von Thomas Kaiser
Während Donald Trump bemüht ist, den Ukraine-Krieg zu beenden, geht der erbarmungslose Krieg, geführt von Israel und seinen Verbündeten, den Waffenlieferanten aus dem Westen, gegen die Palästinenser, den Libanon, Syrien, Jemen etc. weiter. Seit Israel erneut den Gazastreifen ins Visier genommen hat, steigt die Zahl der Toten und hat die ungeheuerliche Zahl von 50 000 überschritten, mehrheitlich Frauen und Kinder.
Unsere Tagesmedien berichten zwar hin und wieder, aber ohne klar zu machen, wie Israel internationales Recht mit Füssen tritt und die Palästinenser wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Das Töten von Palästinensern ist zur Gewohnheit geworden. Es braucht eigene Recherchen, um an verlässliche Quellen und Informationen zu kommen. Eine solche verlässliche Quelle ist die Nahost-Expertin Karin Leukefeld. Sie reist mehrmals im Jahr in den Nahen Osten und kann als unabhängige Journalistin schreiben, was sie mit eigenen Augen gesehen und von den Menschen in den Krisengebieten erfahren hat.
Gegen die Geschichtslosigkeit
Karin Leukefeld legt ausführlich die Ursachen des Nahost-Konflikts dar, dessen Wurzeln bis ins vorletzte Jahrhundert reichen. Sie setzt einen deutlichen Kontrapunkt gegen die Geschichtslosigkeit unserer Zeit.1
Ähnlich wie zu Beginn des Ukraine-Kriegs werden die Ereignisse vom Oktober 2023 als ein völlig unerwartetes, unprovoziertes Geschehen dargestellt und den Menschen weisgemacht, es sei allein das Böse – was schon absurd ist – Triebfeder des Handelns.
Wer sich in das Buch vertieft, erfährt eine differenzierte Betrachtungsweise und findet Antworten, die verständlich machen, warum es zu dieser gewalttätigen Eruption am 7. Oktober gekommen ist. Damit kann und soll nichts legitimiert, entschuldigt oder beschönigt werden. Die im Buch dargelegten und gut dokumentierten historischen Zusammenhänge sind erhellend.
Lebensraum der Palästinenser wird beschnitten
Ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte der Palästinenser ist ihre Verdrängung aus ihrem Lebensraum. Sie begannå Ende des 19. Jahrhunderts: «1897 wurde auf dem Ersten Zionistenkongress in Basel die Gründung eines ‹Judenstaats in Palästina› beschlossen. 1917 erklärte der britische Aussenminister Balfour ‹im Namen der Krone› Unterstützung für das Projekt. [ … ] Die zionistische Bewegung entpuppte sich schnell als eine koloniale Siedlerbewegung, die – von Grossbritannien, Frankreich und den USA unterstützt – mit der Vertreibung der Palästinenser begann. Bei der ersten Nakba (Katastrophe) 1947/1948 wurden mehr als 750 000 Palästinenser von den zionistischen Milizverbänden vertrieben, die ihre Dörfer zerstörten und sich ihr Land aneigneten.» (S. 9) Seitdem wird der Lebensraum der Palästinenser ständig beschnitten und ihre Freiheit und Souveränität gewaltsam unterdrückt.
Der grosse Verlust an Territorium begann bei der einseitigen Gründung des Staates Israel am 15. Mai 1948. In den folgenden Kriegen dehnte Israel sein Staatsgebiet auf Kosten der Palästinenser weiter aus. Nach dem Ende des 6-Tage-Kriegs 1967 kontrollierte es das gesamte palästinensische Gebiet, auch Ost-Jerusalem und darüber hinaus noch die Sinai-Halbinsel sowie die syrischen Golanhöhen. Trotz der völkerrechtlich bindenden Sicherheitsratsresolution 242 vom Oktober 1967, die unter anderem den «Rückzug der israelischen Streitkräfte aus den Gebieten, die während des jüngsten Konflikts besetzt wurden» verlangte, blieben die palästinensischen Gebiete weiterhin okkupiert: «Der Drang Israels nach Norden, in die fruchtbaren Gebiete des südlichen Libanon und nach Osten auf die fruchtbaren syrischen Golanhöhen hörte nicht auf. Ob in Gaza, im Westjordanland, ob auf den Golanhöhen, ob in Syrien oder im Libanon – bis heute kämpfen die Menschen um ihr Land und um ihr Recht, ihr Leben und ihre Zukunft selbst zu gestalten.» (S. 56)
Wesentlichen Anteil an der Entwicklung im Nahen Osten hatten zunächst die Briten und Franzosen, die in einem geheimen Vertrag (Sykes-Picot-Abkommen) von 1916 das von den Osmanen verwaltete Gebiet unter sich aufteilten. «Um die Sykes-Picot-Gebiete zu kontrollieren, wurden sie von den Mandatsmächten Frankreich und Grossbritannien immer weiter zerteilt. In den britischen Mandatsgebieten entstanden Irak und Transjordanien. [ … ] Der Rest von Palästina westlich des Jordanflusses (Westbank oder Westjordanland) blieb als britisch kontrolliertes Mandatsgebiet zurück.» (S. 34)
Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Briten ihre Weltmachtstellung abtreten und einer neuen Macht überlassen: «Die von den USA nun beanspruchte Interessenssphäre sollte sich von Afghanistan über Zentralasien, dem Mittleren Osten und Nordafrika bis an den Atlantik erstrecken». (S. 70)
Missachtung internationaler Normen
Die Politik, wie sie Israel bis heute führt, wäre ohne Unterstützung des Westens nicht möglich. Während man hier den Krieg Putins als Expansionskrieg und somit als Bruch des Völkerrechts verurteilt, wird das Vorgehen Israels und die ständigen Verletzungen des Völkerrechts und des humanitären Völkerrechts von den westlichen Medien selten kritisch kommentiert. Die Missachtung internationaler Normen durch Israel, das seit 1949 Uno-Mitglied ist und sich zur Einhaltung derer verpflichtet hat, ist massiv und manifestiert sich in folgenden Zahlen: «Mehr als 200 Resolutionen allein des Uno-Sicherheitsrates hat Israel seit seiner Aufnahme als Mitglied der Vereinten Nationen ignoriert.» (S. 41)
Während die USA und ein grosser Teil der Europäer – Deutschland steht bei den Waffenlieferungen an zweiter Stelle nach den USA – zusammen mit den Israeli Bombardierungen von Zivilisten sowohl in den besetzten palästinensischen Gebieten als auch im Libanon billigend in Kauf nehmen, führt Südafrika «beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag die Anklage gegen Israel wegen des Verdachts auf Völkermord an den Palästinensern, und viele Staaten des ‹globalen Südens› haben sich angeschlossen». (S.11)
Vor kurzem äusserte sich die Uno-Sonderberichterstatterin für die palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, vor dem Uno-Menschenrechtsrat in Genf. Sie gab bekannt , «dass sie ‹vernünftige Gründe› für die Annahme eines israelischen Völkermordes im Gazastreifen sieht.»2
In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gab es Bemühungen seitens Israel und der Palästinenser, zu einem Ausgleich zu kommen: «1993 gab es erstmals Gespräche zwischen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und Israel, man einigte sich auf das ‹Oslo-Abkommen›. Dieses sah den israelischen Truppen Rückzug aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland sowie eine palästinensische Selbstverwaltung vor.» (S. 109) Inzwischen gibt es nur noch die Sprache der Gewalt.
Versagen der Uno
Neben der historischen Aufarbeitung des Konflikts geht Karin Leukefeld auch ausführlich auf die aktuelle Lage ein und thematisiert die Vorgänge vom 7. Oktober. Ihre Darstellung entspricht nicht der Auffassung der grossen westlichen Medien, die sich keine Mühe machen, den Dingen auf den Grund zu gehen, sondern das Narrativ Israels unhinterfragt übernehmen. Sie tun alles andere als Verschwörungstheorie oder Relativierung der Gewalttat ab und behalten so die offizielle Informationshoheit. Bis heute gibt es keine unabhängige Untersuchung über den genauen Ablauf des unzweifelhaft brutalen Überfalls mit unschuldigen Opfern, dafür eine Anzahl von Rücktritten hochrangiger israelischer Verantwortungsträger aus Militär und Geheimdienst.
Wie so häufig gibt es in einem Krieg selten Gewinner. Auf beiden Seiten verlieren Menschen ihr Leben. Sie sind die grössten Verlierer. Auch internationale Organisationen gehören zu den Verlierern: «Der grosse Verlierer dieses Krieges ist die Charta der Vereinten Nationen», die das Ziel «künftige Generationen von der Geissel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat» nicht erreicht hat.
Der Konflikt zeigt aber auch das Versagen der Uno, die nicht in der Lage ist, «den völkerrechtswidrigen Vernichtungskrieg eines UN-Mitgliedsstaates – Israel – zu stoppen.» (S. 125) Auch die EU gehört zu den Verlierern, «die Staatsraison und geopolitische Interessen über die Interessen der Völker einer Region stellen, nur weil es dort Rohstoffe gibt und einige der wichtigsten Meerengen für internationalen Handel. Die EU-Mitgliedsstaaten und die Institutionen haben vor allem ihre Glaubwürdigkeit verloren.» (S. 126)
Diesen Staaten obliegt eine Mitschuld an der Politik Israels, die das Völkerrecht nach eigenem Gutdünken umsetzen oder auch nicht. «Jeder Krieg Israels, denen bis heute zahlreiche folgen sollten, war von rücksichtsloser Gewalt gegen die Zivilbevölkerung geprägt. Dörfer, Brunnen, Agrarland, Schulen und Krankenhäuser wurden zerstört. Den Menschen sollte die Möglichkeit zur Rückkehr genommen werden. Auf dem besetzten Land wurden Militärbasen und Siedlungen errichtet. Von Anfang an wurde Israel von den USA und Grossbritannien, Frankreich und schliesslich auch von Deutschland unterstützt.»
Israel jagt, von seinen Verbündeten mit Waffen unterstützt, die Palästinenser wie Viehherden von einer Ecke des Gazastreifens in die andere. Es bombardiert erneut grossflächig das Gebiet und zerstört die Gebäude, die den über ein Jahr andauernden Bombenhagel überstanden haben. Die Bilanz der Zerstörungen ist verstörend: «Mehr als 75 000 Tonnen Sprengstoff wurden demnach von der israelischen Luftwaffe auf Gaza abgeworfen. Es gibt schätzungsweise 42 000 Tonnen Trümmer, teilweise mit Giftstoffen kontaminiert. 150 000 Häuser wurden zerstört, mehr als 3000 Kilometer Stromkabel wurden vernichtet, 123 Schulen wurden zerstört. Mindestens 750 Lehrer/Lehrerinnen und mindestens 11 500 Schüler und Studierende wurden getötet [ … ]» (S. 98) Die Liste der Zerstörungen ist um einiges länger, und unter den Trümmern liegen weitere Tote. Das alles übersteigt unser Vorstellungsvermögen.
Diplomatie anstatt Konfrontation
Karin Leukefeld richtet ihren Fokus nicht nur auf den Konflikt Israels mit den Palästinensern, sondern auf die ganze Region. Trotz aller Gewalt und menschlicher Abgründe entsteht dort, von unseren Medien wenig beachtet, etwas Neues, was Frieden in der Region schaffen will. Sie beschreibt, wie langsam eine Neuordnung, ein gemeinsamer Wille auf Frieden Formen annimmt. Länder, die seit Jahren verfeindet waren, bauen langsam wieder Vertrauen zueinander auf, auch wenn das Ganze von vielen Faktoren beeinflusst wird. «Der Iran startete diplomatische Beratungen im Libanon, in Syrien und mit Irak. Gespräche wurden mit den arabischen Golfstaaten, mit Ägypten und der Türkei geführt. In Katar nahmen sowohl der iranische Präsident als auch der iranische Aussenminister an einem Gipfeltreffen asiatischer Staaten teil, der Golfkooperationsrat versicherte dem Iran, bei einem eventuellen Angriff Israels neutral zu bleiben und den arabischen Luftraum nicht für israelische Kampfjets zur Verfügung zu stellen.» (S. 121)
Offensichtlich ist vieles in Bewegung. Was bei der Drucklegung des Buches noch aktuell gewesen ist, kann sich innerhalb kürzester Zeit verändern. Dennoch, das Buch ist keine Momentaufnahme, sondern liefert viele Informationen und zeigt viel Mitgefühl für die Menschen in einer schier ausweglosen Situation. Es ist eine gelungene, facettenreiche Zusammenschau einer Konfliktsituation, ihrer Entstehung und ihrer Entwicklung. Das Leid der Zivilbevölkerung berührt die Herzen der Leser, wenn sie nicht vom medialen Einheitsbrei «eingefroren» sind. ■
- Leukefeld, Karin: Krieg in Nahost – Geopolitik, Verwüstung, Widerstand und Aufbruch einer Region. Berlin 2025. ISBN-13: 978-3-910568-15-0 ↩︎
- https://unric.org/de/sonderberichterstatterin-sieht-vernuenftige-gruende-fuer-annahme-des-voelkermordes-in-gaza/ ↩︎