Debatte im Europarat zum Gaza-Krieg
Interview mit dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko
Zeitgeschehen im Fokus Es gab in der letzten Session der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) eine Debatte über den Krieg in Palästina. Wie positioniert sich die Versammlung zur Entwicklung in Gaza?
Andrej Hunko Obwohl man international zu Recht öfter von Völkermord spricht, geht das Töten in Gaza weiter. Das Thema spielt in der vermeintlich führenden Menschenrechtsorganisation in Europa kaum eine Rolle. Bisher gab es von der Parlamentarischen Versammlung keine Erklärung, die das Vorgehen Netanjahus klar verurteilt. Es gab letztes Jahr im Januar eine Resolution mit der Forderung nach einem konditionierten Waffenstillstand.
Wer hatte die Resolution eingebracht?
Die kam aus den Reihen der Sozialdemokraten. Das klassische links-rechts Schema war in der Debatte sehr deutlich. Die konservativen und rechten Parteien haben den eingebrachten Text so abgeändert, dass das ursprüngliches Anliegen eines Waffenstillstand wirkungslos war, weil der Waffenstillstand an die israelischen Kriegsziele geknüpft wurde: Freilassung der Geiseln und Auflösung der Hamas. Damit hatte Netanjahu gewissermassen grünes Licht bekommen weiterzumachen. Das ist die gleiche Argumentationslogik wie im Ukraine-Krieg: Erst wenn alle Gebiete der Ukraine zurückgegeben werden, könne über einen Waffenstillstand und Verhandlungen geredet werden. Inzwischen ist das so unrealistisch, dass es keine ernsthafte Forderung mehr ist.
Gab es bei der letzten Session erneute Versuche, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen?
Ja, eine türkische Vertreterin brachte erneut einen Antrag auf eine Dringlichkeitsdebatte ein, den wir unterstützten. Der Antrag kam aus den Reihen der AKP und war in klarer Sprache formuliert und inhaltlich gut. Das Präsidium wandelte den Antrag gegen unseren Widerstand in eine Aktualitätsdebatte um.
Worin liegt der Unterschied?
Es gibt zwei Debattenformate zu aktuellen Themen. Das eine ist die Dringlichkeitsdebatte, «urgent affairs debate», die eine Resolution beinhaltet. Das andere ist die Aktualitätsdebatte, «current affairs debate», bei der es nur um eine Aussprache geht. Der Eingriff des Präsidiums ist bei diesem Thema leider nichts Aussergewöhnliches. Die Abgeordnete, die die Debatte gefordert hatte, durfte sie nicht einleiten. Das ist häufig der Fall. Das ist von Bedeutung, denn sie wäre die erste Rednerin gewesen. Damit hätte ihr eine Redezeit von 10 Minuten zugestanden. Das Präsidium übergab den Einleitungspart einem Luxemburger Christdemokraten. Was er sagte, war zwar nicht völlig verkehrt, aber er vermied eine klare Positionierung.
Damit wird natürlich kein Signal gesetzt. Bei der aktuellen Lage wäre das äusserst wichtig gewesen, insbesondere weil es keine Nahrungsmittel mehr in Gaza gibt und der Zustand der jetzt schon Unterernährten, vor allem Kinder, sich extrem verschlechtert. Gegen diesen Eingriff haben wir protestiert, auch die türkischen Kollegen anderer Parteien. Dann kam es zu einer absurden Situation. Unsere Rednerin, Sevim Dağdelen, rief am Ende ihrer Rede zu einer Schweigeminute für die Opfer der Gaza-Blockade auf, der viele Abgeordnete spontan Folge leisteten. Doch der Präsident der Versammlung unterbrach diese, obwohl am Tag zuvor aus einer Rede heraus eine Schweigeminute für die Opfer des jüngsten russischen Angriffs ohne Intervention des Präsidiums abgehalten wurde. Das ist unglaublich. Das sind die doppelten Standards, die man immer wieder wahrnimmt. Offiziell stimmt es, dass eine Gedenkminute beim Präsidium beantragt werden muss. Man darf aus einer Rede heraus nicht dazu auffordern. Aber im Fall der Ukraine wurde die Gedenkminute ohne Antrag geduldet, aber bei Gaza wurde sie mit dem Verweis auf die Regel unterbunden.
Wie reagierte die Rednerin darauf?
Nachdem der Präsident interveniert und auf das Reglement verwiesen hatte; sagte unsere Rednerin: «Ich beantrage das hiermit.» Das blieb erfolglos. Am Ende der Gesamtdebatte wurde aber ein anderer Antrag umgesetzt, der eine Gedenkminute für die Opfer des 7. Oktobers und alle weiteren Opfer in diesem Konflikt beantragte. Das ist natürlich etwas anderes. Die türkischen Kollegen verliessen aus Protest den Saal. Es geht nicht darum, die Opfer des 7. Oktobers nicht zu würdigen, aber es bekommt eine andere Bedeutung, insbesondere für die schreckliche Lage, in der sich die Palästinenser in Gaza befinden. Bei allen Gedenkminuten betreffend den Ukraine-Krieg wurde immer nur bestimmter russischer Angriffe gedacht und nicht allen Opfern dieses Kriegs. Diese Doppelmoral ist unglaublich und echten Friedensbemühungen nicht dienlich.
Wie verlief die Debatte im Allgemeinen?
Bei dieser Debatte war etwas sehr auffällig. Unsere Linksfraktion, ein Grossteil der sozialistischen Fraktion und die türkischen Abgeordneten sowie weitere aus Ländern ausserhalb der EU brachten gute und kritische Beiträge ein. Es gab immer Beifall, auch bei scharfen Reden. Es war wie ein Block, was sonst nicht der Fall ist, während die Christdemokraten, die Konservativen und ein Vertreter der Schweizer Volkspartei die Gegenseite darstellten, die aber kaum vertreten war, da es sich «nur» um eine Aktualitätsdebatte im Sinne einer Aussprache handelte. Die Reihen waren sehr gelichtet. Damit demonstrierten die Abgeordneten, dass sie die Aktualitätsdebatte nicht gross interessiert. Das war schon sehr auffällig und hatte sich bereits in ähnlicher Weise bei einer vorgängigen Debatte über den Palästinakonflikt abgespielt.
Wahrscheinlich lässt sich das auch in anderen europäischen Gremien beobachten.
Ja, im EU-Parlament ist es ähnlich. Die ganz Rechten und die Mitte-Rechts-Parteien stehen mehrheitlich auf der Seite von Netanjahu, während sich die Sozialdemokraten, die Linken und zum Teil die Grünen tendenziell kritisch positionieren. Das ist das klassische links-rechts-Muster, das bei anderen Debatten so nicht mehr der Fall ist. In der Russlandfrage hat man den Eindruck, dass Teile der Sozialdemokraten und der Grünen die grössten Kriegstreiber sind, während manche Rechten als Stimme der Vernunft und des Friedens erscheinen. Aber man findet eher wenige Politiker, die in beiden Konflikten eine klare Friedensposition einnehmen, sowohl im Krieg zwischen Russland und der Ukraine als auch im Krieg zwischen Israel und dem Gaza-Streifen.
Spielt hier nicht die mediale Berichterstattung eine entscheidende Rolle?
Doch, das kann ich nur bestätigen. Heute Morgen gab es etwa im Radio eine Meldung: «Israel weitet seine Einsätze im Gaza-Streifen aus». Gemeint war die schreckliche Bombardierung einer hilflosen Zivilbevölkerung. So eine Meldung über den Krieg in der Ukraine, «Russland weitet seine Einsätze in der Ukraine aus», wird es nicht geben, sondern es heisst dann, es wurde ganz schrecklich bombardiert, Zivilisten getötet, Kindergärten angegriffen und so weiter. Das passt genau zur Stimmung, wie man sie im Europarat wahrnehmen kann. Es wird mit zweierlei Mass gemessen.
Herr Hunko, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser