Doppelte Standards

Die einen werden für das Töten von Zivilisten angeprangert – und die anderen?

von Thomas Kaiser

Gaza-Streifen: Unter den Trümmern vermutet die UNRWA ungefähr 10 000 Tote. (Bild © UNRWA)

Nach dem russischen Raketenangriff auf Sumi am 13. April war die Empörung in Medien und Politik gross. Die Titel der Hauptmedien verurteilten den Angriff aufs Schärfste. Es sollen über 30 Menschen zu Tode gekommen sein, darunter zwei Kinder. Die Zahl der Verletzten wird mit 117 angegeben. Die Medien beschrieben detailliert, wie Tote herumgelegen, Gebäude und Autos zerstört seien und verzweifelte Menschen herumliefen.1,2 Ein solches Ereignis ist eine Tragödie für jeden, der sein Leben verloren hat, und für die leidenden Angehörigen, das ist diskussionslos. Das humanitäre Völkerrecht verbietet Angriffe, die gezielt die Zivilbevölkerung treffen.

Was immer die Gründe für den russischen Angriff waren, die Verurteilung des Westens war deutlich.3 Doch bereits am nächsten Tag gab es eine mögliche Begründung für das eigentliche Ziel des Angriffs.

«Hunderte von Millionen Menschen unter die Erde gebracht»

Die Tagesschau des deutschen Fernsehens (ARD) berichtete am 14. April, dass der Gouverneur des Gebiets Sumi, Wolodymyr Artjuch, bestätigt habe, dass zum Zeitpunkt des Angriffs ein Treffen hoher Militärs in Sumi stattgefunden habe.4 Russland hatte von Anfang an erklärt, dass der Angriff dem Treffen gegolten habe. Ob es eine fehlgeleitete Rakete oder ein gezielter Angriff auf die Zivilbevölkerung, und damit ein Kriegsverbrechen war, müsste eine unabhängige Untersuchungskommission beurteilen. Die gibt es nicht. Die Ukraine würde das wahrscheinlich wie nach dem Ereignis von Butscha auch nicht zulassen.

Immer wieder werden Vorwürfe erhoben, Russland führe gezielt Krieg gegen die Zivilbevölkerung und wolle das ukrainische Volk eliminieren, ja sogar die Ukraine vollständig vernichten. Wenn man die Schlagzeilen unserer Mainstream-Medien liest, hat man den Eindruck, Zehntausende von Zivilisten seien Putins Angriffskrieg bereits zum Opfer gefallen. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des EU-Parlaments, Marie-Agnes Strack-Zimmermann spricht von «Hunderten von Millionen Menschen», die Putin «unter die Erde gebracht» habe.5 Damit schlägt sie Annalena Baerbock um Meilen, die von Ländern spricht, die (nur) «Hundertausende von Kilometern entfernt» sind.

Bei Baerbock mag es Unbedarftheit oder Dummheit sein, bei Strack-Zimmermann ist es Methode: Putin muss den Krieg verlieren, und deshalb müssen alle mitmachen und ihr Leben dafür hergeben – Strack-Zimmermann, Merz («Fritz», s. Artikel S. 15), Pistorius, Habeck, Baerbock, und wie sie alle heissen, werden das sicher nicht tun. Damit alle mitmarschieren, muss Putin dämonisiert werden. Dass Strack-Zimmermanns Behauptung ohne Widerspruch durchgeht, spricht Bände. Es passt in die antirussische Propaganda, die nicht erst seit Beginn des Ukraine-Kriegs über die Menschen ausgegossen wird.

Jeder Tote ist einer zu viel

Halten wir fest: Jeder Tote ist einer zu viel, ob in der Ukraine, im Gaza-Streifen oder beim brutalen Überfall am 7. Oktober 2023. Niemand hat das Recht, einem Menschen das Leben zu nehmen. Dennoch muss man es mit der Wahrheit genau nehmen, besonders als Politikerin. Wenn man recherchiert, findet man auf der Webseite Statista.com eine Zusammenstellung verschiedener Daten, auch über getötete ukrainische Zivilpersonen. Gemäss OHCHR (dem Büro des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte) wurden seit Beginn des Krieges bis zum 31. März dieses Jahres 12 912 Zivilisten, davon 682 Kinder in der Ukraine getötet.

Statista räumt ein, dass das OHCHR, da es in der aktuellen Lage schwer sei, alle Daten zu erheben bzw. zu verifizieren, davon ausgehe, dass die Zahl der zivilen Opfer «wesentlich höher» sein könnte.6 Bei 12 912 verifizierten Opfern wären 5000 mehr eine wesentlich höhere Zahl. Nehmen wir einmal an, es seien doppelt so viele, was nicht zu hoffen ist, dann sind wir doch weit von «Hunderten von Millionen Menschen» entfernt, die Putin in 38 Monaten unter die Erde gebracht haben soll.

51 000 Tote in 19 Monaten

Schauen wir in den Nahen Osten. In den 19 Monaten Krieg in Palästina sind nach offiziellen Angaben 51 000 Menschen ums Leben gekommen, und wahrscheinlich ist diese Zahl auch eher zu niedrig gegriffen, da viele Leichen noch unter den Trümmern der bis auf die Grundmauern zerstörten Häuser liegen sollen und bis jetzt nicht geborgen werden konnten.7,8 Seitdem Israel die Waffenruhe vor sechs Wochen aufgehoben hat, sind rund 1500 Palästinenser durch israelische Angriffe getötet worden, darunter auch medizinisches Personal, Rettungssanitäter und Uno-Angestellte. Doch, wie berichten unsere Hauptmedien darüber? Selten ein Artikel, der Empörung spüren liesse. Während beim Angriff auf Sumi von einem «Blutbad» oder einem «brutalen Angriff» die Rede ist, titelt z. B. die Onlineplattform der ARD nüchtern über einen Angriff der Israeli: «Viele Tote nach israelischem Angriff auf Gaza».Auch wenn bei diesem 58 Menschen ihr Leben verloren haben, unter ihnen vor allen Frauen und Kinder, wird das Ganze äussert sachlich abgehandelt.9 Stammen die Zahlen von der Hamas, werden sie als nicht überprüfbar in Frage gestellt. Stammen die Zahlen der Toten in der Ukraine von der Regierung, werden sie häufig ohne Zusatz: «Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen», als Faktum präsentiert. Meist ist Selenskyj selbst die Quelle.

Völkerrecht nach Belieben

Wir leben in einer Welt der doppelten Standards. Netanjahu wird selten so attackiert wie Putin. Der Kampf gegen die Hamas als Rechtfertigung für das Aushungern, Vertreiben und Bombardieren der Zivilbevölkerung spricht dem humanitären Völkerrecht Hohn.10 Solange wir völkerrechtswidriges Vorgehen in einem Fall verurteilen und in einem andern akzeptieren, ja sogar mit Waffen unterstützen, wird sich niemand an das Völkerrecht halten, das ein friedliches Zusammenleben aller Nationen ermöglichen würde. Politikern wie den Strack-Zimmermanns und Baerbocks ist das einerlei. Man spricht von «regelbasierter Ordnung» und bricht sie bei der nächsten Gelegenheit. Die Uno-Charta ist ein umfassendes Regelwerk, das geschaffen wurde, um nach dem Zweiten Weltkrieg weitere Kriege zu verhindern. Würden sich alle Staaten, die Mitglied der Uno sind und diese Charta unterschrieben haben, daran halten, hätten wir mehr Frieden auf Erden. ■

  1. www.nzz.ch/international/ukraine-russland-richtet-im-zentrum-von-sumi-ein-blutbad-an-ld.1880075 ↩︎
  2. www.tagesschau.de/ausland/europa/sumy-angriff-104.html ↩︎
  3. www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-russischer-angriff-auf-sumy-loest-entsetzen-in-europa-aus-WO7TEP3ZYBGFHPQR4AZD54E6SQ.html ↩︎
  4. www.tagesschau.de/ausland/europa/sumy-angriff-104.html ↩︎
  5. weltwoche.ch/daily/waffen-fuer-frieden-roger-koeppel-diskutiert-mit-marie-agnes-strack-zimmermann-ueber-putin-trump-und-europa/ ↩︎
  6. de.statista.com/statistik/daten/studie/1297855/umfrage/anzahl-der-zivilen-opfer-durch-ukraine-krieg/ ↩︎
  7. de.statista.com/statistik/daten/studie/1417316/umfrage/opferzahlen-im-terrorkrieg-der-hamas-gegen-israel/ ↩︎
  8. https://palestine.un.org/en/267691-10000-people-feared-buried-under-rubble-gaza?afd ↩︎
  9. www.tagesschau.de/ausland/asien/israel-angriffe-gaza-100.html ↩︎
  10. www.tagesschau.de/ausland/asien/gaza-un-warnung-mehlreserven-102.html ↩︎