«Die Spirale der Gewalt beenden und eine Spirale des Lebens entwickeln»

Interview mit Zoya Miari, Friedensbotschafterin

Vorbemerkung
sl. Angesichts der täglichen Kriegsmeldungen, könnte man an der Welt und der Menschheit verzweifeln. Doch es gibt auch zahlreiche Menschen, die sich für Frieden, Gerechtigkeit und Menschlichkeit einsetzen. Darüber berichtet die Tagespresse jedoch kaum.
Am diesjährigen «Young Humanitarian Summit» versammelten sich am Wochenende vom 21. bis 23. März in Zürich rund 300 junge Leute, die einen Beitrag zu einer humaneren Welt leisten möchten. Wir hatten die Gelegenheit, mit Zoya Miari zu sprechen. Sie hat ukrainische, russische und palästinensische Wurzeln, musste mit ihrer Familie zweimal vor Krieg und Gewalt fliehen und setzt sich nun, da sie in Sicherheit lebt, mit Herzblut für andere ein, die dieses Glück nicht haben.


Zeitgeschehen im Fokus Wir haben Ihren Beitrag am diesjährigen «Young Humanitarian Summit» gehört.1 Er war ein Plädoyer für Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen und hat uns sehr berührt. Können Sie uns hier auch einen Einblick in Ihre bewegende Geschichte geben?

Zoya Miari Ja, gerne. Ich bin 25 Jahre alt und habe ukrainische, russische und palästinensische Wurzeln. Mein Grossvater väterlicherseits musste 1948 anlässlich der ersten Nakba aus Palästina fliehen und fand im Libanon in einem Flüchtlingslager Aufnahme. Mein Vater wurde dort geboren. Er hat sein Heimatland noch nie gesehen, da er nicht einreisen darf wie andere Touristen. Meine Mutter ist Ukrainerin, Tochter einer ukrainischen Mutter und eines russischstämmigen Vaters.

Sie ist gelernte Pflegefachfrau und kam bereits vor meiner Geburt in den Libanon, wo sie im Flüchtlingslager für palästinensische Flüchtlinge lebte. So unglaublich das auch klingen mag, aber sie beteuert, dort Freiheit und einen Freundeskreis gefunden zu haben. Unsere Familie – meine Eltern und wir fünf Geschwister – lebten dort in einem einzigen Zimmer, bis 2015 unser Zuhause vom Feuer vollständig zerstört wurde. Zum Glück verlor niemand von uns das Leben, und wir fanden etwas ausserhalb des Lagers eine neue Bleibe. Dank eines Stipendiums für palästinensische Flüchtlinge konnte ich mich zur Pflegefachfrau ausbilden.

Weshalb haben Sie den Libanon verlassen?

Im Sommer 2020 gab es die grosse Explosion in Beirut. Der Libanon litt zudem unter einer immensen Wirtschaftskrise, und die Situation verschlechterte sich zusehends. Ich arbeitete zu jener Zeit als Pflegefachfrau, und meine Mutter und meine Geschwister reisten für die Sommerferien in die Ukraine. Angesichts der sehr angespannten Lage sagte ich ihnen, sie sollten nicht zurückkommen. Da sich die Situation im Libanon weiter verschärfte, verliess auch ich 2021 meine Arbeitsstelle und reiste meiner Familie in die Ukraine nach. Sicherheit hatte oberste Priorität

Wie kamen Sie schliesslich in die Schweiz?

Bereits ein Jahr später, im Februar 2022, marschierten russische Truppen in die Ukraine ein, und wir mussten wieder um unsere Sicherheit bangen. Meine Mutter sagte zu mir: «Zoya, du musst ein sicheres Land für uns finden.» Dann schrieb ich auf Google: «Welches ist das friedlichste Land der Erde?» Die Antwort war: «Die Schweiz.» Meine Mutter, meine Geschwister und ich machten uns also abermals auf den Weg und kamen schliesslich in der Schweiz an, wo wir viereinhalb Monate bei einer Schweizer Gastfamilie leben durften. Wir versuchten unsererseits, immer offen und freundlich auf die Leute zuzugehen.

Sie haben in ihrem jungen Leben Schweres erlebt. Wenn man Ihnen zuhört, spricht aber aus ihren Worten keinerlei Hass, Wut oder Resignation, sondern eine unglaubliche Zuversicht. Woraus schöpfen Sie diese positive Kraft?

Das ist eine schöne Frage. Ich würde sagen, das kommt von meiner Mutter. Sie war immer positiv eingestellt und gab uns Sicherheit. Sie zeigte uns immer einen Ausweg aus schwierigen Situationen. Als wir zum Beispiel auf der Flucht zu zwölft voller Angst in einem Viererabteil des Zuges zusammengepfercht sassen, begann meine Mutter mit uns ukrainische Volkslieder zu singen. Das ist typisch, sie versucht immer, in allem das Positive zu sehen.

Diesen «Spirit»gab sie uns weiter. Wir haben in unserem Leben so vieles verloren, aber diesen «Spirit» kann uns niemand nehmen. Das betrifft auch den Zusammenhalt in unserer Familie. Wir wurden getrennt, wir waren im Libanon, wir waren in der Ukraine – aber wenn wir zusammen sind, dann haben wir diese Lebensfreude und singen zusammen. Das ist unsere Botschaft der Hoffnung.

Würden Sie auch in Schulen gehen, um unseren Jugendlichen zu zeigen, wie es in anderen Gegenden der Welt zu und her geht? Ihre Geschichte, ihre Ausstrahlung und Ihr Optimismus könnten eine starke Kraft sein, der Jugend eine positive Perspektive zu vermitteln.

Die Tochter meiner Gastfamilie – sie war im Gymnasium – sagte zu mir: «Du musst deine Geschichte erzählen.» So begann meine «Storytelling»-Geschichte. Ich war bis jetzt sechsmal zu Vorträgen in Schulen.

Ich wollte zeigen: Wir Flüchtlinge sind nicht einfach nur «Opfer», wir sind weder Helden noch Terroristen, wir sind Menschen, Menschen wie ihr. Ich möchte die Resilienz stärken, um aus einer schwierigen Situation einen Ausweg zu finden, das Beste zu machen, nicht zu verzweifeln oder aufzugeben.

Ich wollte verstehen, weshalb der Mensch zu Krieg und Genozid fähig ist. Deshalb besuchte ich das IKRK-Museum in Genf, und las die Geschichten von Kriegs- und Genozid-Opfern. Ich besuchte das National Museum des Holodomor in der Ukraine und weinte über die Millionen von Opfern. Ich ging nach Auschwitz und war sprachlos.

All die Geschichten wurden dokumentiert, damit die Welt sie erfährt und daraus lernt, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Der Philosoph George Santayana sagte: «The one who does not remember History, is bound to live through it again. – Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.» Das ist auch meine Message.

Es gelingt Ihnen sehr gut, Menschen anzusprechen. Wie kann man Jugendliche, die mit Tiktok, Instagram und anderen «Social media» sozialisiert werden und in deren Bann stehen, für den humanitären Gedanken gewinnen?


Über Emotionen. In der westlichen Gesellschaft versuchen wir immer, alles über den Kopf zu bearbeiten. Wenn wir das Herz nicht einbeziehen, dann geht es nicht ins Innere, es bleibt draussen. Ich erinnere mich an eine Kollegin im Kinderspital Zürich, sie war lebensfroh und sehr positiv eingestellt.

Sie sagte, die heutigen Probleme kämen daher, dass alle nur mit dem Kopf arbeiteten und keine emotionale Verbindung herstellten. Wenn wir junge Leute beeinflussen wollen, dann müssen wir über Gefühle sprechen, darüber, wie wir über Emotionen eine Mensch-zu-Mensch-Beziehung herstellen können.

Sie sind auch Gründerin der Internetplattform «Waves to Home». Worum handelt es sich bei dieser Initiative, und welche Bedeutung hat sie in Ihrer Arbeit als «Peace Ambassador», als Friedensbotschafterin?

Als Kind fühlte ich mich als Opfer. Wenn meine Schulfreundinnen mich fragten, wo ich wohne, bin ich ausgewichen. Ich schämte mich zu sagen, dass ich im Flüchtlingslager lebe. Ich wünschte mir, jemand würde mir einen «safe space», einen sicheren Raum geben und zu mir sagen: «Das ist nicht dein Problem.»

Nach der Flucht aus der Ukraine, als ich das zweite Mal einem Krieg entflohen war und in der Schweiz Zuflucht fand, beschloss ich, nicht länger zu schweigen, und begann, meine Geschichte zu erzählen.

Ich merkte, dass dabei Teile in mir zu heilen begannen. Das wollte ich auch anderen ermöglichen. Ich wollte andere inspirieren und wurde dabei selbst inspiriert. Meine Geschichte mit andern zu teilen, tat so gut. Ich dachte, so viele Menschen bräuchten einen solchen «safe space», um ihren Schmerz zu verarbeiten, damit er nicht eines Tages in Form von Gewalt ausbricht.

In einem «safe space» kann man seine Gefühle verstehen und in der Beziehung zu anderen Menschen neu sehen lernen. Die Wunden können heilen. So wird man fähig, den Teufelskreis der Gewalt zu beenden und sich als Friedensbotschafter für eine gerechtere Welt einzusetzen.

Als ich an einem internationalen Kongress auf andere Flüchtlinge aus Palästina, der Ukraine, dem Sudan und vielen anderen Ländern traf, und wir uns über unsere Gefühle austauschen konnten, erlebte ich, wieviel Kraft dieses kollektive «Storytelling» gab. Es half mir, meine eigene Geschichte realistischer zu sehen und Scham- oder Schuldgefühle zu überwinden.

Diese Erfahrung bewog mich, die Plattform «Waves to Home» zu gründen, um anderen diesen «safe space» für ihre Geschichten zu geben. Rund um die Welt entstanden Workshops, in denen Flüchtlinge und Vertriebene diese heilende Erfahrung machen konnten – so wie ich. Dabei entstehen Beziehungen von Mensch zu Mensch, die jedem Kraft geben, seinen Schmerz zuzulassen, zu verstehen und in positive Energie zu verwandeln.

«Storytelling» ist auch ein Begriff aus der Medien- und Marketingwelt. Sie verstehen offensichtlich etwas anderes darunter.

Ja, viele Firmen und Organisationen brauchen heute das «Storytelling» als Marketing-Tool, um Geld zu machen. So, wie ich es verstehe, geht es um die ursprüngliche Bedeutung, um die zwischenmenschliche Verbindung, die beim Geschichtenerzählen entsteht. Das ist der eigentliche Zweck. Es spielt keine Rolle, in welcher Form sich die Geschichten zeigen, es können Worte, Lieder, Tänze oder Bilder sein. Das Wichtige ist, dass jeder seine Ausdrucksform findet, denn «expression» ist das Gegenteil von «depression».

Sie haben sowohl ukrainische, russische als auch palästinensische Wurzeln und sind im Libanon aufgewachsen. Dank des ukrainischen Passes haben Sie in der Schweiz Zuflucht gefunden, als Palästinenserin wäre das wohl schwieriger gewesen?

Als Ukrainerin kann ich aufatmen, da die Welt mein Leiden hört und sieht. Als Palästinenserin ist das anders, ich kann meinen Schmerz nicht äussern. Das Leid der Palästinenser wird hier noch nicht wirklich als solches wahrgenommen. Das ist sehr problematisch. Wie kann der Heilungsprozess stattfinden, wenn das Leiden nicht anerkannt wird?

Doch es macht mir Hoffnung, dass immer mehr Menschen sich mit uns zusammen für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Die Propaganda behauptet, wir seien gegen die Juden. Aber das stimmt nicht. Ich habe einen guten Freund, Ahmad, er lebt in Gaza. Ihm versuche ich, Hoffnung zu geben, indem ich ihm sage: «Du hast gestern überlebt, du überlebst heute und morgen.»

Das sind nicht meine Worte. Ich habe sie in einem Buch einer Holocaust-Überlebenden gelesen, die sich das jeden Tag sagte. Jetzt sage ich es meinem Freund in Gaza, wo wieder ein Genozid stattfindet. Das Problem ist die Besatzung und der Siedlerkolonialismus. Dieses System trennt die Menschen und schafft Gräben. Es sind nicht die Menschen, die miteinander verfeindet sind. Wir leben alle unter demselben Himmel.

Ahmad schickt mir ein Bild eines Sonnenuntergangs über dem Meer von Gaza, dessen Schönheit ihm Hoffnung gibt, und ich schicke ihm ein ähnliches Bild der untergehenden Sonne über dem Zürichsee. Warum muss er täglich um sein Leben und dasjenige seiner Familie bangen, während wir hier in einem friedlichen Land in Sicherheit leben können? Es kann keinen Frieden ohne Gerechtigkeit geben. Ich wünschte, mehr Leute sähen dies.

Wie würden Sie als Friedensbotschafterin jemandem begegnen, der eine andere Sicht als Sie auf die aktuellen Konflikte in der Ukraine oder in Palästina hat?

Als ich einer lieben Bekannten erzählte, dass in der Westbank, wo es wohlgemerkt keine Hamas gibt, palästinensische Kinder getötet werden, antwortete sie, es seien ja angehende Terroristen. Es tut weh, zu sehen, wie Propaganda wirkt. Es sind unschuldige Kinder!

Ich versuche nicht, den anderen von meiner Meinung zu überzeugen, sondern gebe Informationen. Jeder hat die Wahl, sie zu überprüfen, weiter zu recherchieren und sich damit auseinanderzusetzen. Wenn der andere das nicht will, kann ich ihn nicht dazu zwingen. Ich tue, was ich kann, aber der andere muss bereit sein, sein Herz zu öffnen.

Wir haben gehört, dass Sie dabei sind, ein Buch über Ihre Geschichte zu schreiben.

Ja, es soll eine Botschaft der Hoffnung werden. Ich möchte andere Menschen inspirieren. Ich bin im Flüchtlingslager aufgewachsen, habe Unterdrückung und Gewalt erlebt. Mein Name «Zoya» bedeutet Leben, und vielleicht ist das meine Aufgabe in der Welt: Mitzuhelfen, die Spirale der Gewalt zu beenden und eine Spirale des Lebens für die nächste Generation zu entwickeln. Jetzt studiere ich Psychologie und interessiere mich insbesondere für die «Positive Psychologie». Ich möchte in post-traumatischer Richtung arbeiten. Das brauchen wir in der heutigen Welt.

Frau Miari, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Susanne Lienhard und Andreas Kaiser

  1. siehe Bericht zum «Young Humanitarian Summit» in: Zeitgeschehen im Fokus Nr. 6 vom 12. April 2025 ↩︎