Interview mit dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko
Zeitgeschehen im Fokus Bei unserem letzten Interview war Ihre Partei, das BSW, aufgrund der Abstimmungsunregelmässigkeiten daran, die Verkündung des offiziellen Endergebnisses zu verhindern. Das wurde jedoch vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Mit welcher Begründung?
Andrej Hunko Wir hatten aufgrund der vielen Unregelmässigkeiten versucht, eine einstweilige Verfügung zu erwirken, bevor das amtliche Endergebnis bekannt gegeben wurde. Das Gericht verwies auf das in Deutschland immer noch gültige zweistufige Verfahren: Bevor das Verfassungsgericht entscheidet, geht eine Wahlbeschwerde erst an den Wahlprüfungsausschuss des neuen Bundestags, der hier zunächst Richter in eigener Sache ist. Sollte es die von uns angestrebte Neuauszählung geben und das BSW tatsächlich noch in den Bundestag einziehen, dann würde nicht nur die neue Regierung fallen – sie hätte keine Mehrheit mehr – sondern über 30 Abgeordnete müssten dann den Bundestag verlassen, darunter möglicherweise die amtierende Parlamentspräsidentin.
Es ist offensichtlich, dass hier ein gewaltiger Interessenskonflikt beim Wahlprüfungsausschuss des neuen Bundestages besteht. Das hatte auch die OSZE schon 2017 in ihrem Bericht zur Bundestagswahl in Deutschland bemängelt. Die OSZE kritisierte «ein System, wo der gewählte Bundestag die Rechtmässigkeit der Wahl seiner eigenen Mitglieder überprüft», was «Fragen zu Interessenskonflikten aufwerfen» würde.
Schlimmer noch: Nach dem deutschen Wahlrecht gibt es keine zeitliche Begrenzung für den Wahlprüfungsausschuss des neuen Bundestags, das Beschwerdeverfahren abzuschliessen. Erst nach einem solchen Abschluss steht dem BSW der reguläre Weg zum Bundesverfassungsgericht frei, das dann in der Sache entscheiden muss. Bei der Bundestagswahl 2021 entschied das Gericht auf Neuwahl einiger Berliner Wahlkreise – im Dezember 2023!!
Die Neuwahl fand dann im Februar 2024 statt, also fast zweieinhalb Jahre nach der Bundestagswahl, und führte auch zu einigen Mandatswechseln.
Dazu schrieb die OSZE bereits 2017: «So ein langer Prozess wirft Fragen zur Effizienz und zum zeitnahen Schutz von Wahlrechten auf und steht im Widerspruch zu den OSZE-Verpflichtungen als auch anderer internationaler Verpflichtungen und Standards». In der Tat gibt es meines Wissens kein anderes europäisches Land, das ein so schlechtes Beschwerdesystem hat. Das ist schon öfter international kritisiert worden, geändert wurde bislang nichts. Friedrich Merz wird also möglicherweise von einem nicht einwandfrei legitimierten Bundestag zum Kanzler gewählt.
Zwischen vorläufigem und amtlichem Endergebnis wurden dem BSW noch 4277 Stimmen mehr zugeschrieben, damit fehlen nur noch rund 9500 Stimmen. Dabei wurde aber nur ein Teil der Unregelmässigkeiten korrigiert. Wir fordern eine vollständige Neuauszählung.
Wo kommen die Stimmen denn her?
Sie ergaben sich aufgrund einer teilweisen Überprüfung der Beschwerden, die wir in verschiedenen Wahllokalen oder Wahlbezirken erhoben hatten, wenn es von aussen sichtbare Auffälligkeiten gab. Das war von unserer Seite her nicht systematisch, sondern eher nach dem Zufallsprinzip. Wenn es offensichtlich war, wie in einem Wahllokal in Aachen, dann schaute man das genauer an.
Wir haben jetzt also die 4277 Stimmen mehr bekommen und gehen davon aus, dass nach wie vor viele nicht entdeckt wurden und wir bei einer Neuauszählung über die Fünf-Prozent-Hürde kämen.
Da geht es nicht nur um die Stimmen, die von aussen offensichtlich auffallen, sondern auch um Stimmen, die nicht auffallen, vor allen Dingen falsch-ungültig deklarierte BSW-Stimmen. Es gibt Berichte darüber, dass Stimmen fälschlicherweise als ungültig deklariert wurden. Das hat man zum Beispiel dadurch herausgefunden, dass bei einem Direktkandidaten in einem Wahlkreis in Berlin das Ergebnis sehr knapp war. Daraufhin wurden zwölf Wahllokale neu ausgezählt, und dabei bekamen wir drei Stimmen mehr, obwohl wir gar nicht damit gerechnet hatten. Von aussen war das nicht erkennbar. Wenn man das jetzt auf rund 95 000 Wahllokale hochrechnet, müsste nur in jedem neunten Wahllokal eine Stimme falsch ungültig deklariert sein, um die fehlenden Stimmen zu erreichen.
Unter diesen Umständen sind die Chancen gross, dass die 9500 Stimmen erreicht werden.
Das kann man natürlich nicht sicher sagen, aber ich gehe mit hoher Wahrscheinlichkeit davon aus, dass wir bei einer kompletten Neuauszählung über die nötigen fünf Prozent kämen. Das Wahlrecht gebietet eine Neuauszählung bei Mandatsrelevanz. Die ist hier offensichtlich gegeben. Dann wären die politischen Implikationen enorm. Das ist keine Spielerei oder, wie wir sagen, «kein Kinkerlitzchen», sondern es ist unglaublich relevant. Es wundert mich schon, mit welcher Nonchalance auch in der medialen Berichterstattung das alles übergangen wird.
Im April war Session der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Konnten Sie die Unregelmässigkeiten bei der Stimmenauszählung und die Frage der Neuauszählung zur Sprache bringen?
Ja, ich thematisierte das und bekam von meiner eigenen Fraktion sehr viel Rückendeckung, womit ich so nicht gerechnet hatte. Sie unterstützte mich sehr. Auch alle anderen Abgeordneten, mit denen ich darüber sprechen konnte, unterstützten mich. Das hatte ich so nicht erwartet, denn im Europarat hat niemand Lust, sich mit Deutschland zu beschäftigen. Man beschäftigt sich lieber mit Georgien, mit Ländern, die möglichst weit weg liegen. Auch hat Deutschland den Ruf, dass alles in bester Ordnung sei. Wenn man es schafft, dass einem jemand zuhört – und ich habe mit Abgeordneten aus vielen Ländern gesprochen – zeigten sie sich richtig erschüttert über diese eklatanten Defizite in Deutschland.
In den meisten Ländern sind die Hürden für eine Neuauszählung gar nicht so hoch. Gerade bei einem so knappen Ergebnis ist es eine Selbstverständlichkeit, die Stimmen neu auszuzählen. Dass es in Deutschland kein sinnvolles Verfahren gibt und ein schreiender Interessenskonflikt besteht, weil das neue Parlament erst einmal darüber befindet, ob es zu einer Neuauszählung kommen soll, ist auf ganz viel Unverständnis gestossen und einigen sichtlich schwergefallen, das zu glauben.
Wie ist der Entscheidungsprozess, der sich im neuen Parlament vollzieht?
Es gibt einen Wahlprüfungsausschuss, der sich nach den Mehrheitsverhältnissen des neuen Parlaments zusammensetzt. Es sind auch nur die Parteien vertreten, die im Parlament sitzen. Er wird irgendwann dem neuen Bundestag einen Bericht vorlegen, der dann darüber entscheidet.
Sie wollten mit dem Anliegen an die Parlamentarische Versammlung gelangen. Konnten Sie etwas Konkretes in Strassburg erreichen?
Die Fraktion der Vereinigten Linken hat im Europarat eine Erklärung, eine «Written Declaration», eingebracht und sammelt dafür noch Unterschriften. Diese Erklärung richtet sich an den deutschen Bundestag. Darin wird gefordert, dass vor der nächsten Sitzungswoche der Parlamentarischen Versammlung des Europarats im Juni 2025 der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags entschieden haben und eine Neuauszählung in Betracht ziehen soll. Das ist sehr milde formuliert mit dem Verweis darauf, dass erst dann den Beglaubigungsschreiben der neuen deutschen Delegation stattgegeben werden kann.
Was haben die Beglaubigungsschreiben für eine Bedeutung?
Wenn eine neue Delegation in die Parlamentarische Versammlung kommt, und das ist nach einer nationalen Parlamentswahl der Fall, gibt es in der Versammlung eine Abstimmung darüber, ob den «Credentials» (den Beglaubigungsschreiben) stattgeben wird oder nicht. Am ersten Montag der neuen Sitzungswoche werden die neuen Delegationen vom Präsidium der Parlamentarischen Versammlung zur Kenntnis gebracht mit der Frage, ob es bei einer Delegation einen Einspruch gibt. Wenn zehn Abgeordnete aufstehen, dann sind die «Credentials» in Frage gestellt. Innerhalb von zwei, drei Tagen muss es von der Versammlung einen Bericht geben. Über diesen wird abgestimmt. Das heisst, der Europarat muss sich mit dem Sachverhalt intensiv befassen. Das könnte jetzt bei der neuen deutschen Delegation aufgrund der erwähnten Problematik der Fall sein.
In der vorletzten Sessionswoche ging es um die Anerkennung der neuen georgischen Delegation. Deren Zulassung wurde nicht grundsätzlich abgelehnt, aber junktimiert an Neuwahlen. Daraufhin ist die georgische Delegation unter Protest abgezogen und hat auch an der nachfolgenden Sitzungswoche nicht mehr teilgenommen. Das könnte auch im Falle der deutschen Delegation geschehen und die «Credentials» von einer Neuauszählung oder zumindest von einer zeitnahen Entscheidung des Bundestages über unsere Wahlbeschwerde abhängig sein.
Wie stehen die Chancen auf Erfolg?
Es ist zumindest ein seriöser Versuch auf dieser Ebene. Aber es ist auch nicht einfach, denn man muss die Abgeordneten erst einmal dazu bringen, sich ernsthaft damit zu befassen.
Sie erwähnten vor kurzem, dass der Europarat keine gute Entwicklung nehme. Was meinen Sie genau damit?
Wir können beobachten, dass sich der Europarat immer mehr in die Richtung einer Nato+ entwickelt. Er beschäftigt sich zwar nicht mit militärischen Dingen, aber von der thematischen Ausrichtung wird das an verschiedenen Beispielen sichtbar. Mich erschreckte vor allem, dass in der letzten Woche etwa Georgien und Aserbaidschan in einen «Sack» gesteckt wurden, was den Stand der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit angeht. Dagegen protestierte ich, denn man will Georgien bestrafen, weil das Land sich nicht an der Konfrontation mit Russland beteiligen wollte.
Es wird dann flugs zum autoritären Staat deklariert, dem die demokratischen Staaten gegenüber stünden. Wenn man sich geopolitisch von den westlichen Vorgaben abwendet, wie etwa Georgien oder die Slowakei, die auch immer wieder erwähnt wird, erhält das entsprechende Land das Stigma eines autoritären Staates. Das ist umso bedauerlicher, als es tatsächlich eine Tendenz zu autoritären Entwicklungen gibt, aber eben auch in prowestlichen Ländern.
Diese Tendenz der Stigmatisierung aufgrund geopolitischer Motive wird immer stärker. Am frappierendsten ist die Stellungnahme zu Georgien. Dazu habe ich auch gesprochen. Ich finde es ein Unding, denn mit dem Verhalten gegenüber Georgien hat sich die Parlamentarische Versammlung einmal mehr in eine Sackgasse manövriert. Durch dieses Junktim an Neuwahlen als Voraussetzung für die Erteilung der «Credentials» sind die georgischen Abgeordneten nicht mehr in der Parlamentarischen Versammlung vertreten, aber in allen übrigen Körperschaften des Europarats sind sie weiterhin kooperative Partner wie im Ministerkomitee, der Venedig-Kommission oder dem Antifolter-Komitee und so weiter. Die Versammlung steht jetzt wieder genauso inkompetent da wie 2014 im Fall der russischen Delegation, damals war die Situation im Europarat genau gleich. Das ist nur peinlich.
Was will die Parlamentarische Versammlung damit erreichen?
Das ist die Strategie, um letztlich die «geopolitische Diversität» zu verhindern. Eigentlich bräuchte es solche Austauschformate wie diese Versammlung, aber mit geopolitisch unterschiedlich ausgerichteten Ländern. Die Härte, mit der die Versammlung, aber auch das EU-Parlament und andere westliche Akteure, nach der Wahl in Georgien dem Land gegenüber aufgetreten ist, hat nichts mit der Wahl selbst zu tun, sondern damit, dass die regierende Partei sich aussenpolitisch multivektoriell aufstellen und nicht in die Konfrontation mit Russland hineingezogen werden will. Sie wollen sich zum aktuellen Krieg neutral verhalten. Das wird nicht akzeptiert. Eine eigenständige Aussenpolitik, die die Georgier eingeschlagen haben, um nicht in der Konfrontation zermahlen zu werden, soll unterbunden werden. Was es bräuchte, und das habe ich gefordert, ist eine Respektierung unterschiedlicher geopolitischer Ausrichtungen.
Widerspiegelt das nicht die Stimmung, die wir grundsätzlich in Europa haben?
Absolut, in der EU ist das noch viel schlimmer. Von der Leyen hat selbst gesagt, dass sie eine geopolitische Kommission seien. Wer aus der Reihe tanzt, massgeblich Ungarn und die Slowakei, bekommt Ärger. Über die vielen Jahre im Parlament habe ich den Eindruck gewonnen, dass die treibenden Kräfte einer solchen Politik tatsächlich in den Medien sitzen. Ich nenne das den «medial geheimdienstlichen Komplex». Die Einflussmöglichkeiten für die Dienste sind in den Medien effizienter als direkt über das Parlament. Das ist immer etwas schwieriger, findet aber auch statt. Aber es sind die Medien, die diese Stimmung machen, und die meisten Abgeordneten schauen, woher der Wind weht.
Herr Hunko, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser