Einblicke in den dritten «Young Humanitarian Summit» in Zürich
von Susanne Lienhard und Andreas Kaiser
Was bewegt 300 junge Leute, sich am Wochenende im Zürcher «Kraftwerk» zu versammeln, statt draussen die ersten milden Frühlingstage zu geniessen? Am Wochenende vom 21. bis 23. März fand der «Young Humanitarian Summit (YHS)» statt, der zum dritten Mal vom «Circle of Young Humanitarians» in Zusammenarbeit mit dem IKRK und anderen humanitären Akteuren organisiert wurde. Das diesjährige Motto lautete «Humanitarian Values in Everyday Action» – Humanitäre Werte im täglichen Leben.
Zentrales Anliegen der Veranstalter war es, jungen Leuten den Zugang zu Wissen, praktischer Erfahrung und interdisziplinärem Austausch mit Persönlichkeiten der humanitären Welt zu ermöglichen, um dem lähmenden Gefühl der Ohnmacht entgegenzuwirken und zu helfen, die eigene Handlungsfähigkeit für eine humanere Welt zu entdecken. Wir hatten die Gelegenheit, am Freitagabend und den grössten Teil des Samstags der Veranstaltung beizuwohnen.
Am Freitagabend wurden die eintreffenden Teilnehmer von jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des «Circle of Young Humanitarians»¹ herzlich empfangen. Die Presseverantwortliche erklärte uns, dass hier alle aus Überzeugung ehrenamtlich arbeiteten. Sie alle verbinde der Wunsch, einen Beitrag zu einer humaneren Welt zu leisten.
Die Eingangshalle füllte sich mit zahlreichen jungen Leuten, die einen sichtlich erfreut, sich zu sehen, andere neugierig das bunte Treiben beobachtend. Auf dem Weg in den Kinosaal, wo der Film «We Dare To Dream» der syrischen Dokumentarfilmerin Waad al-Kateab auf dem Programm stand, begegnete man verschiedenen Plakaten, die auf die Bedeutung des humanitären Völkerrechts hinwiesen: «Civilians must be protected. It’s the law», «Even wars have rules», «Respect # GenevaConventions» oder «# togetherforhumanity».
Wie kann ein einzelner etwas bewirken?
Zur Begrüssung formulierte Kay von Mérey, Präsidentin des «Circle of Young Humanitarians», die Frage, die wohl viele im Saal umtrieb: «Wie kann ich als Einzelner in dieser von Konflikten und Krisen geschüttelten Welt etwas bewirken?» «Dieser Ohnmacht möchten wir mit dieser Tagung entgegenwirken, indem wir die humanitäre Welt erlebbar machen. Zahlreiche Persönlichkeiten werden ihre Erfahrungen in der humanitären Arbeit mit uns teilen.»
Kompass in einer verrückten Welt
Anschliessend wandte sich Patricia Danzi, Schweizer Botschafterin und Generaldirektorin der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), insbesondere an die junge Generation. Sie erinnerte sich an ihre eigene Jugendzeit, die sie im Gegensatz zur heutigen Jugend in einer optimistischen Aufbruchstimmung verbringen durfte. Die derzeitige Weltlage sei geprägt von Kriegen, Konflikten, Gewalt und Unrecht. Bis anhin geltende Werte und Normen würden immer weniger respektiert. In dieser Situation müsse jeder seinen Kompass finden und sich mit Gleichgesinnten zusammentun. Sie gab der jungen Generation Orientierungspunkte, die helfen, an dieser Welt nicht zu verzweifeln, sondern aktiv zu werden. Das Recht und insbesondere das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte bildeten die Grundlage jedes Handelns. «Führt den Kampf dafür fort, allen Verstössen zum Trotz», ermutigte sie die Jugend. Eine positive Haltung andern Menschen gegenüber sei von zentraler Bedeutung. Es gelte zuzuhören, bevor man urteile: «Ihr macht das für euch, Menschen erinnern sich, wie ihr sie behandelt habt», betonte sie. Sie ermunterte die Zuhörerinnen und Zuhörer, ihre Komfortzone zu verlassen, damit künftig Kinder überall auf der Welt in Frieden und Sicherheit aufwachsen können.
«We Dare To Dream» – Wir wagen es zu träumen
Die Filmemacherin Waad al-Kateab, einst selbst aus Aleppo geflüchtet, um ihre kleine Tochter Sama in Sicherheit zu bringen, begleitete im Jahr 2020 das IOC Refugee-Team an die Olympischen Spiele in Tokyo. Sie dokumentierte sehr feinfühlig deren unermüdlichen Kampf um einen neuen Platz in dieser Welt und zeigte, wie die Flüchtlinge trotz widrigster Umstände durch den Sport eine neue Lebensperspektive fanden.
«Wenn wir unsere Herzen und Augen verschliessen, verlieren wir unsere Menschlichkeit»
Am Samstagmorgen eröffnete Zoya Miari, Tochter eines palästinensischen Vaters und einer ukrainischen Mutter, mit einer bewegenden Rede die Tagung. Sie wuchs in einem palästinensischen Flüchtlingscamp im Libanon auf, wo bewaffnete Auseinandersetzungen an der Tagesordnung waren. Im Jahr 2021, inmitten einer Eskalation der Gewalt, entschied die Familie – auf der Suche nach einem sicheren Ort und einer hoffnungsvolleren Zukunft – in die Ukraine zu emigrieren. Doch im Februar 2022 marschierten russische Truppen in die Ostukraine ein und Zoya und ihre Familie mussten wieder fliehen. Auf der Flucht erfuhr Zoya am eigenen Leib die ungleiche Behandlung von Flüchtlingen: Stigmatisierung als palästinensischer Flüchtling und Empathie als ukrainischer Flüchtling. Sie verwehrte sich dagegen, auf das eine oder andere reduziert zu werden und betonte: «I am just a human – ich bin einfach ein Mensch, ein Mensch, der über die Liebe, das Leben, die Freiheit und die Rückkehr in die Heimat schreiben möchte.» Sie fragte: «Wo ist unsere Menschlichkeit, wenn Ärzte und Krankenschwestern getötet werden, während sie Leben retten? Wo ist unsere Menschlichkeit, wenn humanitäre Helfer getötet werden, während sie hungernde Kinder füttern? Wo ist unsere Menschlichkeit, wenn Journalisten in Gaza getötet werden, während sie Massaker dokumentierten? Und was ist mit den Kindern, die im Schlaf ermordet werden? Gewalttaten, die einst als grausam galten, sind zur Normalität geworden.» Zoya Miaris Worte berühren, weil sie aufrecht sind und von Herzen kommen.
Der sichere Ort, der ihr und ihrer Familie in der Schweiz gewährt wurde, half ihr, nicht zu verzweifeln und ihre eigene Geschichte neu zu sehen. Anstatt sich dafür zu schämen, in einem Flüchtlingslager aufgewachsen zu sein, stehe sie heute selbstbewusst als zweifacher Flüchtling da und sage es. Sie habe tief im Innern gespürt, dass sie sich befreien kann, wenn sie sich auf ihre Geschichte besinnt. Aber sie sei nicht ganz frei, weil ihr Volk nicht frei sei. In ihren drei Heimatländern – Palästina, Ukraine und Libanon –, aber auch im Sudan, im Kongo, in Yemen und an vielen anderen Orten gehe das Leiden weiter.
Ermutigt durch die Tochter ihrer Gastfamilie beschloss sie, nicht mehr zu schweigen und ihre Geschichte zu erzählen, sie mit anderen zu teilen. Sich ans Publikum wendend, schloss sie ihre Rede: «Ich hoffe, dass meine Worte euch wecken, ich hoffe, dass sie in euch etwas anrühren, ich hoffe, dass eure Herzen sich bewegen. Mein Name ist Zoya und Zoya bedeutet Leben. Und das ist meine Nachricht an euch: Beendet den Teufelskreis der Gewalt und schafft neuen Raum fürs Leben, feiert, seid voller Leben, seid Leben. Ich bin einfach ein Mensch, ich bin lebendig.»
Ihre letzten Worte klangen im Saal eine Weile nach. Dann erhob sich ein Teilnehmer nach dem andern und zeigte mit langem Applaus, dass ihre Worte verstanden und in den Herzen angekommen waren.²
«Wut verletzt und schafft Gräben, schaffen wir einen Raum der Menschlichkeit»
Nach dem bewegenden Referat von Zoya Miari hielt Kay von Mérey fest, dass es hinter jedem Konflikt solch starke, kraftvolle Menschen gebe. Sie betonte: «Wut verletzt und öffnet Gräben, schaffen wir einen Raum der Menschlichkeit. Selbst im Krieg muss Menschlichkeit geschützt werden. Die Genfer Konventionen sind weltweit die meistunterzeichneten Verträge zum Schutz der Zivilisten und der im Krieg verwundeten oder gefangenen Soldaten. Ein Blick in die Welt zeigt jedoch, dass Verstösse dagegen zahlreicher sind denn je.» Für Kay von Mérey und ihre Mitstreiterinnen Alina Eichrodt und Savana Diem stirbt die Hoffnung jedoch zuletzt: «Wir in der Schweiz haben das Privileg, uns in Sicherheit darüber Gedanken zu machen, uns auf die humanitären Werte und Prinzipien zu besinnen, uns auszutauschen und zu vernetzen, um gemeinsam zu einer humaneren Welt beizutragen.»
Was können wir von Humanitären Verhandlungen lernen?
Die nächste Referentin, Joëlle Germanier, Direktorin des «Centre of Competence on Humanitarian Negotiation»³ gab dem Publikum einen anschaulichen Einblick in den Bereich der humanitären Verhandlungen. Sie erzählte offen von ihren ersten Erfahrungen: «Als ich als 25-Jährige Absolventin der Swiss Law School meine erste Verhandlung führen musste, scheiterte ich total. Ich führte einen Monolog über Internationales Recht, anstatt mit meinem Gegenüber in den Dialog zu treten. Das war ein erstes Lehrstück.» Die Bereitstellung humanitärer Hilfe, das heisst, Verteilung von Nahrungsmitteln, Durchführung von Bildungsprogrammen oder Angebot medizinischer Leistungen für Menschen in Kriegsgebieten oder in von extremer Gewalt betroffenen Gebieten, stelle die humanitären Helfer vor die schwierige Aufgabe, mit verschiedenen Partnern einen Kompromiss zu finden.
Um dies für das Publikum zu veranschaulichen, bat sie drei Freiwillige, sich für ein Rollenspiel als humanitäre Helfer zur Verfügung zu stellen: «Stellen Sie sich vor, Sie engagieren sich in der Organisation ‹Education for all›. Sie haben erfahren, dass in einem Dorf die Kinder nicht zur Schule gehen, sondern den Eltern bei der Feldarbeit helfen müssen. Um diesem Missstand Abhilfe zu schaffen, haben Sie mit dem Dorfvorsitzenden ein Gespräch vereinbart. Wie würden Sie mit ihm verhandeln?»
Drei junge Leute nahmen die Herausforderung an und versuchten, dem Dorfvorsitzenden klarzumachen, dass alle Kinder ein Recht auf Bildung hätten. Sie kämen aus der Schweiz mit einem hervorragenden Bildungssystem und könnten ihm dabei helfen, die Situation für die Kinder in seinem Dorf zu verbessern. Wider Erwarten stiessen sie jedoch beim Dorfverantwortlichen gar nicht auf Begeisterung. Sie mussten erfahren, dass die Dorfgemeinschaft seit Jahrzehnten gut funktioniere. Die Mithilfe der Kinder und Jugendlichen sei für alle überlebensnotwendig und zudem würden Kinder mit leerem Magen nichts lernen können.
Die drei Helfer stellten in der Feedbackrunde selbstkritisch fest, dass sie auf eine ganz andere Lebensweise getroffen seien, die es zuallererst zu verstehen gelte, bevor man urteile. Joëlle Germanier bestätigte, dass für gelingende Verhandlungen Empathie, Respekt und die Fähigkeit zuzuhören absolut zentral seien – auch in unserem Alltag.
Staunen über das Wunder Mensch
Jürg Kesselring, Neurologe und bis zu seiner Pensionierung Chefarzt für Neurologie und Rehabilitation in der Reha-Klinik in Valens, ist ehemaliger IKRK-Delegierter und nun Ehrenmitglied der IKRK-Versammlung. Er beteuerte, dass die Ideen des Roten Kreuzes ihn in seinem Tun immer begleiten würden: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, bzw. Interdependenz und Neutralität als Pfeiler des humanitären Völkerrechts. Er ging in seinem Beitrag der Frage nach, wie man das Wesen des Menschen beschreiben könne. Als Neurologe wies er darauf hin, dass das menschliche Gehirn aus 86 Milliarden Nervenzellen bestehe, die im Laufe des Lebens untereinander vernetzt werden müssten. Das brauche Training. Selbst wenn durch Krankheit oder Unfall ein Teil des Gehirns ausser Funktion gesetzt werde, könnten andere Nervenzellen verlorene Funktionen übernehmen. Das Wesen Mensch sei ein unglaubliches Wunder. Es verfüge über ein immenses, selten ganz ausgeschöpftes Potenzial. Im Wissen darum habe er Patienten, die zum Beispiel an Multiple Sklerose erkrankt waren, immer ermutigen können, den Fokus nicht darauf zu legen, was nicht mehr geht, sondern auf das in ihnen schlummernde Potenzial, das es auszuschöpfen gelte. «Wir können Hoffnung finden, wenn wir wirklich über das Wunder Mensch staunen können», schloss er seinen Vortrag.
In der folgenden Podiumsdiskussion wurden die Fragen: «Warum kämpfen wir, warum helfen wir und wo können wir Hoffnung finden?» aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.
Während der Mittagspause nutzten viele junge Gäste die Gelegenheit, mit den Podiumsteilnehmern und Referenten persönlich ins Gespräch zu kommen, Gleichgesinnte zu finden und Ideen zu entwickeln und auszutauschen. Anschliessend konnte man sich auf einer Art Marktplatz über den Einsatz verschiedener humanitärer Organisationen informieren, und an einem Workshop einer der Organisationen teilnehmen. Die Workshops thematisierten aktuelle Herausforderungen, vor denen die jeweiligen Hilfsorganisationen stehen.
Geschichten erzählen und teilen baut Brücken
Nach der Pause folgten die Gäste dem Vortrag der Architektin Christina Zhang, die von einem Semesterprojekt berichtete, das Studentinnen und Studenten für die soziale Bedeutung der Städteplanung beim Wiederaufbau im Krieg zerstörter Städte sensibilisieren sollte. Sie betonte, dass mit der Zerstörung einer Stadt, die überlebenden Bewohner immer auch ein Stück ihrer Identität, ihrer Geschichte verlören. Der Wiederaufbau einer zerstörten Stadt, die Entscheidung, welche Strukturen erhalten und wieder hergestellt werden müssen, müsste deshalb unter Einbezug der überlebenden Bevölkerung erfolgen, die die Geschichten der zerstörten Orte und deren Bedeutung für die Bewohner kennen und davon erzählen können. Traumatische Erinnerungen erzählen und mit andern teilen zu können, baue Brücken und schaffe Verbindung zu anderen und zu sich selbst. Es helfe, Verletzungen zu heilen, Hass und Rachegefühle zu überwinden und den Weg zurück ins Leben zu finden. Voraussetzung dafür, dass traumatisierte Menschen ihre Geschichten erzählen könnten, sei Sicherheit. Wenn man riskiere, für das, was man erzählt, hinter Gitter gesteckt zu werden oder gar um sein Leben fürchten müsse, könne dieser Heilungsprozess nicht stattfinden.
Die anschliessende Podiumsdiskussion, an der neben Christina Zhang auch die syrische Filmemacherin Waad al-Kateab und der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss teilnahmen, drehte sich denn auch um die Frage: «Wie kann die Kunst des ‹Storytellings› humanitäre Werte stärken?» Neben der oben erwähnten heilenden Wirkung wurde auch auf die Gefahr des Missbrauchs zwecks Manipulation hingewiesen.
Mit den Augen des anderen sehen, mit den Ohren des anderen hören, mit dem Herzen des anderen fühlen
Welch integrative Bedeutung das Erzählen und Teilen von Geschichten haben kann, veranschaulichte nach dem Abendessen das Flüchtlingstheater Malaika mit seinem Stück «Don’t touch!». Laut der Theaterpädagogin, die das Projekt leitet, entstehen die Stücke immer rollend im Gespräch mit allen Beteiligten, so dass alle die Möglichkeit haben, ihre Erfahrungen einzubringen. Viele von ihnen mussten vor Krieg, Hunger, Gewalt oder Verfolgung fliehen. Was sie vereint, ist der Glaube an ein Leben miteinander – unabhängig von Religion oder Herkunft. Diese Hoffnung, die Lebensfreude und der unbändige Lebenswille, der nicht zuletzt in den Liedern zum Ausdruck kam, trafen im Publikum auf ein begeistertes Echo.
Wir verliessen am Samstagabend den Veranstaltungsort voller Optimismus und Freude über all die jungen Leute, die diese Tagung organisiert hatten, und über die zahlreichen interessierten jungen Besucherinnen und Besucher – eine humanere Welt ist möglich! ■
¹ Der «Circle of Young Humanitarians» (CYH) ist ein politisch neutraler, gemeinnütziger Verein mit Sitz in Zürich, der im Frühjahr 2021 von Studierenden und jungen Berufsleuten in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) gegründet wurde. Siehe dazu auch das Interview mit der Präsidentin Kay von Mérey in Zeitgeschehen im Fokus Nr. 4 vom 27. 02. 2025
² Ein ausführliches Interview mit Zoya Miari folgt in der nächsten Ausgabe von Zeitgeschehen im Fokus.
³ Das «Centre of Competence on Humanitarian Negotiation» (CCHN) wurde 2016 in der Schweiz gegründet. Es ist eine gemeinsame Initiative des «Internationalen Komitees vom Roten Kreuz» (IKRK), «Médecins sans Frontières» (MSF), des UNHCR und des «World Food Programms» für die Ausbildung und Beratung humanitärer Helfer, die an der Front verhandeln.