Wieviel gilt das Wort eines Bundesrats?

Die bizarre Wandlung des Ignazio Cassis

von Thomas Kaiser

Schlechte Gefühle beschleichen einen, denkt man an den Auftritt des damaligen Bundespräsidenten, Ignazio Cassis, im März 2022 auf dem Bundesplatz in Bern. Kurz nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 zelebrierte er auf einer pro-Ukraine-Veranstaltung die Verbrüderung mit Wolodymyr Selenskyj und bezog damit unter Missachtung der Schweizer Neutralität einseitig für die Ukraine und gegen Russland Stellung.1

Auch in der folgenden Zeit verliess der Bundesrat, angeführt von Ignazio Cassis und Viola Amherd, zunehmend den Weg der Neutralität, der mit der Übernahme der EU/US-Sanktionen gegen Russland begann. Seither schloss sich der Bundesrat den weiteren EU-Sanktionen gegen Russland in der Regel an.2

Mit den sogenannten «Friedensgesprächen» auf dem Bürgenstock fügten Cassis und Amherd dem Ansehen der Schweiz immensen Schaden zu, indem sie Selenskyj die Bühne überliessen und sich selbst in Szene setzten. Von Neutralität keine Spur, denn Russland war nicht eingeladen – ein Resultat der Einseitigkeit. Auch scheute sich der Bundesrat nicht, durch einen Panzerdeal mit Deutschland indirekt die Ukraine mit Waffen zu unterstützen.3

Anstatt den Frieden mit allen Mitteln zu fördern, goss der Bundesrat Öl ins Feuer und verspielte alle Vorteile, die die Neutralität bietet.

Szenenwechsel

Ignazio Cassis, damals noch Nationalrat, gab im Herbst 2017 vor der Bundesratswahl Zeitgeschehen im Fokus ein Interview, und seine Antworten sind im Lichte seiner heutigen Politik erstaunlich:4

«Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Prosperität, der guten Qualität und dem politischen System der Schweiz?

Ja, unbedingt. Unser Staatswesen ist von unten nach oben aufgebaut. Also «bottom up», wenn man es «modern» ausdrücken will. Nichts geschieht ohne das aktive Mitmachen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, ergo der KMU, denn die meisten KMU sind sehr kleine Betriebe.

Das ist für mich die Quintessenz der Schweiz. Sie ist föderalistisch, von unten nach oben aufgebaut und direktdemokratisch. Hätten wir diese Elemente nicht im Fokus unseres Interesses, wage ich zu bezweifeln, dass die Menschen in der Schweiz noch in Frieden zusammenleben könnten.

Warum denken Sie das?

Unsere kulturellen und sprachlichen Unterschiede sind recht gross. Sie wissen, dass unsere Nachbarländer Deutschland, Frankreich, Italien jahrhundertelang im Krieg waren. Wir konnten das bei uns verhindern, weil jeder Kanton eine grosse Autonomie, jede Gemeinde sowie jede Bürgerin und jeder Bürger eine grosse Freiheit besitzen und wir als Staat neutral sind. Deshalb können wir trotz der grossen Unterschiede in Frieden zusammenleben.»

Wie bitte? Kann man verstehen, dass sich Bundesrat Cassis anschickt, alles über Bord zu werfen, was er im Interview als das Wesen der Schweiz hervorhob und würdigte? Gilt in einem demokratischen System neben allen gesetzlichen und verfassungsmässigen Regeln das Prinzip von Treu und Glauben nicht mehr, erweist sich das Wort eines Bundesrats als wertlos.

An der Pressekonferenz vom 30. April 2025 liess Ignazio Cassis die Katze aus dem Sack: Der Entscheid, den EU-Vertrag nur dem fakultativen Referendum zu unterstellen, sei auch aus «taktischen politischen Überlegungen» gefällt worden. Das Ständemehr wird so ausgehebelt.5 Damit tritt er den 2017 gelobten Föderalismus mit Füssen.

Der EU-Vertrag soll auf Biegen und Brechen durchgedrückt werden, und dazu sind alle Winkelzüge recht, unter Missachtung der demokratischen Prinzipien. Auch die Erklärung Cassis‘, es handle sich nur um weitere bilaterale Verträge, ist irreführend. Die Auswirkungen des aktuellen EU-Vertragswerks auf unser Land sind gravierend.

Sie gehen von der automatischen Übernahme von EU-Recht bis zur Unterstellung der Rechtsprechung unter den EuGH.

Das fakultative Referendum bedeutet, dass nur über das Vertragswerk abgestimmt werden kann, wenn jemand das Referendum ergreift und die geforderten 50 000 Unterschriften zusammenbringt.

Das obligatorische Referendum verlangt, um eine Vorlage anzunehmen wie zum Beispiel den EU-Vertrag, sowohl das Volks- als auch das Ständemehr. Letzteres verhindert, dass die bevölkerungsreichen Kantone die bevölkerungsärmeren überstimmen können.

Das war 1848 der Kompromiss, damit die kleineren Kantone, die Angst hatten, überstimmt zu werden und ihre Souveränität zu verlieren, die Bundesverfassung annahmen. Die Garantie eines Föderalismus mit weitreichenden Kompetenzen für die Kantone stärkte den Zusammenhalt der Eidgenossenschaft.

Damit ist das obligatorische Referendum eines der Fundamente unseres Staatswesens. Wie sagte es doch Herr Cassis in erwähntem Interview:

«Sie [die Schweiz] ist föderalistisch, von unten nach oben aufgebaut und direktdemokratisch. Hätten wir diese Elemente nicht im Fokus unseres Interesses, wage ich zu bezweifeln, dass die Menschen in der Schweiz noch in Frieden zusammenleben könnten.»

Warum setzt er sich über alle Schweizer Werte hinweg und riskiert, das friedliche Zusammenleben in der Schweiz zu zerstören? Ignazio Cassis muss das der Bevölkerung erklären. Wer treibt ihn an, diesen Weg zu gehen, den er selbst als gefährlich einschätzt?

Warum bricht er sein Wort und handelt gegen seine Überzeugung? Oder hat er nur etwas vorgegeben, um seine Glaubwürdigkeit, als möglicher Bundesrat angesichts seiner italienisch-schweizerischen Doppelbürgerschaft zu untermauern?

Seinen italienischen Pass gab er erst im Zusammenhang mit seiner Wahl zum Bundesrat ab.6 Was immer der Grund dafür sein mag, sein Vorgehen ist ein Verrat an der Schweizer Demokratie und muss vom Parlament dringend korrigiert werden.

Kann man einem Politiker vertrauen, der wortbrüchig ist und die Erhaltung wesentlicher Elemente unseres Staatswesens aufs Spiel setzt? ■

  1. https://www.srf.ch/play/tv/srf-news-videos/video/cassis-zu-selenski-beeindruckt-wie-dein-volk-fuer-freiheit-kaempft?urn=urn:srf:video:6f2b26ea-1900-4a7d-b832-85c960ea25e9 ↩︎
  2. https://www.swissinfo.ch/ger/schweiz-weitet-sanktionen-gegen-russland-im-sinne-der-eu-aus/88960096 ↩︎
  3. https://www.beobachter.ch/gesellschaft/politik/deutschland-bezahlt-125-millionen-fur-schimmlige-panzer-783442?srsltid=AfmBOorCS8kKlqYv0-F_llUHSSPLQr9fvvza_j_CyLd2cgJBWaFtmrQI ↩︎
  4. Zeitgeschehen im Fokus, Nr. 14 vom 29.09.2017 ↩︎
  5. https://www.srf.ch/news/schweiz/staendemehr-nicht-noetig-klares-signal-des-bundesrats-er-will-das-neue-eu-vertragspaket ↩︎
  6. https://www.swissinfo.ch/ger/fdp-bundesratskandidat-cassis-gibt-italienischen-pass-zurueck/43469112 ↩︎