«Wir akzeptieren eine destruktive Politik, die vom Völkerrecht und den Vereinten Nationen eindeutig verurteilt wird»
Interview mit Jacques Baud*
Zeitgeschehen im Fokus Die Lage im Nahen Osten muss als Ganzes betrachtet werden, dennoch haben wir in den einzelnen Staaten verschiedene Entwicklungen. Ich würde gerne mit Syrien anfangen. Die neue Regierung ist seit November 2024 an der Macht. Was hat sich dadurch im Kräfteverhältnis der Akteure im Nahen Osten verändert?
Jacques Baud Zunächst einmal muss man verstehen, dass alles, was im Nahen Osten – und in Syrien im Besonderen – geschieht, darauf abzielt, die Machtverhältnisse in der Region zu verändern.
Israel hatte immer das Gefühl, dass seine geopolitische Umgebung ihm grundsätzlich feindlich gesinnt sei. Alle seine Nachbarn waren grosse und mächtige Länder. Israels Strategie bestand daher darin, sie zu spalten und in interne Konflikte zu treiben, damit sie nicht in der Lage waren, es anzugreifen.
Die Idee einer Aufteilung Syriens kam im Februar 1982 mit dem Yinon-Plan auf, der unter der Ägide der Zionistischen Weltorganisation unter dem Titel «Eine Strategie für Israel in den 1980er Jahren» veröffentlicht wurde.1 In seiner ursprünglichen Form bildete dieser «Plan» nie einen offiziellen Bestandteil der israelischen Sicherheitspolitik, doch er inspirierte sie definitiv.
Der Plan wurde 1996 in Form einer Strategie für die Regierung von Benjamin Netanjahu wieder aufgegriffen. Er findet sich auch in einem Geheimdokument der Defense Intelligence Agency (DIA) aus dem Jahr 2012. Damals ging es darum, einen kurdischen Staat im Nordosten des Landes (in Gebieten, die sie historisch nie besetzt hatten) sowie ein «salafistisches Fürstentum» im Südosten zu schaffen und die schiitische, alawitische und christliche Bevölkerung auf den Westen des Landes zu konzentrieren. Er folgt in seinen Grundzügen dem israelischen Yinon-Plan.
Das erklärt die israelische Unterstützung für die islamistische Opposition, einschliesslich des Islamischen Staates (IS), die in den Jahren 2011 bis 2013 zu beobachten war.2 Im Übrigen ist der Islamische Staat im Gegensatz zu dem, was unsere Politiker – insbesondere in der Schweiz – erzählt haben, energisch gegen die palästinensische Hamas und hat ihr sogar den Krieg erklärt.3 In Wirklichkeit hat der Westen den Islamischen Staat nicht wirklich bekämpft, sondern ihn benutzt, um die syrische Regierung zu destabilisieren.4 Das ist es, was wir heute beobachten.
Die Machtübernahme der Hayat Tahrir al-Scham (HTS) im Dezember 2024 ist das Ergebnis einer Verkettung von Umständen. Erstens, Tayyip Erdoğans Bedürfnis nach aussenpolitischen Erfolgen, um seine innenpolitischen wirtschaftlichen Probleme zu verbergen. Zweitens, Israels Bedürfnis, irgendeine Form von Erfolg vorzuweisen und eine Situation zu schaffen, die droht zu einem allgemeinen Konflikt zu werden, um die Amerikaner dazu zu bringen, in der Region zu intervenieren. Drittens, betrachtet die Ukraine Syrien als strategische Priorität für Russland, und ein Erfolg gegen Damaskus würde die Aufmerksamkeit von den militärischen Misserfolgen im eigenen Land ablenken.5 All dies mit dem Segen der Biden-Administration, in Fortsetzung der Obama-Regierung, um Syrien zu destabilisieren.
Heute spiegelt die Aufteilung des syrischen Territoriums das wider, was der Yinon-Plan vorsah, aber wahrscheinlich nicht mit dem gleichen Nutzen für Israel.
Zunächst stärkte der Sturz von Baschar al-Assad die militärische Position der Türkei, insbesondere gegenüber den Kurden. Heute scheint es jedoch, dass die Türkei die Kontrolle über das, was im Land geschieht, nicht mehr hat. Insbesondere angesichts der Massaker, die im März in der Gegend von Latakia verübt wurden.
Was Israel betrifft, so hat sich die Lage nicht wirklich verbessert. Am Tag nach der Machtübernahme durch die HTS konnte man in Istanbul den Slogan «Gestern Hagia Sophia. Heute Umayyaden. Morgen Al-Aqsa» sehen. Mit anderen Worten: Der Teil der muslimischen Welt, der Israel am feindlichsten gegenübersteht, ist näher zusammengerückt.
Ausserdem ist zu bedenken, dass der «Kriegsname» «Mohammed al-Jolani» im klassischen Arabisch transkribiert wird, in der Region wird er jedoch als «Mohammed al-Golani» ausgesprochen. Er stammt von den Golanhöhen, die heute von Israel besetzt sind. Dies erklärt, warum die neuen Behörden in Damaskus Israel sehr schnell vor seiner Präsenz und seinen Schlägen auf syrischem Territorium warnten.6 Israel seinerseits hat Syrien eindeutig gedroht.7
Das Problem ist, dass Israel nie in der Lage war, die Beziehungen zu seinen Nachbarn im Dialog zu entwickeln. Alle Friedensbemühungen, die in der Region unternommen wurden, wurden von den USA angeführt. Man wird einmal mehr feststellen, dass die Europäische Union – die zwar ein Programm für den Mittelmeerdialog hat – nicht in der Lage ist, in dieser Region eine diplomatische Rolle zu übernehmen.
Gibt es eine plausible Erklärung, warum der Westen mit einem Al-Kaida Ableger (erst Al Nusra und jetzt HTS), der auf der Terrorliste steht, zusammenarbeitet und ihn finanziell unterstützt? Oder: In der Schweiz wird ein Mensch wegen seiner Nähe zum IS bestraft, während Abu Mohammed el-Jolani, der für Tausende von Toten verantwortlich ist, vom Westen Geld bekommt.
Zunächst einmal zeigt dies den sehr relativen Charakter der Bezeichnung «terroristisch». Der Zweck, eine Einheit als terroristisch zu bezeichnen, sollte darin bestehen, eine Strategie zu ihrer Bekämpfung festzulegen. Heute wird sie ausschliesslich zu Strafzwecken verwendet. So können härtere Strafen verhängt werden, aber die Sicherheit wird nicht erhöht! Sehen Sie den Widerspruch: Die HTS wird von den Vereinten Nationen als terroristische Bewegung eingestuft, und man beeilt sich, sie zu finanzieren, während die Hamas von den Vereinten Nationen nicht als terroristisch eingestuft wird,8 und man versucht, sie als terroristisch einzustufen, um die von Israel begangenen Kriegsverbrechen zu rechtfertigen.
Wir befinden uns in einer Schizophrenie, die sich nur dadurch erklären lässt, dass wir die Politik Israels machen. Dabei bemerken wir nicht, dass sich das alles gegen Israel wendet, und manchmal frage ich mich, ob unsere Minister, Parlamentarier und Journalisten nicht alle tief im Innern Antisemiten sind.
In Wirklichkeit verstehen wir absolut nichts von diesem Konflikt und den Mechanismen, die zum Terrorismus führen. In der Schweiz sind wir dabei, genau dieselben Fehler zu machen, die die Franzosen und Deutschen 2014 bis 2015 gemacht haben. Obwohl diese beiden Länder nicht bedroht waren, haben sie buchstäblich die Bedingungen für die Anschläge des Islamischen Staates geschaffen, die sie in dieser Zeit erlitten haben. Wenn ich das Postulat von Christian Imark (SVP) vom 4. Mai 2017 lese, in dem er fordert, «die Hamas zu verbieten oder als terroristische Organisation einzustufen», stelle ich fest, dass unsere Abgeordneten nicht nur lügen, sondern auch völlig ahnungslos sind, was die Mentalität und die Nuancen angeht, mit denen wir den Nahen Osten verstehen müssen.9
Die kürzliche Verhaftung von Ali Abunimah, einem kanadischen Journalisten, durch Mario Fehrs Dienste in Zürich im Februar 2025 gegen den Rat unseres Geheimdienstes ist ein Glanzstück an Dummheit, Ignoranz und fehlendem strategischem Gespür.10 Das hat der Schweiz ein schlechtes Image beschert, aber mehr noch als das, man kann davon ausgehen, dass Herr Fehr das Risiko von Terroranschlägen in der Schweiz um das Hundertfache erhöht hat. Nicht durch Palästinenser, denn Palästinenser führen keine Anschläge ausserhalb des historischen Palästinas durch, sondern durch andere Bewegungen, die nichts mit Palästina zu tun haben, die aber von nun an die Schweiz als feindliches Land wahrnehmen werden.
Aus diesem Grund spricht man auch von einem «asymmetrischen Konflikt» und nicht von einem «dissymmetrischen Konflikt». Dies ist leider ein im Westen sehr schlecht verstandenes Konzept, und weil wir es nicht verstehen, schaffen wir selbst die Voraussetzungen für Terrorismus. Alle Anschläge, die Europa seit 2014 getroffen haben, waren vorhersehbar. Ohne Ausnahme.
Auf der einen Seite gibt die EU-Geld, auf der anderen Seite bombardiert Israel fast täglich Syrien und zerstört die Infrastruktur. In welcher Logik befinden wir uns hier?
Zunächst müsste man definieren, was man als «Syrien» bezeichnet! Heute handelt es sich um ein Land, das zwischen rivalisierenden Gruppierungen aufgeteilt ist. Wir befinden uns in der vom Yinon-Plan vorgesehenen Situation.
Das Problem hier ist, dass der Westen keine Ziele hat. Er führt Kriege für Israel. Der Westen war der Hauptakteur im Krieg, der das Land ab 2011 erschütterte. Es war der Westen, der die Islamisten ins Land brachte, indem er sie aus dem Irak zurückdrängte.11 Es war der Westen, der sie bewaffnet hat.12 Es war der Westen, der den Machtwechsel herbeigeführt hat. Es ist der Westen, der sich darüber freut.13
Wenn man sieht, wie die europäischen Führer auf die Situation in der Ukraine, in Palästina oder in Syrien reagieren, wirft das die Frage auf, wen wir eigentlich wählen. In keinem dieser Konflikte haben sie eine Exit-Strategie. Sie versuchen, erst zu handeln, wenn die Lage aussichtslos wird, wie in der Ukraine, aber nie vorher, wenn man Massaker verhindern kann. Nie wird eine auf Dialog basierende Strategie antizipiert.
Wir haben es mit einer echten Krise der Demokratie zu tun, denn ich glaube nicht, dass unsere Bevölkerungen die Art und Weise, wie die Angelegenheiten des Nahen Ostens gehandhabt werden, befürworten. Unsere Aussenminister sind zu Kriegsministern geworden. Die Annalena Baerbock, Jean-Noël Barrot, David Lammy oder Kaja Kallas sind eindeutig Individuen, die nicht das intellektuelle Niveau haben, das für ihr Amt erforderlich ist.
Wenn Annalena Baerbock sagt, dass die palästinensische Bevölkerung keinen Anspruch mehr auf den im humanitären Völkerrecht (HVR) vorgesehenen Schutz habe, weil sich in ihrer Mitte Kämpfer versteckten, wiederholt sie nicht nur genau das, was die deutschen Behörden bereits zwischen 1941 und 1945 in Frankreich und den Ostblockländern gesagt hatten, sondern sie verstösst auch gegen das HVR. Hat Deutschland also nichts aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt?
Kann man feststellen, dass die Position Irans seit dem Abtritt Assads geschwächt ist?
Zu Beginn vielleicht, aber jetzt nicht mehr. Zunächst einmal muss man zugeben, dass Baschar al-Assad nicht mehr wirklich die Kontrolle über einen Teil seines Landes hatte. Das Problem ist nicht so sehr die Position des Iran, sondern die Fähigkeit der libanesischen Hisbollah, politische und möglicherweise logistische Unterstützung zu erhalten.
Zweifellos hat die Hisbollah ihre wichtigsten Versorgungslinien durch Syrien verloren, aber für wie lange? Den Palästinensern in Gaza ist es gelungen, Versorgungslinien über ein viel kleineres Gebiet ohne strategische Tiefe aufzubauen. Zweifellos wird es der Hisbollah schnell gelingen, ihre Logistik wieder aufzubauen.
Darüber hinaus hat al-Jolani, obwohl Syrien versucht hat, gegen die Waffenlieferketten der Hisbollah vorzugehen, «respektvolle» Beziehungen zu Russland und dem Iran angestrebt. Er möchte, dass Russland seine Präsenz in Syrien aufrechterhält und strebt wahrscheinlich eine Zusammenarbeit mit dem Iran in der Libanonfrage an.14
Mit anderen Worten: Israel hat sich wieder einmal im Gegner getäuscht. Das Besondere an Israel ist, dass es, obwohl es seit 2000 Jahren seine Zugehörigkeit zur Region beteuert, nichts davon versteht. Es verfolgt eine westliche Logik. Netanjahu ist polnischer Abstammung (wirklicher Name: Mileikowsky), Bezalel Smotrich ist ukrainischer Abstammung, Ben Gurion kam aus Polen, Shimon Peres kam aus Polen, Golda Meir kam aus der Ukraine, Ehud Olmert kam aus der Ukraine, Ehud Barak kam aus Litauen, Ariel Sharon aus Georgien, und so weiter.
Das erklärt zwei Dinge:
Erstens: Weil sie unfähig waren, sich in eine Kultur zu integrieren, die sie nicht verstanden, führten sie Krieg gegen sie. Solange es keine israelische Führung gibt, die aus dem Nahen Osten stammt (Misrahi), wird Israel nicht in der Lage sein, mit seinen Nachbarn zu reden, und wird sich mit ihnen in einem Konflikt befinden.
Zweitens stammen all diese Führer (und der Grossteil der Bevölkerung) aus Kulturen, die aus verschiedenen historischen und manchmal berechtigten Gründen Russen und Europäer hassen. Das erklärt, warum man im politischen und militärischen Verhalten der Ukraine und Israels die gleichen Probleme beobachtet. Die Kontexte sind unterschiedlich, aber die Art und Weise, wie die Probleme angegangen werden, ist genau die gleiche. Ausserdem sind in beiden Fällen die Informationen, die uns erreichen, so verzerrt, dass wir nicht verstehen können, warum diese beiden Länder scheitern.
Um auf den Iran zurückzukommen: Seine Position hat sich erheblich gestärkt. In Syrien stehen die neuen Behörden dem Iran nicht feindlich gegenüber, wie es die westliche Logik nahelegen könnte. Zweitens tragen die stärkeren Verbindungen zwischen dem Iran und der arabischen Gemeinschaft dazu bei, dass der Iran zu einem vollwertigen und respektierten Akteur in der Region wird. Zweitens haben ihm die 2024 und 2025 mit Russland unterzeichneten Abkommen eine strategische Tiefe verliehen, die selbst die neuen Behörden in Damaskus respektieren.
Die USA haben gedroht, dass sie die Angriffe der Houthi-Rebellen als Angriffe des Irans auf die USA werten. Besteht hier die Gefahr eines Kriegs zwischen den USA (Israel) und dem Iran?
Hier betreten wir den Bereich des Irrationalen. Im Gegensatz zum israelischen und westlichen Narrativ sind die Houthis keine «Stellvertreter» des Iran. Der Begriff «Stellvertreter» bedeutet, dass es ein gewisses Mass an Kontrolle eines Akteurs über einen anderen gibt. Zwar liefert der Iran höchstwahrscheinlich an die Houthis Waffen, aber die Houthis machen nicht die Politik des Iran. Sie sind ein unabhängiger Akteur, wie übrigens auch das israelische Nationale Institut für Sicherheitsstudien (INSS) feststellt.15 Die Houthis führen derzeit eine Kampagne gegen Israel im Rahmen der «Schutzverantwortung» (R2P), die eines der Prinzipien der Vereinten Nationen ist.16
R2P bedeutet, dass jeder Staat die Verantwortung hat, seine Bevölkerung zu schützen. Dies gilt insbesondere für Israel, das rechtlich dafür verantwortlich ist, die palästinensische Bevölkerung zu schützen, da diese unter einer Besatzung steht, die wahrscheinlich die brutalste in der Geschichte ist. Wenn dieser Staat nicht in der Lage ist, dies zu tun, muss die internationale Gemeinschaft ihm helfen, Massnahmen zum Schutz dieser Bevölkerung zu ergreifen. Wenn diese Hilfe nicht funktioniert, dann liegt es in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, einzugreifen. Genau das tun die Houthis, um Israel dazu zu bringen, einen Waffenstillstand durchzusetzen.
Tatsächlich haben die Houthis ein Embargo gegen den israelischen Hafen Eilat verhängt und versuchen, Schiffe davon abzuhalten, dort anzulegen. Heute ist der Hafen von Eilat geschlossen und stellt für Israel sicherlich ein Problem dar.17
Das Problem ist, dass die amerikanische Sicht auf die Welt immer noch vereinfacht ist. Die von Donald Trump beschlossenen Schläge zeigen, dass sich die neue Regierung im Vergleich zu früheren Regierungen nicht viel verändert hat und immer noch nicht verstanden hat, wie Probleme zu lösen sind. Das jüngste «Signalgate» hat aber auch gezeigt, dass es innerhalb des Trump-Teams sehr unterschiedliche Ansichten gibt und dass J D Vance nicht für diese Schläge war.18 Sie wurden übrigens ohne Rücksprache mit dem Kongress durchgeführt,19 mit dem Ziel, ein Signal an den Iran zu senden.20
Allerdings ist die Besessenheit der USA gegen den Iran nicht mehr ganz nachvollziehbar. Bei der Vorstellung des Jahresberichts der Geheimdienstgemeinschaft vor den Kongressausschüssen sagte Tulsi Gabbard, Direktorin des Nationalen Nachrichtendienstes, folgendes: «Die Geheimdienstgemeinschaft bekräftigt weiterhin, dass der Iran keine Atomwaffen herstellt und dass der Oberste Führer Khamenei die Fortsetzung des Atomwaffenprogramms, das er 2003 ausgesetzt hatte, nicht genehmigt hat.»21 Mit anderen Worten: Der Iran stellt keine Bedrohung für Israel dar: Die beiden Länder haben keine territorialen oder sonstigen Streitigkeiten.
Die amerikanische Besessenheit ist schwer zu verstehen, wenn man das Problem von Europa aus betrachtet. Man muss es von Tel Aviv aus betrachten. Der Iran, der im Rücken sunnitischer Länder liegt, die als feindlich wahrgenommen werden, war lange Zeit Israels bester Verbündeter, auch nach der Ankunft Khomeinis im Jahr 1978. Doch in den späten 1980er Jahren, als die Amerikaner verschiedene Abkommen mit den arabischen Ländern schlossen, wurde Israel klar, dass es einen «besseren Feind» haben musste.
Die Idee der Israelis ist, dass ein grösserer Konflikt im Nahen Osten die Amerikaner zum Eingreifen zwingen würde und somit einen «Sicherheitsschirm» bieten würde. Dies ist der Grund für die ständigen Provokationen gegen den Iran. Das bedeutet, dass Israel mit zunehmender Verschlechterung seiner militärischen Lage dazu neigt, eine regionale Eskalation herbeizuführen.
Auf iranischer Seite ist eher eine Tendenz zur Beschwichtigung zu beobachten. Die vom Iran angewandte Doktrin der «strategischen Geduld» ist sehr ausgereift. Die Reaktionen der Iraner auf die israelischen Angriffe im Jahr 2024 zeigten eine bemerkenswerte Beherrschung der Technologie, aber auch der Strategie. Durch präzise und begrenzte Schläge ohne zivile Opfer (was die Israelis nicht können) haben die Iraner gezeigt, dass sie in der Lage sind, die israelische Luftabwehr unwirksam zu machen oder sogar das Land zu zerstören, falls dies erforderlich sein sollte. Wie ich bereits sagte, gibt es keine Streitigkeiten zwischen den beiden Ländern. Der Iran hat daher keinen Grund, Israel anzugreifen, da er weiss, dass er damit das amerikanische Feuer auslösen würde.
Israel hat erneut eine Bodenoffensive im Gaza-Streifen eröffnet, vermutlich um Trumps Vorschlag umzusetzen. Nach 18 Monaten massivster Bombardierung und dem Einsatz von Bodentruppen ist es Israel nicht gelungen, die Hamas unschädlich zu machen, aber dafür 50 000 und wahrscheinlich noch viel mehr Menschen, mehrheitlich Frauen und Kinder, zu töten. Warum gibt es kaum einen Staat in der westlichen Hemisphäre, der Israels Vorgehen ernsthaft kritisiert und Massnahmen ergreift? Warum lassen alle Israel gewähren, auch europäische Staaten einschliesslich einem Teil der arabischen?
Es ist nicht zu erklären. Israel ist wahrscheinlich das Land, das in der Geschichte am meisten gegen das humanitäre Völkerrecht verstossen und die grausamsten Verbrechen begangen hat, wie unzählige Resolutionen und Berichte der Vereinten Nationen belegen. Wir wissen heute, was wir im Oktober 2023 wussten: Die gegen die Palästinenser erhobenen Anschuldigungen waren falsch. Israelische Journalisten (die im Gegensatz zu unseren echte Journalisten sind) haben recherchiert und den Beweis erbracht, dass unsere Regierungen Benjamin Netanjahu und seine Politik unterstützen.
Abgesehen davon ist das eigentliche Problem nicht, ob die Palästinenser Verbrechen begangen haben oder nicht. Das eigentliche Problem ist, dass wir eine destruktive Politik akzeptieren, die vom Völkerrecht und den Vereinten Nationen eindeutig verurteilt und allein mit dem Recht zu antworten gerechtfertigt wird. Doch sowohl im Strafrecht als auch im Völkerrecht kann ein noch so schreckliches Verbrechen kein anderes rechtfertigen.
Seit Trump hat man das Gefühl, Israel kann noch mehr wüten als vorher. Warum unterstützt der Westen die mörderische Politik von Netanjahu?
Die Gaza-Krise zeigt den Zusammenbruch des humanitären Völkerrechts. Die Unfähigkeit des Internationalen Gerichtshofs, nach drei Jahren über die Frage des Völkermords zu entscheiden, obwohl er ihn als «plausibel» bezeichnet, veranschaulicht die Politisierung der Justiz im Westen.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat natürlich Haftbefehle gegen Benjamin Netanjahu und Yoav Gallant sowie gegen Ismail Hanieyh, Yaya Sinwar und Mohammed Deif ausgestellt. Es ist festzustellen, dass die westlichen Länder diese Haftbefehle und die Todesurteile gegen die Palästinenser gebilligt haben. Für Netanjahu ist es jedoch genau umgekehrt. Die USA, Ungarn und Belgien haben erklärt, dass sie ihn nicht verhaften werden.
Als ich in Afrika war, wurde ich im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Lord’s Resistance Army, eine Art christlicher Boko Haram, die im Südsudan, im Kongo, in Uganda und in der Zentralafrikanischen Republik operierte, mit der Frage des IStGH konfrontiert. Die Afrikaner hatten kein Vertrauen in den IStGH, sie sagten: «Das ist ein Gericht, das eingerichtet wurde, um Afrikaner zu verurteilen, nicht um Gerechtigkeit zu bringen.» Sie hatten Recht.
Tatsächlich hat der IStGH sich selbst verurteilt, als er einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin ausstellte. Russland ist nicht nur kein Mitglied des Römischen Statuts, sondern der IStGH hat auch keine Bewertung der Anklagepunkte gegen Putin vorgenommen. In Wirklichkeit handelte der IStGH politisch und nicht auf der Grundlage des Rechts. Von da an interpretiert und wendet jeder das Recht so an, wie es ihm gefällt. Darüber hinaus zeigen die von der Trump-Regierung gegen den IStGH verhängten Sanktionen,22 dass es nicht mehr um die Anwendung des Rechts geht, sondern um ein Machtverhältnis zwischen den westlichen Ländern und der internationalen Justiz. Wir verlassen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und befinden uns in denen der Bananenrepubliken.
Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
*Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.
- Oded Yinon, «A Strategy for Israel in the Nineteen Eighties», KIVUNIM (Directions), A Journal for Judaism and Zionism; Issue No, 14–Winter, 5742, Department of Publicity/The World Zionist Organization, Jerusalem, février 1982 ↩︎
- Elizabeth Tsurkov, «Inside Israel’s Secret Program to Back Syrian Rebels», Foreign Policy, 6 septembre 2018 ↩︎
- Iyad Abuheweila & Isabel Kershner, «Islamic State declares war on Hamas as Gaza families disown sons in Sinai», The Irish Times, 11 janvier 2018 (www.irishtimes.com/news/world/middle-east/islamic-state-declares-war-on-hamas-as-gaza-families-disown-sons-in-sinai-1.3351899) ↩︎
- Brad Hoff, «West will facilitate rise of Islamic State“in order to isolate the Syrian regime : 2012 DIA document», Foreign Policy Journal, 21 mai 2015 ; voir également: www.judicialwatch.org/wp-content/uploads/2015/05/Pg.-291-Pgs.-287-293-JW-v-DOD-and-State-14-812-DOD-Release-2015-04-10-final-version11.pdf ↩︎
- english.iswnews.com/36303/ukraine-tries-to-open-new-front-against-russia-in-syria/ ↩︎
- allisrael.com/de/rebellenfuehrer-jolani-sagt-israel-habe-keine-ausreden-mehr-fuer-angriffe-in-syrien-idf-chef-antwortet-wir-mischen-uns-nicht-ein ↩︎
- www.middleeasteye.net/news/israel-confirms-strike-syrian-capital-and-sends-warning-ahmed-al-sharaa ↩︎
- press.un.org/en/2024/sc15909.doc.htm ↩︎
- www.parlament.ch/fr/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20173309 ↩︎
- www.tagesanzeiger.ch/ali-abunimah-umstrittene-verhaftung-des-pro-palaestina-redners-501723533879 ↩︎
- Joe Romm, «Human-Caused Warming Helped Trigger Current Syrian Conflict and Rise of ISIS», thinkprogress.org, 3 mars 2015. ↩︎
- «Syrie: La France a livré des armes aux rebelles syriens», 20 Minutes/AFP, 21 août 2014 (mis à jour le 22 aout 2014) ↩︎
- www.politico.eu/article/syria-bashar-assad-eu-welcomes-collapse/ ↩︎
- www.rferl.org/a/syria-russia-iran-sharaa-trump-assad/33257139.html ↩︎
- www.inss.org.il/publication/houthi-problem/ ↩︎
- www.un.org/en/genocideprevention/about-responsibility-to-protect.shtml ↩︎
- www.ynet.co.il/economy/article/r1tzai11rjx ↩︎
- www.thenation.com/article/world/vance-democrats-opposition-yemen-war/ ↩︎
- www.rightsanddissent.org/news/trump-bombs-yemen-without-congressional-approval/ ↩︎
- www.rferl.org/a/us-airstrikes-houthis-yemen-iran-tensions-2025/33350545.html ↩︎
- www.intelligence.senate.gov/sites/default/files/ATA 2025 – 24 Mar – Unclass – Final-Final Version.pdf ↩︎
- https://www.whitehouse.gov/presidential-actions/2025/02/imposing-sanctions-on-the-international-criminal-court/ ↩︎