Jugendgewalt – die Rolle der Schule

von Dr. phil. Alfred Burger, Erziehungswissenschafter

Die Zürcher Jugendanwaltschaft warnt in ihrer jährlichen Bestandesaufnahme vor zunehmend jüngeren Tätern (NZZ vom 16. 05. 2025).

Dieser Anlass, so betont die Anwaltschaft, soll keine Antwort auf das Tötungsdelikt in Berikon sein, wo eine 15-jährige Schülerin vermutlich von einer 14-jährigen Schulkollegin mit einem Messer umgebracht worden war.

Angesichts deren Alters drängt sich doch ein Zusammenhang auf, wenn Roland Zurkirchen, Leiter der Jugendanwaltschaft, sagt, dass die Täter immer jünger würden.

Sie sind im Schulalter, was die Frage aufwirft, ob die Schule bei dieser negativen Entwicklung vielleicht eine Rolle spielt und ob sie nicht die Aufgabe hätte, ihr entgegenzuwirken.

Insbesondere, weil Roland Zurkirchen meint, « die kriminelle Karriere manch eines Jugendlichen müss­te früh unterbunden werden. Weil bei so jugendlichen Menschen die Persönlichkeitsstruktur noch stark formbar sei, stünden erzieherische und therapeutische Massnahmen im Vordergrund.»

Abschied von der Erziehung

Tatsächlich gehörte früher der erzieherische Aspekt in der Schule neben der Stoffvermittlung zu einer wichtigen Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer. In den letzten Jahren geriet ersterer zunehmend in den Hintergrund. Organisation, Qualitätsmanagement, Leistungskontrollen, Leistungsoptimierung, Individualisierung, Abarbeitung von schier endlosen Kompetenzen usw. stehen heute im Vordergrund.

Die Kinder werden mehr und mehr verwaltet statt gebildet und erzogen. Dazu betrachtet man die leistungs- und verhaltensmässigen Schwierigkeiten zunehmend mit einer biologistischen Sichtweise, statt als Ausdruck erzieherischer Probleme.

Man versucht deshalb, auffällige Kinder mit verschiedensten Massnahmen, und vor allem mit Medikamenten zu behandeln. In einem Interview in der NZZ vom 30. März 2025 mit dem Titel: «In immer mehr Gehirnen tobt ADHS – angeblich» beklagt der Psychologe Stephan Heim die sich epidemieartig ausbreitende Verschreibung von Ritalin und anderen Psychopharmaka.

Vor allem bei der Einschulung und in den ersten Schuljahren bestehe die Gefahr, dass bei Kindern ADHS diagnostiziert werde. Dabei bestünden riesige geografische Unterschiede: In einigen Kantonen seien viel mehr Kinder betroffen als in anderen. Es stelle sich die Frage, «ob es Kindern in einigen Kantonen besser gehe als in anderen».

Dass heute in den Schulen der erzieherische Aspekt immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden ist, sieht man besonders deutlich bei der Frage des Mobbings und des Vandalismus in den Schulhäusern. Eltern suchen Lösungen in Privatschulen, weil ihr Kind geplagt wird, Schulen schliessen ihre Toilettenräume ab, da unter anderem immer wieder Sachbeschädigungen vorkommen.

Oft unternehmen die Lehrerinnen und Lehrer wenig oder nichts, wenn Mobbing vorkommt. Sie schauen weg, weil sie sich nicht getrauen, etwas zu sagen. Dazu muss auch erwähnt werden, dass sie in der Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen auch nicht mehr angeleitet werden, wie man disziplinarische oder eben auch Gewaltprobleme in ihren Ansätzen erkennt und ihnen adäquat auf der Erziehungsebene begegnet.

Solch erzieherische Eingriffe gehören heute ganz offensichtlich nicht mehr zu den Aufgaben der Schule. Die Kinder sollen ihre Probleme untereinander selbst bewältigen, so wie sie auch selbstverantwortlich und auf sich alleine gestellt lernen müssen.

Unwissenschaftliche Theorien

Diese Auffassung ist Ausdruck einer unwissenschaftlichen Theorie, die den Menschen nicht als erziehungsbedürftig sieht, der von den Erwachsenen in das anspruchsvolle Zusammenleben in der Gemeinschaft eingeführt werden muss, was nicht ohne erzieherische Eingriffe vor sich geht, sondern als Wesen, bei dem die Anlagen mit geeigneten Methoden zur Entfaltung gebracht werden können; so wie eine Pflanze durch die richtige Gabe von Wasser und Dünger zum Blühen gebracht werden kann.

Darum wirkt heute in den Schulzimmern der «Lernbegleiter», der «Organisator von Lernprozessen» oder der «Facilitator», wie es im Englischen heisst. Er hat keine erzieherische Funktion, er organisiert Lernprozesse, ohne dabei aktiv einzugreifen.

Gewaltprobleme werden nicht erkannt

Kein Wunder, wenn Gewaltprobleme und andere negative Abläufe unter Kindern von den Lernbegleitern lange Zeit nicht bemerkt werden, sie sind ja vor allem mit der Organisation beschäftigt. Gewaltakte brechen darum vielfach in einer Schulklasse oder in einem Schulhaus plötzlich und lawinenartig aus.

Bis es so weit kommt, braucht es aber normalerweise eine Vorlaufzeit. Geschulte, feinfühlige Pädagogen können solche Erscheinungen schon in ihren Ansätzen erkennen: da eine herabsetzende Bemerkung, dort ein Briefchen mit Gemeinheiten, Ausschluss von gewissen Kindern und so weiter.

Cybermobbing

Heute ist das sogenannte Cybermobbing zu einem schwerwiegenden Problem in den Schulen und unter Kindern und Jugendlichen ganz allgemein geworden. Nur ein Pädagoge, der mit seinen Schutzbefohlenen in Beziehung ist, kann diesbezügliche Veränderungen bei den Kindern erahnen und auch eine Stimmung schaffen, dass sich Betroffene ihm anvertrauen, damit Massnahmen ergriffen werden können.

Nichts zu sagen gegen negatives Verhalten ist grundfalsch und legt eine Stimmung der Angst in einer Klasse. Wenn die Lehrerinnen und Lehrer nicht deutlich ihre ablehnende Meinung zu ungemeinschaftlichem und gewalttätigem Verhalten zum Ausdruck bringen, heisst das für alle Kinder, dass die Erwachsenen es gutheissen.

Das hat Albert Bandura schon vor langer Zeit mit seinen grundlegenden Forschungen über das Lernen am Modell belegt. Ohne Einspruch der Erwachsenen breiten sich gewalttätige «Konfliktlösungen» immer mehr aus und geben jenen Schülerinnen und Schülern in der Klasse Oberwasser, die vermeintlich schwächere heruntermachen.

Niemand wird sich dann getrauen, dagegen noch etwas zu sagen. Es wäre die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer, einen mitmenschlichen Umgang vorzumachen und auch einzufordern.

Bedeutung der Klassengemeinschaft

Nur schon die morgendliche Begrüssung und die Verabschiedung am Abend wäre ein Ritual, das die Kinder einander näherbringen könnte. Oder das Einfordern einer menschenwürdigen Sprache wäre ganz wichtig. Das Heruntermachen anderer darf nicht geduldet werden.

Die Berner Erziehungwissenschafterin Françoise Alsaker hat, aufbauend auf den Forschungen des norwegischen Konfliktforschers Dan Olweus, bewährte Anleitungen publiziert, wie Lehrerinnen und Lehrer möglichst früh schon, also bereits im Kindergarten, eine Stimmung schaffen können, damit sich Gewalttendenzen gar nicht erst entwickeln können.

Sie legt das Gewicht dabei nicht auf die herkömmliche Täter-Opfer Problematik, sondern auf die Bildung einer Klassengemeinschaft und die Stärkung der Kinder mit gemeinschaftlichen Ansätzen, damit sie fähig werden und sich getrauen, etwas gegen negatives Verhalten von Mitschülern zu sagen.

Vorbildfunktion der Lehrerinnen und Lehrer

Lehrerinnen und Lehrer haben eine Vorbildfunktion: Wie sie mit den Kindern umgehen oder auch auf sie eingehen, ob sie gegen negatives Verhalten Stellung nehmen, ob und wie sie positives Verhalten hervorheben usw. hat einen nachhaltigen Einfluss auf die Kinder.

Lehrerinnen und Lehrer bleiben immer Vorbilder, im positiven wie negativen Sinne! Leider herrscht heute an vielen Pädagogischen Hochschulen die Theorie, dass es keine Vorbilder mehr brauche, weil das die Kinder in ihrer Entfaltung einschränke.

Da ist es kein Wunder, wenn sich ungemeinschaftliches Verhalten und Gewalt in den Schulen bei den Kindern in immer früherem Alter ausbreiteten. Natürlich tragen auch gesellschaftliche Probleme und der uferlose Medienkonsum dazu bei.

Doch umso mehr hätte die Schule die Aufgabe, diesen negativen Erscheinungen entgegenzuwirken. In erster Linie sind da die Pädagogischen Hochschulen gefragt, die von ihren falschen Theorien endlich abrücken müss­ten. ■