«Die Berggebiete sind ein integraler Bestandteil der Schweiz»

«Naturgefahrenprävention ist eine Daueraufgabe»

Interview mit alt Nationalrat Thomas Egger, Direktor der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaftfür die Berggebiete

Zeitgeschehen im Fokus Welche Bedeutung haben die Berggebiete für die Schweiz?

Thomas Egger Die Schweiz ist ein Alpenland par excellence. Die Schweiz ohne Berge wäre nicht vorstellbar. Man sieht das ganz deutlich bei der Tourismuswerbung. Wenn man im Ausland fragt, was kennen Sie von der Schweiz, dann kommen als erstes Berge, Schokolade, Käse. Es werden immer die Berge erwähnt und auch die Produkte aus den Bergregionen.

Die Berggebiete machen bei uns zwei Drittel der Landesfläche aus. Es ist völlig klar, die Schweizer Identität ist von den Berggebieten geprägt. Die Schweiz ist historisch in den Bergen entstanden, und ohne die Berggebiete wäre die Schweiz ein anderes Land.

Welche Rolle spielen die Berggebiete als «Arbeitgeber»?

Die Berggebiete haben ganz wichtige Funktionen. Sie sind für die Leute, die dort wohnen, ihre Heimat. Sie sind aber auch ein wichtiger Ferien- beziehungsweise Erholungsort für Gäste aus dem Ausland, aber auch für uns Schweizer selbst. Darum ist die Pflege der Berglandschaft besonders wichtig. Man muss sie den Menschen zugänglich machen.

Es braucht gepflegte Wanderwege, Bahnen, Hotels, Ferienhäuser und Menschen, die dort arbeiten und so weiter. Die Berglandwirtschaft leistet einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit. Die Berggebiete mit ihren Stauseen sind wichtige Wasserspeicher Europas. Sie sind zudem in Zusammenhang mit der Energiegewinnung die Batterie der Schweiz, die mit der alpinen Photovoltaik zusätzlich Bedeutung gewinnt.

Die Berggebiete sind auch ein Hightech-Standort. Die Lonza in Visp ist das Werk, das den Covid-Impfstoff für Moderna produzierte. Wir haben eine boomende Startup-Szene, in der viele innovative Unternehmen tätig sind. Die Berggebiete sind integraler Bestandteil der Schweiz.

Auffällig ist die Bindung der Menschen an ihren (Berg-)Kanton …

Die mentale Verbindung zur Heimat ist in der Berggebieten ausgesprochen gross. Es ist ein Gegensatz zu den Städten, in denen man eher die Anonymität sucht oder das kulturelle Leben mit Konzert-, Theater- und Opernbesuchen. In den Berggebieten ist der soziale Kontakt zum direkten Umfeld näher. Man kennt sich untereinander. Man ist oft miteinander verwandt und hat ein enges soziales Beziehungsnetz, das sehr stark auf gegenseitiger Hilfe basiert.

Wenn etwas passiert, dann unterstützt man sich gegenseitig. Die Menschen haben eine soziale Verbundenheit. Dazu kommt eine enge Verbundenheit zur Natur, man lebt in dieser Natur, ist sofort in der Natur, kennt jeden Berg, jedes Tal. Das schafft Identität und Verbundenheit. Daher fällt es vielen schwer, während der Arbeit oder während des Studiums wegziehen zu müssen. Kein Wunder, wollen die «Heimweh-Bündner» und «Heimweh-Walliser» möglichst schnell wieder nach Hause.

Sehen Sie in der starken Verbundenheit auch einen direkten Zusammenhang mit dem Staatswesen der Schweiz?

Unbedingt. Was wir zum Beispiel sehen, ist ein grosses gesellschaftliches Engagement in den Vereinen. Die vielen lebendigen Vereine sind sehr aktiv. Jedes Dorf hat noch seinen Musikverein, Turnverein, Skiclub. Wenn es ein Dorffest gibt, dann hilft jede und jeder mit.

Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass jeder Freiwilligenarbeit leistet, damit sich das Dorf im besten Lichte zeigen kann. Das ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Zusammenhalts, der sich auf der staatpolitischen Ebene widerspiegelt, wenn man miteinander Dinge bewältigt und Lösungen findet.

Was bieten die Berggebiete für die Menschen, die dort leben oder leben wollen?

Für uns ist wichtig, dass wir die Berggebiete als Wohn- und Arbeitsstandort, als Lebensraum für die Bevölkerung erhalten können. Zudem darf man nicht vergessen, dass die Berggebiete als Tourismusdestination auch ein Sehnsuchtsort sind. Wir erbringen Leistungen für die Feriengäste, welche die schönste Zeit des Jahres in den Bergen verbringen. Die Berggebiete bringen zum Beispiel auch unerlässliche Leistungen für den Transitverkehr.

Wir halten die Gotthard- und die Lötschbergstrecke sowie weitere Alpentransversalen offen. Es braucht dazu, wie wir aktuell gesehen haben, Schutzmassnahmen, um die Strassen vor Lawinenniedergängen, Steinschlag und Hochwasser sicher zu machen. Wir müssen uns im klaren sein, dass letztlich die Bergbewohner diese Arbeit leisten.

Was für Leistungen erbringt die Berglandwirtschaft?

Die wichtigste Aufgabe der Berglandwirtschaft besteht darin, authentische Nahrungsmittel aus den Berggebieten aus einheimischer Produktion herzustellen, was identitätsstiftend ist. Wir haben nicht zuletzt deswegen so viele AOP-Produkte wie Raclette du Valais AOP und Tête de Moine AOP. Die Landwirtschaft in den Berggebieten hat aber noch eine ganz andere Funktion: die Offenhaltung der Landschaft.

Wenn die Alpen verbuschen und verwalden, wären sie für den Tourismus nicht mehr attraktiv. Durch die Verbuschung würden die Naturgefahren zunehmen und die Biodiversität abnehmen. Im Wald gibt es weniger Biodiversität als auf einer offenen Trockenwiese. Auch leistet die Berglandwirtschaft einen Beitrag zur dezentralen Besiedlung, weil diese Gebiete noch bewohnt werden. Die Landwirtschaft, und das ist in der Bundesverfassung abgebildet, spielt eine wichtige Rolle in unserem Land.

Kommen wir noch auf Blatten zu sprechen. Wie beurteilen Sie dieses gewaltige Ereignis?

Blatten war eines der schönsten Dörfer im ganzen Alpenraum. Es gab im Kern noch die alten Holzbauten aus dem 14. Jahrhundert. Diese waren sehr gut erhalten. Das Dorf war auf einem Felsrücken gebaut, überhöht gegenüber dem Talboden, weil man sich der Naturgefahren bewusst war und sich davor schützen wollte. Jahrhundertelang hat das gut geklappt.

Nun hat dieses gewaltige Ereignis das Dorf Blatten doch zerstört. Es sind unglaubliche Bilder, die traurig stimmen und betroffen machen. Wenn man sieht, dass sogar der Gegenhang zerstört wurde, kann man sich vorstellen, mit welcher Wucht das Gestein, Geröll und Eis herabstürzte. Ein Ereignis von dieser Dimension konnte man unmöglich vorhersehen.

Wie war die Vorbereitung auf das Ereignis?

Ich möchte betonen, dass man sich gut vorbereitet hatte. Man hat gewusst, dass es ein Gefahrenpotential gibt, hat rechtzeitig darauf reagiert und dadurch vermeiden können, dass mehr Menschenleben zu beklagen sind. Eine Person wird vermisst, die man bisher noch nicht gefunden hat. Es hätte viel schlimmer kommen können.

Die Behörden und die Naturgefahrenexperten haben eine ausgezeichnete Arbeit geleistet, sowohl bei der Vorbereitung, als auch bei der Bewältigung des Ereignisses und bei der Kommunikation danach. Man sieht daran, wie wichtig es ist, die Naturgefahrenprävention in einem integralen Ansatz zu vollziehen. Das heisst, sensibilisieren für die Naturgefahren, sich vorbereiten auf solche Ereignisse, immer wieder üben und trainieren.

Das sind regelmässige Stabsübungen, die abgehalten werden müssen. Wie kommunizieren wir miteinander, wie bewältigen wir das Ereignis und wie arbeiten wir es nachher auf? In Blatten wurde sehr professionell reagiert. Die Art und Weise, wie der Gemeindepräsident Stellung bezogen hat, hat mich beeindruckt. Auch die weiteren Mitglieder des Krisenstabs und die zahlreichen Helfer haben vorbildlich ihre Aufgaben wahrgenommen und einen enormen Einsatz geleistet.

Naturgefahrenprävention ist eine Daueraufgabe, und die Herausforderungen werden in diesem Bereich immer grösser. Finanzielle Kürzungen sind deshalb völlig fehl am Platz. Ganz aktuell könnte der Bundesrat deshalb ein Zeichen für Blatten setzen, aber auch für alle anderen Gemeinden, die in Zukunft betroffen sein könnten. Im Entlastungspaket 27 ist vorgesehen, im Bereich Naturgefahrenprävention zu kürzen, und das ist doch genau der falsche Weg. Der Bundesrat könnte auf die Kürzung verzichten und damit ein wichtiges Signal auch für Blatten aussenden.

Nach diesem Ereignis war die Stimmung: Blatten muss wieder aufgebaut werden. Es scheint wohl am gleichen Ort nicht möglich zu sein, aber vielleicht in nächster Umgebung. Dann drehte sich der Wind. In den Medien sprach man von der Unmöglichkeit, Bergtäler zu bewohnen. Wie denken Sie darüber?

Diese Provokation ist völlig unnötig und widersinnig. Sie ist völlig deplatziert. Die Fragestellung ist nicht ganz neu. Sie kam schon in den 2000er Jahren durch das ETH Studio Basel auf, das damals gesagt hatte, man solle gewisse Täler aufgeben. Diese Stimmen las man aktuell in der NZZ am Sonntag. Wir widersprachen bereits damals dem ETH Studio klar, und die Zahlen geben uns recht: Die Bevölkerung nimmt in den Berggebieten zu, was sehr positiv ist.

Es gibt viel mehr Menschen, die ins Berggebiet ziehen und dort wohnen wollen. Es ist auch eine extrem hohe Nachfrage nach Zweitwohnungen zu spüren. Die Städter möchten gerne ihre Ferien in den Bergen verbringen. Der Zweitwohnungsmarkt ist regelrecht leergeräumt. Aktuell sind wir in den Berggebieten mit dem Thema der Wohnungsnot konfrontiert. Das widerlegt eindeutig die provokativen Thesen von ETH Studio Basel.

Wir sind in einer ganz anderen Entwicklung. Diese unnötigen Provokationen sind auch pietät- und respektlos gegenüber der betroffenen Bevölkerung. Das war auch 2024 so, als wir die Hochwasser hatten, mit der Schadensbekämpfung befasst waren, vermisste Personen noch gesucht wurden und uns mit solchen Forderungen konfrontiert sahen. Das ist respektlos. Die provokativen Aussagen sind zudem schlichtweg falsch. Wir sind froh, dass wir die Ressource Raum auch in den Berggebieten nutzen können.

Warum tauchen diese Forderungen immer wieder auf?

Das sind Provokationen von einzelnen Kreisen. Was mich demgegenüber sehr positiv stimmt, ist die extrem grosse Solidarität, die wir in der Bevölkerung spüren. Das zeigt, die Solidarität ist vorhanden, sie ist unter der Bevölkerung ausgeprägt, sowohl von den Städtern gegenüber der Landbevölkerung als in umgekehrte Richtung.

Diejenigen, die sich jetzt mit derartigen Provokationen zu Wort melden, sind einzelne, nicht repräsentative Kreise. Ihnen muss man klar entgegenhalten, dass ihre Provokationen fehl am Platz sind und nicht stimmen. Ich kenne diese Diskussionen eigentlich auch nur aus der Schweiz. In Österreich etwa gibt es keine derartigen Diskussionen. Dort ist man stolz auf die alpine Identität und setzt diese auch gezielt in der Imagewerbung und Politik in Szene.

Was ist das Interesse dahinter?

Meist wird ökonomisch argumentiert. Man sagt die Täler seien unrentabel. Diese von einem neoliberalen Gedankengut geprägte Betrachtung ist für mich völlig falsch. Man kann das nicht nur auf das Ökonomische reduzieren. Wir haben bereits am Anfang unseres Gesprächs darüber gesprochen, was noch alles von Bedeutung ist.

Zudem wird die Diskussion meist nur in eine Richtung geführt, nämlich Rückzug aus den Berggebieten. Wie sieht es aber umgekehrt aus? Im Sommer 2022 gab es in der Schweiz über 500 Hitzetote. Darüber spricht man kaum. Wenn man von Klimarisiken spricht, dann wird es in Zukunft eher einen Trend Richtung Berge geben: Eine Flucht aus den hitzegeplagten Städten in die Sommerfrische. Diese «Klimaflüchtlinge» werden auch froh sein, wenn sie in den Berggebieten eine gute Infrastruktur und guten Schutz vor Naturereignissen vorfinden.

Welche Rolle spielen dabei die Gefahrenkarten?

Sie sind ein zentrales Element der Naturgefahrenprävention und werden laufend an neue Erkenntnisse angepasst. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass dabei vermehrt auch der Blick auf mögliche zukünftige Ereignisse gerichtet wird. Bis anhin wurden Gefahrenkarten meist durch einen Blick in den Rückspiegel erstellt.

Man schaut, was ist in den letzten 100 Jahren passierte, und zeichnet aufgrund dieser Erfahrung die Gefahrenkarten. Das funktioniert heute nicht mehr. Die Auswirkungen des Klimawandels und weitere zukünftige Naturgefahrenrisiken müssen berücksichtigt werden. Entsprechende wissenschaftliche Grundlagen sind vorhanden.

Neben planerischen und organisatorischen Massnahmen braucht es auch bauliche Anpassungsmassnahmen etwa für den Schutz vor Murgängen und Hochwasser. So muss beispielweise die dritte Rhonekorrektion wie geplant integral umgesetzt werden. Das kostet natürlich auch Geld, deshalb darf man die Naturgefahrenprävention nicht reduzieren, sondern muss sie ausbauen. Absoluten Schutz wird es aber niemals geben.

Die Bergbevölkerung ist es gewohnt, mit diesem Restrisiko umzugehen. Sie weiss: Der Berg ist am Schluss immer stärker. Demgegenüber scheint sich die städtische Bevölkerung eher in Sicherheit zu wiegen im Glauben daran, dass die Technik alles regelt, und man alles im Griff habe. Der Bezug zur Natur und deren möglichen Gefahren fehlt. Umso mehr ist man überrascht, wenn ein Ereignis eintritt.

Herr Egger, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser