Tages-Anzeiger am 15. Februar 2025 zitierten Interview mit der Zeitung Le Temps die Rede Vances als «Plädoyer für die direkte Demokratie» bezeichnet, sie teile viele der von Vance erwähnten Werte. Dazu gehörten Werte «wie Freiheit und die Möglichkeit für die Bevölkerung, ihre Meinung zu äussern. Es war ein Plädoyer für die direkte Demokratie. So kann man es lesen». Zudem «habe Vance zum Ausdruck gebracht, dass man nicht nur andere Meinungen anhöre, sondern sich auch dafür einsetze, dass sie ge­äussert werden dürfen.» Da möchte ich sie schon gerne beim Wort nehmen und auch Taten sehen, Taten zur Wahrung der direkten Demokratie in dem Sinne, dass man das Volk ernst nimmt.
Es ist doch offensichtlich, dass gerade bei diesen Einschränkungen der Meinungs- und Medienfreiheit wie in den IGV, im Digital Service Act (DSA), – den der Bundesrat in der einen oder anderen Form gerne übernehmen möchte – oder beim Uno-Zukunftspakt eine grosse Gefahr für unsere Demokratie lauert. Mit unserem Demokratieverständnis ist es auch unvereinbar, wenn ein Abstimmungsprozedere, wie es an der WHA am 1. Juni 2024 abgelaufen ist, als demokratisch legitimiert verstanden wird, wenn ein Vorsitzender in die Runde schaut und sagt: «Dagegen gibt es wohl keine Einwände», ein paar Sekunden wartet und dann feststellt: «Ich sehe keine Einwände, dann ist es so beschlossen.» Dabei gab es Länder, die ganz klar ihren Widerstand signalisiert hatten. In der vorbereitenden Kommission des Komitees A gab es zwei Tage vor der Abstimmung eine klare Ablehnung der IGV-Revision mit einer satten Mehrheit (67 Nein zu 26 Ja). Da denke ich nicht, dass diese Länder, die den Widerstand angekündigt hatten, nach zwei Tagen ihre Meinung grundlegend änderten. Sie reagierten – wenn sie nicht schon abgereist und überhaupt noch anwesend waren – nicht mehr, weil die Revision auf Biegen und Brechen durchgezogen wurde. Das ist mit dem Demokratieverständnis, wie wir es in der Schweiz pflegen, nicht vereinbar. Schon allein deswegen müssen diese IGV-Änderungen, die auf derart demokratiefeindliche und rechtswidrige Weise zustande gekommen sind, zurückgewiesen beziehungsweise abgelehnt werden.
Festhalten möchte ich noch, dass die Linke einschliesslich Grüne und Grünliberale in den Räten geschlossen gegen die Motion Glarner stimmte, die nichts anderes verlangte, als solche einschneidenden und umstrittenen Verträge wie die IGV-Revision dem Parlament und allenfalls dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Nur durch eine Mehrheit aus Mitte, FDP und SVP und so weiter wurde erreicht, dass man das Parlament einbeziehen muss. Da stellt sich mir schon die Frage nach dem Demokratieverständnis bei der Linken.

Nun wurde am 10. März 2025 im Nationalrat eine weitere Motion behandelt, die ebenfalls die Vorlage der IGV ans Parlament und zudem die Unterstellung unter das fakultative Referendum verlangt hatte. Eine gleichlautende Motion soll am 19. März 2025 im Ständerat behandelt werden. Was können Sie dazu sagen?
Die Behandlung der Motion im Nationalrat – er hat sie anschliessend mehrheitlich verworfen – hat einen offenkundig desorientierten Bundesrat gezeigt. Herr Bundesrat Jans hat in Vertretung seiner Kollegin Baume-Schneider allen Ernstes ausgeführt: «Es ist, diese IGV … ist ein Beschluss, der vom Bundesrat gefällt wurde mit Unterstützung des Parlamentes». Mit Verlaub, Herr Bundesrat Jans scheint den Revisionsprozess der IGV nicht verstanden zu haben: Die IGV wurden weder vom Bundesrat noch vom Parlament «beschlossen», sondern von der WHA. Die Anpassungen der IGV müssen auch nicht «genehmigt» werden. Der Bundesrat kann die Revision einzig bis zum 19. Juli 2025 ablehnen oder einen Vorbehalt anbringen – und müsste das aktiv tun, damit sie nicht automatisch am 19. September 2025 für die Schweiz verbindlich in Kraft treten. Bemerkenswert an der Aussage von Herrn Bundesrat Jans finde ich immerhin, dass er nun plötzlich der Mitwirkung des Parlaments das Wort redete – also nichts anderes, als was die einschlägigen Motionen verlangten –, obschon der Bundesrat sonst nicht müde wird, zu betonen, dass die Entscheidung allein in seiner Kompetenz liege …

Was ist zu tun, wenn die Politik versagt?
Wir müssen darauf drängen, und das ist die Aufgabe, die wir vor uns haben, noch mehr Druck aufzubauen, damit der Bundesrat spürt, hier gibt es Widerstand, damit er das Widerspruchsrecht bei der WHO ausübt, mindestens aber einen Vorbehalt zur Einschränkung der Meinungsfreiheit gemäss Annex 1 erklärt.
Widerstand kann wirken: Im ersten Entwurf von 2022 wollte man den Grundsatz der Achtung von Menschenwürde, Menschenrechten und persönlicher Freiheit in Artikel 3 IGV streichen, was später wieder rückgängig gemacht wurde. Diese Grundsätze hat man streichen und mit Gerechtigkeit, Integration und Kohärenz (equity, inclusivity und coherence) ersetzen wollen. Die drei Begriffe stehen jetzt auch zusätzlich drin, sind aber meines Erachtens totale Gummibegriffe. Die Menschenwürde und so weiter herauszustreichen, hat man schliesslich doch nicht gewagt. Das ist ganz sicher ein Resultat des Widerstandes, dass viele dagegen aufgestanden sind. Ich denke, das ist ein wichtiges Signal, sich zu wehren und dort Widerspruch einzulegen, wo unsere Grundrechte in Gefahr sind.


Herr Vollenweider, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser

* Jürg Vollenweider war bis zu seiner Pensionierung Leitender Staatsanwalt im Kanton Zürich. Er engagiert sich im Widerstand gegen die zunehmende Machterweiterung der WHO und Beschneidung der verfassungsrechtlichen Grundfreiheiten insbesondere durch Regelwerke wie Internationale Gesundheitsvorschriften (IGV) und Pandemiepakt. Er ist Mitglied beim Aktionsbündnis freie Schweiz ABF (abfschweiz.ch/) und bei den Netzwerken Kritische Richter und Staatsanwälte KRiStA (netzwerkkrista.de/) und Dialog Globale Gesundheit
(globale-gesundheit.com/).