«Der Westen redete immer über Menschenrechte. Wo sind sie jetzt? Leere Worte!!!»

Zu Besuch in einer Beduinengemeinde im Jordantal

von Dr. phil Henriette Hanke Güttinger

Ende April 2025 besuchte ich im Rahmen der Kampagne Olivenöl aus Palästina1 mit einer mobilen Klinik der Palestinian Medical Relief Society (PMRS) eine der vielen Beduinengemeinden im Jordantal, die durch massivste völkerrechtswidrige Angriffe fanatischer israelischer Siedler – oft gedeckt von israelischen Militärs – in ihrer Existenz bedroht sind.

Palästinensische Basisorganisationen wie die PMRS, unterstützen die Beduinen, damit sie auf ihrem Land bleiben.

Aus dem Reisetagebuch, Dienstag, 22. April 2025

Heute Morgen sind wir mit Dr. I., einem Arzt der PMRS, für einen Besuch mit der Mobilen Klinik im Jordantal verabredet.

Auf dem Platz vor unserem Hotel in Ramallah hat es Taxis und viele Männer, die in Grüppchen zusammenstehend miteinander im Gespräch sind – seit dem Gaza-Krieg ist die Arbeitslosigkeit angestiegen.2

Als wir nach einem Taxi für die Fahrt zur PMRS fragen und dessen Direktor, Dr. Mustafa Barghouthi, erwähnen, merkt man, dass dieser beliebt ist. Alle kennen ihn.

Mit der mobilen Klinik der PMRS unterwegs ins Jordantal

Im Gebäude der PMRS werden wir von Dr. I. willkommen geheissen. Beim Kaffee erfahren wir, das die PMRS vor allem in der Zone C tätig ist.3 Sie verfügt über 15 mobile Kliniken, die jeden Monat 150 Orte besuchen.

Meistens handelt es sich um Gemeinden, die von der israelischen Besatzungsmacht nicht anerkannt werden und von dieser weder mit Energie, mit Wasser noch mit Schulen für ihre Kinder versorgt werden.

Zudem sind diese Gemeinden oft gewalttätigen Übergriffen von israelischen Siedlern oder Militärs ausgesetzt, die von der UNOCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs occupied Palestinian territory) wöchentlich dokumentiert werden.4

Anschliessend wollen wir mit Dr. I. und einem mobilen Team der PMRS eine dieser beduinischen Gemeinden im Jordantal besuchen.

Wir fahren los, aber schon nach kurzer Zeit ist von weitem ein Autostau zu sehen. Dr. I. erklärt, dass der grosse Checkpoint bei Al Ram geschlossen sei, damit die Israelis aus ihren Siedlungen im Westjordanland störungsfrei nach Israel zur Arbeit fahren können.

Am Mittag sei das kein Problem, dann seien die Checkpoints offen. Da es lange dauern kann, bis der Checkpoint wieder aufgeht, fahren wir nicht über die breite, zweispurige, schnelle Autostrasse ins Jordantal sondern machen einen grossen Umweg.

«Das ist die Tour, die unsere mobilen Teams oft machen müssen. Die israelische Besatzung will uns das Leben so schwierig machen, dass wir gehen», sagt der Arzt, der seit 35 Jahren bei der PMRS arbeitet.

Eine schlecht unterhaltende Strasse, schmal, kurvenreich und teilweise sehr steil, führt durch viele kleine Dörfer in hügeligem Gebiet Richtung Jordantal. Immer wieder seitlich der Strasse eine gelbe Metallschranke, die das israelische Militär jederzeit über die Strasse schwenken kann, um die Strasse oder den Zugang zu einem Dorf zu blockieren.

Wir fahren auch durch das christliche Dorf Taybeh, in dem es sogar eine Bierbrauerei gibt. Auf vielen Hügeln sieht man völkerrechtswidrige israelische Siedlungen, die mit ihren Ziegeldächern Aussenquartieren europäischer Städte gleichen.

Auf einer besser ausgebauten Strasse geht es später durch ein arides, wüstenähnliches Gebiet abwärts Richtung Jordantal. In diesem Gebiet, das zur Zone C gehört, siedeln traditionsgemäss Beduinenfamilien und weiden in diesen kargen Gegenden ihre Schafe.

Weiter unten sind Überreste einer zerstörten Beduinensiedlung zu sehen. Ich bitte Dr. I. anzuhalten, weil ich Photos machen möchte. Er hält an. Aber als ich mit dem Photoapparat aussteigen will, sagt er: «Sie können nicht aussteigen.

Das ist viel zu gefährlich. Sie können aus dem Fenster fotografieren.» Das schockiert. Als ich 2018 als Beobachterin im Rahmen eines Programms des Weltkirchenrates (EAPPI) für drei Monate im Norden der Westbank stationiert war, konnte man sich noch ungehindert bewegen und photographieren, selbst bei Anwesenheit des israelischen Militärs.5

Unterdessen muss man mit bewaffneten Angriffen extremistischer israelischer Siedler rechnen. Durch das offene Fenster mache ich zwei Photos, und schon sind wir wieder unterwegs.
Im Jordantal auf der Hauptstrasse nach Jericho sind an den Leitplanken immer wieder israelische Flaggen festgemacht.

Links und rechts der Strasse viele mit Gittern und Stacheldraht umzäunte israelische Siedlungen auch mit Dattelplantagen, deren Früchte dann in der Schweiz im Coop und in der Migros mit der Herkunftsangabe «Israel» verkauft werden … Kurz vor Jericho zweigen wir ab und fahren auf einer schmalen Strasse zu einer Beduinengemeinde.

Zu Besuch in einer Beduinengemeinde

Vom Dorfvorsteher in langem Gewand und mit traditioneller Kopfbedeckung werden wir mit den Worten begrüsst: «Wenn Ihr gute Leute seid, seid ihr hier willkommen.» Bald sitzen wir mit ihm unter einem grossen Baum vor seinem Haus.

Wir fragen den Dorfvorsteher, was sie zur Zeit für Probleme haben. «Seit 1948 ist es jetzt die schwierigste Zeit für die Palästinenser. Die israelischen Siedler attackieren uns, sie stehlen unsere Schafe – sehr viele Schafe sind bereits gestohlen worden – und zünden unsere Häuser an», so der Dorfvorsteher.

Die israelische Besatzungsmacht habe es den Beduinen verboten, das Land zu nutzen, um ihre Tiere zu weiden, wie sie es von Alters her gewohnt sind. Nachts gehen sie mit ihren Tieren in die Berge, damit die Siedler sie nicht stehlen können.

Auf die Frage, ob die Lage schwieriger geworden sei seit dem Oktober 2023, antwortet er: «Vorher hatten wir keine Angriffe. Jetzt greifen die israelischen Siedler im ganzen Jordantal immer wieder an, von hier bis hinunter nach Hebron.»

Wir fragen ihn, ob sie ihr Dorf bewachen. «Ja, aber wir können nichts machen. Wenn wir die Polizei anrufen oder die Palästinensische Autonomiebehörde, kommt niemand.» Eine seiner Töchter serviert den traditionellen Kaffee. Sie stellt sich vor und möchte wissen, wie wir heissen. Anschliessend zieht sie sich wieder zurück.

Der Dorfvorsteher hat zwei Frauen. Mit der ersten Frau hat er zehn Kinder und mit der zweiten Frau acht Kinder. In der Regel wird in der eigenen Grossfamilie geheiratet. Seine Töchter behält man gerne in der eigenen Grossfamilie.

Heiraten zwischen Cousins und Cousinen sind möglich. Seine Gemeinde besteht ungefähr aus 150 Personen, die alle zu seiner Familie gehören. Das Einkommen der Grossfamilie setzt sich zusammen aus dem Erlös der Schafzucht und dem Lohn der Söhne, die auswärts arbeiten. In dieser Gegend leben etwa zehn grosse Beduinenfamilien.

Der Dorfvorsteher ist sehr dankbar für die medizinische Unterstützung durch die mobile Klinik der PMRS. In seinem Haus hat die Ärztin jetzt gerade Sprechstunde. Unter dem Vordach des Nachbarhauses findet ein Kurs in erster Hilfe statt.

Die Mitarbeiterin der PMRS demonstriert an einer Halbkörperattrappe, wie eine Herzdruckmassage gemacht werden muss, 30 kräftige Stösse an der richtigen Stelle auf dem Brustkorb, dann drei Mal beatmen. Frauen und Kinder schauen interessiert zu. Das Vorgezeigte wird anschliessend reihum geübt.

Anschliessend können wir die Frauen fragen, welches hier die häufigsten Krankheiten seien. Es gebe Allergien, Erkältungen, Diabetes, Bluthochdruck, Wunden oder auch Brüche. Auch Arthritis und Arthrosen seien ein Problem.

Zudem gebe es Parasiten, weil das Trinkwasser nicht gut gereinigt sei. Viele leiden auch an einem Vitaminmangel. Die Ernährung besteht hier vorwiegend aus Brot, Reis, Fleisch und Milchprodukten. Gemüse und Früchte gibt es kaum.

Eine junge Frau erzählt, dass sie die Mittelschule abgeschlossen habe, aber nicht an die Universität gehen könne, weil das Geld für den Transport nicht vorhanden sei. Dr. I. bietet ihr an, die Krankenpflegeschule der PMRS in Ramallah kostenlos zu besuchen.

Die Mitarbeiterin, die den Erste- Hilfe-Kurs gibt, kennen wir von unserem Besuch vor zwei Jahren an der Krankenpflegeschule, wo sie damals ihre Ausbildung machte. Wir freuen uns natürlich, dass sie jetzt bei der PMRS arbeitet. Sie ist verheiratet und hat Kinder.

Der Rückweg führt über die gut ausgebaute zweispurige Strasse, da der Checkpoint bei Al Rahm jetzt offen ist. Wir brauchen für den Rückweg einen Drittel der Zeit des Hinweges …
Am Eingang von Ramallah nahe dem Checkpoint zwei schwerbewaffnete israelische Soldaten, die ein Auto kontrollieren.

Zu Besuch in der Schule für Krankenpflege der PMRS

Zurück bei der PMRS besuchen wir die Schule für Krankenpflege und sprechen mit den Studierenden, jungen Frauen und einigen jungen Männern aus Hebron, dem Jordantal, Ramallah, Birzeit, Al Ram, Tulcarem, Nablus, Jenin. Ein Mann kommt ursprünglich aus Nordgaza.

Eine Frau aus Jenin, die hier ihre Ausbildung als Hebamme macht, erzählt, sie habe erlebt, wie eine schwangere Frau in einem Krankenwagen, der vom israelischen Militär blockiert wurde, verstorben sei.

Darum habe sie sich für diese Ausbildung entschieden. «Wenn es hier so werden wird wie jetzt in Gaza, dann müssen wir fähig sein, Notfallhilfe (emergency help) zu leisten», so ein Studierender.

Deutlich wird auch, dass das Image des «wertebasierten Westen» im Besetzten Palästinensischen Gebiet (oPt) schwer gelitten hat. So sagt ein Student:

«Es ist Krieg. Die Leute hier sind sehr frustriert. Der Westen redete immer über Menschenrechte. Wo sind sie jetzt’? Leere Worte!!!»

In dieser Frage ist man sich unter den Studierenden einig.

Eine der Lehrerinnen erklärt uns, es sei sehr wichtig zu lernen, wie man mögliche Komplikationen bei schwangeren Frauen (Delivery Emergency) erkennt, um dann gezielt helfen zu können. Alle Hebammen sind mit einem Geburtsset (Delivery Kit) augestattet, für den Fall, dass kein Spitalzugang möglich ist.

Neuerdings erhalten die Studierenden der Krankenpflegeschule nach ihrem Schulabschluss von der Bildungsabteilung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) ein Zertifikat und können jetzt im ganzen Gesundheitsbereich (Gemeinden, Spitäler) im Besetzten Palästinensischen Gebiet arbeiten.

Auch das Notfalldiplom (Emergency Diploma) wird neuerdings von der PA anerkannt.
Anschliessend an den Besuch der Schule für Krankenpflege wollte ich vom Direktor der PMRS wissen, wie die Kontakte der PMRS zum Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sei.

Er antwortet wie folgt: «Vor allem hatten wir früher mehr Kommunikation und Kontakt mit der Schweizer Regierung. Die Vertreter der Schweiz kamen regelmässig zu uns. Die letzte Person, die uns besuchte, war Maja Tassifi.

Sie war im Aussenministerium tätig. Aber in den letzten Jahren oder im letzten Jahr hat sich die Haltung der Schweizer Regierung gegenüber den Palästinensern sehr negativ verändert. Die Schweiz behauptet, sie sei neutral.

Aber sie ist immer weiter nach rechts gerückt und hat sich sukzessive immer stärker auf die Seite Israels gestellt. Natürlich hat Israel auf die Schweizer Regierung und die Politik stark eingewirkt, worüber wir nicht glücklich sind. [ … ]

Man kann also sagen, dass die schweizerische Aussenpolitik mehr pro-israelisch geworden ist. Auch das Abstimmungsverhalten der Schweiz in der Uno in Bezug auf Palästina wurde immer schlechter.»6

Zurück zu einer Schweiz der Guten Dienste

Der Besuch in der Beduinengemeinde und bei der PMRS hat gezeigt, wie mit aller Kraft unermüdlich daran gearbeitet wird, dass die Menschen im oPt auf ihrem Land bleiben. Hier müsste die Schweiz, anknüpfend an ihre humanitäre Tradition, wieder aktiv werden.

Statt sich auf die Seite Israels zu schlagen, wäre die Aufgabe von Bundesrat Cassis, das seit 2022 ramponierte Bild von der Schweiz in den Ländern des Südens wieder herzustellen durch die Rückkehr zu einer Schweiz der Guten Dienste.

Cassis müsste sich mit aller Kraft für die Einhaltung der Menschenrechte, des Völkerrechts, des humanitären Völkerrechts und der Uno-Charta in allen Konfliktgebieten einsetzen.

Dann wäre es einem auch nicht mehr peinlich, mit einem Schweizer Pass reisen zu müssen und sich dabei für die eigene Regierung in Grund und Boden zu schämen … ■

  1. https://olivenoel-palaestina.ch/ ↩︎
  2. Der völkerrechtswidrige Krieg gegen Gaza hat auch im Westjordanland zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen der palästinensischen Wirtschaft geführt. Gemäss der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) gingen bis zum 31. Januar 2024 «306 000 Arbeitsplätze verloren, was mehr als einem Drittel der Gesamtbeschäftigung entspricht». https://www.ilo.org/de/resource/news/die-arbeitslosenquote-palaestinenschen-gebieten-wird-im-ersten-quartal-2024 ↩︎
  3. Mit den Oslo-Abkommen (1993 und 1995) zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO wurde die besetzte Westbank in drei Zonen aufgeteilt. Die Zone A (ca. 18 %) umfasst die Kernbereiche der palästinensischen Dörfer und Städte, die weitgehend unter der Zivil- und Sicherheitsverwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) stehen. Zone B (ca. 22 %) steht unter palästinensischer Zivilverwaltung und gemeinsamer Sicherheitsverwaltung durch Israel und die PA. Die Zone C (ca. 60 %) bestehend aus freien Flächen, Landwirtschaftsgebieten und völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen untersteht zivil- und sicherheitspolitisch der Besatzungsmacht Israel. ↩︎
  4. Für die Zeit vom 1. Januar 2025 bis zum 31. März 2025 folgende Angaben der UNOCHA: «Die Gewalt der Siedler, die zu Opfern und Sachschäden führte, war weiterhin hoch. Im ersten Quartal 2025 wurden 356 Vorfälle dokumentiert, verglichen mit 439 Vorfällen im vorangegangenen Quartal. Diese Angriffe trugen zur Vertreibung von 38 palästinensischen Haushalten bei, in denen 223 Menschen lebten, darunter 113 Kinder, vor allem aus palästinensischen Beduinen- und Hirtengemeinschaften, die Siedlergewalt und Zugangsbeschränkungen als Hauptgründe angaben.» ↩︎
  5. vgl. dazu Henriette Hanke Güttinger: Das ist Palästina . . . ist das Palästina?, 2021, ISBN:978-3-033-08597-8
    henriettehankeguettinger@gmail.com ↩︎
  6. Diese Aussagen werden vom ehemaligen Schweizer Botschafter Jean-Daniel Ruch, der bis 2021 in Tel Aviv stationiert war, vollumfänglich bestätigt. https://dieschweiz-online.ch/recht-statt-macht-das-liegt-in-der-essenz-der-schweiz/ ↩︎