Die Lage im Gaza-Streifen: «Was sich hier vollzieht, kommt nirgends zur Sprache»

Interview mit der freien Journalistin und Nahost-Expertin Karin Leukefeld

Zeitgeschehen im Fokus Sie waren wieder mehrere Wochen im Nahen Osten und haben sich vor Ort die Lage angesehen und mit betroffenen Menschen gesprochen. Da man in unseren Hauptmedien immer seltener etwas über den Krieg in Gaza hört – und wenn dann ist es gefiltert, und vieles wird nicht erwähnt –, interessiert es natürlich, was Sie gesehen, gelesen und gehört haben?

Karin Leukefeld Ich lese in der Regel zweimal wöchentlich den Bericht der UNRWA, dem «Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten». Sie erstellt jeweils einen Report über den Gaza-Streifen sowie über Ostjerusalem und das Westjordanland. Darin werden die jüngsten Angriffe im Gaza-Streifen und, was im Westjordanland geschieht, beschrieben. Auch werden die Zahlen über die Getöteten und Verletzten zusammengefasst und festgehalten, wie viele Frauen und Kinder Opfer dieser Angriffe waren. Es ist ein Bericht, der an den Uno-Sicherheitsrat geleitet wird. Er enthält das, was für die journalistische Medienarbeit wichtig ist. Inzwischen ist die UNRWA von Israel verboten worden und kann im Gaza-Streifen keine Unterstützung mehr leisten. Der Chef der UNRWA, Philipp Lazzarini, bezeichnete den Gaza-Streifen als eine Todeszone, als apokalyptisches Mordfeld.

Oft fehlen den Menschen, die vor Ort sind, die Worte, um das Grauen zu beschreiben. Der norwegische Arzt Mads Gilbert, der sehr häufig im Gaza-Streifen, aber auch im Libanon und in Syrien gearbeitet hat, sagte, es sei wie eine Hölle, und fügte dann in dem Interview noch hinzu, er wäre lieber in der Hölle als im Gaza-Streifen. Die Menschen sind pausenlosen Bombenangriffen ausgesetzt, «leben» dort ohne Perspektive, haben keine Hoffnung, sie leiden an Unterernährung, haben kein sauberes Wasser und keine medizinische Versorgung mehr. Sie erleben, wie alles, was menschliches Leben ausmacht, Tag für Tag durch israelische Angriffe ausgelöscht und zerstört wird.

Wenn man sich vorstellt, was das für die Betroffenen bedeutet, muss man erst einmal tief Luft holen. Mit einer Waffenruhe sollte sich die Situation ein bisschen entspannen. Anscheinend ist das nicht geschehen.

Die Waffenruhe bestand aus mehreren Phasen. Die erste begann am 19. Januar, und sechs Wochen später, Ende Februar/Anfang März, sollte sie in eine zweite übergehen. In der zweiten Phase sollte sich die israelische Armee weiter zurückziehen, mehr Hilfsgüter sollten in den Gaza-Streifen geliefert und Verhandlungen geführt werden. Es sollte eine langandauernde Waffenruhe sein mit dem Ziel eines Waffenstillstands. Eine Übergangsregierung sollte im Gaza-Streifen gebildet und Gespräche darüber geführt werden, wie den Menschen geholfen werden kann. Während der Waffenruhe wurden täglich vier bis sechs israelische Geiseln freigelassen und auch Leichname übergeben. Im Gegenzug kamen palästinische Gefangene frei.

Am 3. März hat Israel aber alle Grenzübergänge gesperrt und seit dem nicht wieder geöffnet. Damit war der Drei-Phasen-Plan einseitig beerdigt. Die Folge davon ist, dass die Menschen in diesem Gebiet seit Wochen praktisch ohne Nahrungsmittel, ohne Medikamente, ohne frisches Wasser, ohne Benzin ausharren müssen. Das Benzin braucht es dringend. Es ist überlebensnotwendig, um auch die Wasseraufbereitungsanlagen mit Strom aus den Generatoren antreiben zu können. Aus Ägypten sollten Fertighäuser geliefert werden, die, auf LKWs geladen, vor der Grenze zum Gaza-Streifen in einer kilometerlangen Schlange stehen und warten, bis sie diese passieren können. Es gab internationale Aufrufe, die Blockade aufzuheben, die die israelische Regierung ignorierte.

Am 18. März nahm Israel dann die Bombardierungen wieder auf. Sie dauern schon seit vier Wochen an. Wenn das Interview publiziert wird, sind die Zahlen der Opfer bereits veraltet, aber trotzdem gibt es ein Bild. Nach offiziellen Angaben sind bereits über 1500 Palästinenser getötet worden. Das sind mehr als 50 pro Tag. Die Uno stellte fest, dass bei den 250 Angriffen der Armee seit dem 18. März bei 36 Angriffen ausschliess­lich Frauen und Kinder getötet wurden. Nach offiziellen Zahlen überschritt seit dem Beginn des Krieges die Anzahl der getöteten Palästinenser die ungeheuerliche Zahl von 51 000. Das sind aber nur die Toten, die registriert sind.

So eine Zahl ist gewaltig, und wenn man den Trümmerhaufen Gaza sieht, kann man sich nicht vorstellen, dass jemand lebend da herauskommt. Vermutlich ist die Zahl der Getöteten noch höher.

Ja, das sind nur die offiziellen Zahlen. Unzählige Tote, die man nicht bergen kann, liegen unter den Trümmern. Während der Waffenruhe konnten knapp 1000 Leichen in den Trümmern gefunden werden. Man geht davon aus, dass etwa zehnmal so viele Tote noch unter den zerbombten Häusern begraben sind. Ob man sie jemals bergen kann, ist völlig ungewiss. Es sterben auch Menschen an den Folgen des Krieges, aufgrund von Verletzungen oder Krankheiten, die nicht fachgerecht behandelt werden können, weil Medikamente oder Fachpersonal fehlen. Sie müssen zu den Kriegstoten dazugerechnet werden. Was sich hier vollzieht, kommt nirgends zur Sprache. Die ganze medizinische Versorgung, die für alle Menschen lebenswichtig und selbstverständlich sein muss wie zum Beispiel Behandlungen von Krebskranken oder Dialyse-Patienten, von Menschen mit einem gebrochenen Arm oder Bein, einer Blinddarmentzündung oder Herzproblemen, existiert nicht mehr. Krankheiten oder Verletzungen, die es auch ohne Krieg gibt, können nicht mehr behandelt werden.

Israel bombardierte das letzte Krebskrankenhaus. Eine Klinik für Reproduktionsmedizin machte Israel dem Erdboden gleich und nahm den Paaren, die keine Kinder bekommen können und in die Behandlung der Klinik grosse Hoffnungen gesetzt hatten, auf brutalste Weise einen erfüllbaren Traum. Das zählt auch zu den Morden, wenn zukünftiges Leben ausgelöscht wird. Diese Zahlen wurden alle noch nicht in die Statistiken eingearbeitet. In der wissenschaftlichen Zeitschrift The Lancet gibt es eine Debatte unter Medizinern, wie man die Todeszahlen berechnen müsste. Es gibt in den USA an der Brown University auf Rhode Island das Watson-Institut und sein Projekt heisst: «The Costs of War». Das Institut listet seit dem Beginn des US-Kriegs gegen den Terror (2001) die Kosten dieser Kriege auf. Das tut es auch für den Gaza-Streifen und das Westjordanland. Wenn man in die Einzelheiten gehen will, muss man sich verschiedene Quellen ansehen.

Legt man bei den getöteten Personen zum Beispiel den Fokus auf zwei Berufsgruppen, nämlich auf Mitarbeiter des Palästinensischen Roten Halbmonds (PRH) und der Uno, die im humanitären Bereich tätig sind, gibt es ein ungeheuerliches Beispiel, das kürzlich bekannt wurde. Ende März hat die israelische Armee 15 Personen vom PRH, vom palästinensischen Zivilschutz sowie von der Uno getötet und danach einfach verscharrt.

Hat man sie nicht ein paar Tage später gefunden?

Israel leugnete zunächst alles. Dann suchte man nach den Leichen und fand sie verscharrt in einem Massengrab. Die Indizien waren so eindeutig, dass Israel die Tötungen zugeben musste und erklärte, die Personen hätten sich verdächtig genähert. Aber in einer Videoaufnahme, die ein Mitarbeiter des Roten Halbmonds gemacht hatte – bevor er erschossen wurde – konnte man sehen und hören, was geschah. Da sich das Geschehen in der Nacht abspielte, hatten alle Fahrzeuge ihre Warnlichter eingeschaltet, und auch die Helfer trugen Kleidung mit den typischen Reflektoren. Eines war ein Feuerwehrfahrzeug, die anderen Fahrzeuge waren Ambulanzen. Alle Personen hatten ihre Uniformen an und waren unbewaffnet. Sie wurden erschossen, und Israel musste das schliesslich zugeben.

Ein schwerer Verstoss gegen das Gebot der Menschlichkeit …

Das wirft noch einmal ein Schlaglicht auf Israels Haltung gegenüber humanitären Arbeitern, Krankenhäusern, Klinken, medizinischen Stationen. Das letzte funktionierende Krankenhaus in Nord-Gaza wurde zerstört. Es gibt eine lange Reihe von Schrecklichkeiten, die man berichten könnte. Dazu kommt, dass seit dem 7. Oktober, also in neunzehn Monaten, über 232 Medienschaffende von der israelischen Armee getötet wurden. Verschiedene journalistische Organisationen erstellen darüber Listen, und nahezu alle der Getöteten sind Palästinenser im Gaza-Streifen. Im Libanon wurden sechs Kollegen ermordet, zwei israelische Journalisten wurden an der Grenze zum Gaza-Streifen am 7. Oktober getötet.

Journalisten, medizinisches Personal, Professoren und Lehrer werden gezielt ermordet. Bildungsinstitutionen, Schulen und Universitäten zerstörte die israelische Armee vollständig. Die Uno dokumentiert diese Taten alle, aber es gibt keine Reaktion in den Medien, und es wird von Politikern zum Beispiel im deutschen Bundestag kaum thematisiert. Und wenn es in Medien erwähnt wird, wird im Allgemeinen die israelische Armeedarstellung übernommen. Diejenigen, die die tatsächlichen Zahlen und Geschehnisse aufgreifen, sind der Internationale Gerichtshof in Den Haag und Staaten in der Uno-Generalversammlung, die zuletzt einen Antrag stellten, dass Israel sich aus Gaza und allen besetzten Gebieten zurückziehen und alles Land an die Palästinenser zurückgeben müsse.

Zudem soll der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag untersuchen, ob das Verbot der Uno-Hilfsorganisation für die palästinensischen Flüchtlinge (UNRWA) rechtmäßig ist. Die israelische Regierung hatte ja Ende Oktober 2024 der UNRWA die Arbeit auf «israelischem Staatsgebiet» verboten. Gerade dieser Tage, also ganz aktuell Ende April, wurde bekannt, dass der Internationale Strafgerichtshof eine Anhörung diesbezüglich gestartet hat. Darin geht es um die rechtliche Verantwortung des israelischen Besatzungsstaates für die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten und vor allem im Gaza-Streifen. Die Anhörung von 40 Staaten und vier internationalen Hilfsorganisationen soll die Grundlage für ein entsprechendes Gutachten des IStGH bieten. Israel hat seine Teilnahme abgelehnt und spricht von einer «Politisierung» des IStGH.

Wie werden in Israel der jetzt schon neunzehn Monate andauernde Krieg und das militärische Vorgehen der eigenen Armee wahrgenommen und beurteilt? Wie berichten die israelischen Medien?

Haaretz berichtet sehr viel und ebenso das Internetmagazin 972. Beide arbeiten mit «Breaking the Silence», einer Organisation ehemaliger israelischer Soldaten und Offiziere, zusammen und mit der israelischen Menschenrechtsorganisation B’ Tselem. Aber das ist leider eine Minderheit. Doch es gibt schon vermehrt kritische Stimmen. In den letzten Tagen wurde bekannt, dass über eintausend Reservisten eine Erklärung unterzeichnet hatten, dass sie nie wieder in Gaza oder dem besetzten Westjordanland eingesetzt werden wollen und sich auch weigern werden, dort Einsatz zu leisten. Diese Erklärung wird auch von Ärzten und schwer traumatisierten israelischen Reservisten unterstützt.

Ganz aktuell gibt es auch eine Erklärung von Schriftstellern, die 350 Personen unterzeichnet haben sollen, in der Netanjahu scharf kritisiert wird, weil dieser Krieg keine klare Zielführung hat, niemandem nutzt, sondern allen nur schadet, den Palästinensern, aber auch Israel. Das ist alles in den letzten Tagen bekannt geworden. Die Demonstrationen gegen Netanjahu richteten sich gegen ihn als Politiker, aber zumeist nicht gegen den Krieg. Bei den Protesten der Angehörigen der Geiseln geht es im Wesentlichen darum, ein Abkommen mit der Hamas zu treffen, um die Freilassung der Gefangenen zu erreichen. Meine Gesprächspartner aus Israel bestätigten, dass es gegenüber den Palästinensern kaum bis keine Empathie gebe. Das sagen einige Journalisten, aber auch jene, die sich öffentlich gegenüber ausländischen Medien äussern.

In unseren Medien war immer wieder die Rede von Demonstrationen von Palästinensern im Gaza-Streifen, die sich gegen die Hamas richten würden. Haben Sie darüber genauere Informationen?

Ich habe einzelne Fotos oder Videos von den Demonstrationen gesehen und von Palästinensern aus Libanon und Syrien direkt davon gehört. Wenn man die Texte der Plakate genau liest und hört, was verlangt wird, sind das vor allem Aufrufe gegen den Krieg, aber nicht explizit gegen die Hamas. Es gibt sicher Menschen im Gaza-Streifen, die gegen die Hamas und deren Angriff vom 7. Oktober sind. Sie mögen teilweise auch Nähe zur Fatah und der Autonomiebehörde von Mahmud Abbas haben.

Die Menschen haben aber vermutlich andere Dinge zu tun, selbst wenn sie gegen die Hamas sein sollten. Israel forderte in dem Zusammenhang die Bevölkerung in Gaza auf, sie sollte jetzt die Hamas verjagen, die verbliebenen israelischen Gefangenen freilassen, dann würde es den Krieg beenden. Besonders Verteidigungsminister Israel Katz, der sich häufig mit sehr drastischen Äusserungen hervortut, teilte mit, dass die Zeit für die Gaza-Bevölkerung abgelaufen sei. Wenn sie die Forderungen nicht erfüllten, würden die Angriffe verstärkt und der gesamte Gaza-Streifen besetzt.

Zum anderen gibt es die Aufforderung zur «freiwilligen Auswanderung». Israel hat eine Institution für Palästinenser eingerichtet, die aus dem Gaza-Streifen ausreisen wollen, ohne Recht auf Rückkehr. Es ist auch völlig unklar, wo sie leben sollen, aber man kann sich dort melden. Das Ganze läuft unter israelischer Leitung. Das muss man in dem Kontext sehen, dass Israels Ziel darin besteht, alle Palästinenser loszuwerden. Ob man sie tötet, ihnen ihre Lebensgrundlage entzieht oder sie zur Auswanderung drängt, ist einerlei. Israel will die Palästinenser dort weghaben und die Kontrolle über den Gaza-Streifen bekommen.

Hat diese «Aktion» der Israeli Erfolg?

Bisher ist mir nichts bekannt. Was im kollektiven Gedächtnis der Palästinenser geblieben ist, hängt mit den Ereignissen 1948/49 zusammen, als sie trotz Uno-Resolutionen von Israel aus ihrem Lebensraum vertrieben worden sind und nie wieder haben zurückkehren können. Seither leben sie in Flüchtlingslagern. Aber dass Palästina ihre Heimat ist, haben sie verinnerlicht. Sie haben nur dieses Land, und freiwillig werden sie es nicht verlassen.

Sie hatten die Fatah erwähnt, von der man seit dem Krieg kaum noch etwas hört. Was ist mit Abbas, wo ist seine Stimme? Er ist doch der offizielle Vertreter aller Palästinenser.

Von Abbas sieht man vor allem Fotos mit ausländischen Politikern, besonders aus Europa. Sie bieten Hilfe an, aber gekoppelt an die Forderung, sogenannte Reformen durchzuführen, nur dann bekommt er Geld. Das erschwert die Zusammenarbeit unter den verschiedenen palästinensischen Gruppen. Es gab 2024 und 2025 Konferenzen in Russland und China, um die verschiedenen Organisationen zusammenzubringen, was auch gelungen ist. Verschiedene Themen wurden verhandelt. Dabei ging es um mögliche Neuwahlen, wie es um die Autonomiebehörde steht, die Rolle der PLO und anderes.

Es waren sowohl Vertreter der Hamas als auch der Fatah anwesend. Bei dem Treffen in Peking haben alle eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet: Es soll eine Waffenruhe mit Israel geben. Es soll eine Übergangsregierung eingerichtet werden. Die Hamas liess verlauten, dass sie bei dieser Regierung nicht unbedingt dabei sein müsse. Es sollte eine Technokraten-Regierung sein, eine Regierung der nationalen Einheit. Sie soll mit den arabischen Staaten und den Geldgebern Gespräche führen, um mit ihnen zu besprechen, wie der Aufbau im Gaza-Streifen gelingen kann. Auch sollen sie Wahlen in den palästinensischen Gebieten vorbereiten, an denen sich alle beteiligen können.

Wird an der Umsetzung der Vereinbarung gearbeitet?

Nein, kaum reisten alle aus China ab, machte die Fatah bereits einen Rückzieher. Die Hamas will schon seit Jahren Mitglied in der PLO werden. Sie akzeptiert auch die Position der PLO. Die Fatah lehnt das ab, denn sie bekommen für die PLO Geld aus Europa und den USA, aber wenn die Hamas dort Mitglied wäre, gäbe es kein Geld mehr. Auch Annalena Baerbock hat bei einem Treffen in London nochmals gesagt, dass es eine sichere Zukunft für den Gaza-Streifen nur ohne die Hamas geben könne.

Das ist die israelische Position und von daher bewegt sich wenig. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat im Westjordanland, im Flüchtlingslager von Jenin sogar mit den israelischen Sicherheitskräften gegen palästinensische Gruppen zusammengearbeitet und dabei auf die eigenen Landsleute geschossen. Es handelte sich um Kämpfer, die gegen die israelische Besatzung aufgestanden waren. Viele Palästinenser haben wegen solcher Haltung der Palästinensischen Autonomiebehörde kein Vertrauen mehr zu ihr.

Wie ist Israels Strategie im Westjordanland?

Es werden nicht so viele Luftangriffe wie im Gaza-Streifen geflogen, aber dort besteht eine enge Zusammenarbeit der Besatzungsarmee mit den Siedlern, die teilweise selber als Soldaten bewaffnet sind. Es gibt eine Studie über die Zerstörung von palästinensischen Dörfern speziell durch die Siedler. Die Dokumentation stellt fest, dass die Gewalt ein etwas anderes Gesicht hat. Die Todeszahl liegt bei etwa eintausend, aber es werden sehr viele Häuser und vor allem Agrarland zerstört. Das Flüchtlingslager in Jenin wurde weitgehend von der israelischen Armee plattgewalzt, was viele zur Flucht zwang. Man weiss nicht, wohin die Menschen geflohen sind. Die allgemeinen Verhältnisse sind ebenfalls sehr schlecht, weil abgeriegelte Gebiete die Bewegungsfreiheiten der Palästinenser extrem einschränken.

Das unmenschliche Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern lässt sich überall erkennen.
Ich würde gerne noch über die Situation in Syrien sprechen. In unseren Medien erfährt man wenig Plausibles oder nur Fragmentarisches. Der Westen unterstützt die neue Regierung. Hat das Auswirkungen auf das Leben der Menschen im Land?

Es hat sich prinzipiell wenig geändert. Die Versorgungslage ist immer noch schlecht. Ungefähr eine Million Menschen verloren ihre Arbeit, weil die HTS-Regierung die Polizei und die Armee auflöste. Zusätzlich entliessen sie Mitarbeiter von staatlichen Ministerien und Betrieben in der Grösse einer sechsstelligen Zahl. Diese Menschen haben alle kein Einkommen mehr. Sie können ihre Familien nicht mehr ernähren und sind auf Unterstützung von Verwandten im Ausland angewiesen, sofern sie solche haben. Dieser Zustand verschärft sich, auch die Sicherheitslage. HTS-Milizen haben in der Umgebung von Homs vor allem Alawiten angegriffen, auch in Hama und im Küstengebiet kam es zu Gewalttätigkeiten.

Es wurden mindestens 1500 Menschen getötet, und das setzt sich fort. Journalisten erhalten keine Genehmigung, dorthin zu fahren, es gibt de facto eine Informationssperre. Die Angehörigen von Opfern versuchen, auf eigene Gefahr zu dokumentieren, was dort geschieht. Ich interviewte im Norden des Libanon Flüchtlinge, Alawiten, die aus dem Küstengebiet Syriens in den Libanon geflohen sind. Sie waren Zeugen der Gewalt und berichteten darüber. Die Uno geht davon aus, dass 80 000 Syrer über die grüne Grenze, aber auch über die offiziellen Grenzübergänge in den Libanon geflohen sind. Die libanesischen Behörden haben die Menschen durchgelassen. Es gibt im Libanon Orte, in denen schon lange Alawiten leben, und dort suchen die an Leib und Leben Bedrohten Sicherheit.

Gibt es einen ernstzunehmenden Widerstand gegen die jetzige Regierung, oder sind die Menschen wie im Gaza-Streifen mit ihrem Überleben absorbiert?

Die Bevölkerung leistet kaum Widerstand, sie hat keine Kraft mehr. In der Küstenregion gab es tatsächlich eine Gruppe von ehemaligen Offizieren und Soldaten, die bewaffnet waren. Sie griffen Basen der HTS an. Das war eine Reaktion auf die seit Dezember letzten Jahres durchgeführten, willkürlichen Hinrichtungen von Alawiten. Die ehemaligen Militärs hatten sich in einer Kompanie zusammengefunden und forderten HTS auf, sich aus dem Küstengebiet zurückzuziehen. Daraufhin schickte HTS aus allen Regionen des Landes Kämpfer dort hin. Darunter gab es bewaffnete Kräfte, die Massaker begingen.

Die alawitischen Militärs, etwa 100 Mann, haben das nicht überlebt. Sie versuchten, ihre Leute zu schützen. Die Massaker bewirkten eine enorme Kritik bei der Uno. Der Uno-Sicherheitsrat wurde zusammengerufen, einzelne Länder äusserten sich dazu, aber nicht in der Deutlichkeit und in dem Umfang, wie man es hätte erwarten können. Um sein Image zu verbessern, schloss Al Scharaa ein Bündnis mit den bewaffneten Kurden, den syrischen demokratischen Kräften. Es war wohl ein Versuch, die verbliebenen bewaffneten Gruppen in Syrien in eine neue Armee einzugliedern. Das betrifft auch die Drusen. Aktuell unterzeichnete eine bewaffnete Gruppe aus dem Südwesten des Landes, aus Dar’aa, ebenfalls eine Vereinbarung mit Al Scharaa. Offensichtlich wird er von seinen Beraten gedrängt, diese Vereinbarungen zu treffen, damit der innere Widerstand der bewaffneten Gruppen eingegrenzt und sie in eine neue Armee intergiert werden können.

Wie geht Israel mit Syrien nach Baschar al-Assad um?

Israel ist neben der Türkei der Gewinner dieses ganzen Umbruchs. Am gleichen Tag, an dem HTS in Damaskus einmarschierte und Baschar al Assad ausgeflogen wurde, überquerten israelische Truppen die von der Uno kontrollierte Pufferzone im Golan, durchschnitten den Grenzzaun, drangen nach Syrien ein und zogen bis 40 Kilometer vor Damaskus. Entlang dem Golan bis hinunter an die Grenze von Jordanien nahmen sie fünf Hügel ein und errichteten darauf Stützpunkte. Sie haben das gesamte Gebiet südlich von Damaskus unter ihrer Feuergewalt und damit unter Kontrolle.

In der Zeit vom 8. bis zum 11. Dezember flog Israels Luftwaffe über 500 Angriffe auf sämtliche Militäranlagen der syrischen Armee und zerstörte alles. Zu dem Zeitpunkt war die syrische Armee, die unter der Kontrolle Assads gestanden war, schon längst aufgelöst. Aber bis heute bombardieren sie das, was nach den Bombardements vom Dezember letzten Jahres übriggeblieben war: Lagerstätten, Kasernen, Fahrzeuge, alles, was ihnen ins Konzept passt. Innert weniger Tage über 500 Luftangriffe zu erleben, ist unvorstellbar. Im Norden rückt die Türkei vor. Sie ist das «back up Büro» von Al Scharaa. Sie arbeiten eng zusammen.

Die Türkei will dort verschiedene Stützpunkte errichten, genau wie Israel, das damit begonnen hatte, in der Pufferzone im Golan sechs Militärstützpunkte zu bauen. Sie sagen, dass alles, was südlich von Damaskus liege, entmilitarisiert werden müsse. Israel will auch verhindern, dass die Türkei im nördlichen Syrien Militäranlagen baut. Deswegen gab es bereits einen Konflikt zwischen der Türkei und Israel. Die USA schritten ein und verlangten, dass die beiden darüber verhandeln sollten, wer welche Gebiete beanspruchen darf und welche nicht. Kein Syrer wurde bei all dem, was in seinem Land passiert, je gefragt.

Israel kann also ungehindert in Syrien sein Territorium ausweiten. Ist das im Libanon nicht bereits geschehen?

Israel errichtete fünf Stützpunkte entlang der «Blauen Linie». Während der Waffenruhe mit der Hisbollah sprengte Israel Hunderte leerer Häuser und zerstörte Strassen. Ich bin selbst auf solch einer Strasse gefahren. Sie fuhren mit einem Bulldozer auf der Strasse und frästen in der Mitte eine Rille hinein. Die Strasse entlang der «Blauen Linie» ist vermutlich komplett zerstört, ich konnte nicht dorthin gelangen. Auch werden von Israel nahezu täglich willkürlich Personen getötet. Ende März und Anfang April griff die israelische Armee Beirut an mit der Behauptung, die Hisbollah hätte ein Drohnenlager errichtet oder eine Rakete auf Israel abgeschossen. Was dazu kommt, ist, dass sie von den USA grünes Licht haben, weiterhin so vorzugehen. Sie können töten und zerstören, so wie es ihnen gerade passt.

Die Vorstellung ist ungeheuerlich. Es herrschen völlige Willkür und Faustrecht. Soll das die vom Westen ständig bemühte regelbasierte Ordnung sein? Wie positioniert sich hier die USA gegenüber der Übergangsregierung in Syrien?

Sie hat angekündigt, einen Teil der Sanktionen aufzuheben, was sehr wichtig für HTS ist. Nur wenn ein Teil der Sanktionen aufgehoben wird, können Geldgeber Investitionen in Syrien machen. Denn laut dem «Caesar-Gesetz» kann jeder, der die Sanktionen missachtet, selbst unter Sanktionen gestellt werden. Die USA übergaben Al Scharaa eine Liste mit Bedingungen, damit ein Teil dieses Caesar-Gesetzes ausser Kraft gesetzt wird.

Eine Bedingung ist, den verschwundenen US-amerikanischen Journalisten, Austin Tice, zu finden, indem man jemanden benennt, der die Suche nach ihm oder seinen sterblichen Überresten koordiniert. Weiter muss die HTS die vollständige Zerstörung der Massenvernichtungswaffen umsetzen, was aber nach der OPWC schon weitgehend geschehen ist. Israel behauptet, es gebe sie immer noch. Sie darf nicht mit der Hamas, dem Islamischen Dschihad oder anderen palästinensischen Gruppen kooperieren. Bewaffnete Kräfte dürfen in der Politik kein Amt erhalten.

Weiter forderten die USA, dass sie die islamischen Revolutionsgarden im Iran als Terrororganisation benennt und die offizielle US-Militäroperation gegen den IS unterstützt. Sie muss anerkennen, dass die USA das Recht haben, aufgelistete Personen auf syrischem Boden zu töten. Zusätzlich soll die neue Regierung die Verantwortung von 15 000 Gefangenen im Al Hol Flüchtlingslager übernehmen, das im Moment von den Kurden und den USA kontrolliert wird. Diese Art von Bedingungen bedeutet für diese «Interimsregierung», sich den USA zu unterwerfen.

Damit wird Syrien zum Vasallenstaat. Man hat den Eindruck, dass alles ohne Widerspruch geschehen kann.

Ja, man kann kaum glauben, was da passiert. Und wenn man dazu die mediale Berichterstattung sieht und hört, erfährt man ausschliesslich die westlich-israelische Sicht. Über die Situation in Syrien wird auch nicht unabhängig berichtet, das Gleiche gilt für den Libanon. Es wird fast nur die israelische Perspektive kolportiert.

In der Uno-Charta in Artikel 7 sind Strafmassnahmen gegen Staaten vorgesehen, die sich wie Israel jenseits allen Rechts bewegen. Strafmassnahmen, die unterhalb der Schwelle einer militärischen Invasion liegen. Man kann zum Beispiel die diplomatischen Kontakte einstellen, die Kommunikation einfrieren, den Handel restriktiv gestalten und so weiter. Da gäbe es vieles, womit man dem Land zu verstehen geben könnte, bis hierher und nicht weiter.

Aber Artikel 7 spielt bis heute keine Rolle im Uno-Sicherheitsrat. Das wäre eine Mindestforderung, die auch in anderen Fällen angewandt wurde, aber nicht in Bezug auf Israels Vorgehen gegen die Palästinenser oder zum Schutz der Bevölkerung in der ganzen Region, in der Israel militärisch aktiv ist. Netanjahu hat gesagt, er führe Krieg an sieben Fronten, da kann man wohl noch einiges erwarten.

Es ist ein trauriges Bild mit winzigen Lichtblicken wie zum Beispiel der beginnende Widerstand in Israel. Sie berichteten im letzten Interview von verschiedenen Staaten in der Region, die sich angenähert hätten. Sind diese kleinen Bestrebungen nach Frieden immer noch zu sehen?

Die diplomatischen Gespräche gehen weiter. Die arabischen Golfstaaten sind jedoch in einer Zwickmühle. Sie wollen gute Kontakte zur EU und zu den USA, aber auch zu Russland und China, um Geschäfte zu machen. Letztlich verfolgen die Regierungen ihre eigenen Interessen. Wenn man das Ganze von oben betrachtet, erkennt man in dem Konflikt die Auseinandersetzung um die neue, multipolare Weltordnung.

Die BRICS-Staaten sind im Nahen Osten nicht militärisch aktiv, sondern sie streben eine Kooperation an. Wenn es eine neue Ordnung für die Region gibt, kann das nicht die Gewalttätigkeit sein, die von den USA befeuert wird. Man muss immer wieder deutlich darauf hinweisen, dass alle Staaten, und nicht nur die Mächtigen, souverän sind und das Recht haben, ihre eigene Entwicklung und Zukunft zu gestalten.

Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser