Jugendgefährdende Regierungen

von Dr. Stefan Nold*

Über 180 Namen stehen auf einer Säule auf dem Arheilger Friedhof in dankbarer Erinnerung an «unsere gefallenen Helden im Weltkrieg 1914 bis 1918.» Arheilgen, heute ein Stadtteil von Darmstadt, war 1914 eine eigene Gemeinde mit 6000 Einwohnern.1 Legt man die Bevölkerungsstruktur in Deutschland von 1910 zugrunde,2 entfielen rund 17 % auf die Jahrgänge 1885 bis 1895. Die Hälfte davon waren Männer: 500 junge Kerle zwischen 20 und 30 Jahren. 180 von ihnen, mehr als jeder Dritte, ist auf dem Schlachtfeld geblieben.

Die Inschriften mit ihren Namen sind völlig verwittert – aber sie mahnen. Der rote Arbeiter an der Drehbank, der schwarze Kirchenmann auf der Kanzel, der würdige Herr Geheimrat sowieso, selbst die Redaktion der sonst so kritischen Satirezeitschrift «Simplizissimus» war damals der Meinung «Deutschland sei überfallen worden, und es sei ein Defensivkrieg und ein Krieg um seine Existenz, den es zu führen habe und dem sich kein Deutscher entziehen dürfe.»3

Die Jugend hat das mit dem Leben bezahlt. Mit Blumen bekränzt hat man sie verabschiedet, verblutet ist sie in den Höllen von Verdun und Flandern. Gewonnen haben die andern, die Schieber auf dem Schwarzmarkt, die Schaumschläger in den Parlamenten, die Scharfmacher in den Heeresleitungen und die reichen Barone von der Schwerindustrie.

Als ich 1978/79 Wehrdienst geleistet habe, war in der Bundesrepublik jeder dritte Sohn einer Familie davon befreit. Die ersten beiden konnten dem Vaterland geopfert werden. Mein Grossvater ist mit einem Kopfschuss aus dem ersten Weltkrieg zurückgekommen, meinen Vater hat man mit 16 von der Schulbank weg zu den Flakhelfern eingezogen. Er hatte Glück. Als er fünfeinhalb Jahre später – davon drei Jahre in russischer Gefangenschaft – hungrig aber heil wieder zu Hause war, musste er in einem einjährigen Förderkurs das Abitur nachholen.

Der Lehrer kam in die Klasse, Caesars «De bello Gallico» in der Hand, und fragte: «Wo waren wir stehen geblieben?» – Wo stehen wir heute? Bald schlägt’s Taurus und Oreschniks, aber niemanden stört das. Man trommelt wieder, wie anno 1914. Der Feind steht jetzt im Osten. Alle wissen es ganz genau, Irrtum ausgeschlossen.

Unser Denken ist in einem Tunnel – und das Licht am anderen Ende ist der entgegenkommende Zug. Wenn wir dem entfliehen wollen, müssen wir uns von vorgegebenen Denkmustern befreien. Wenn Staaten die Interessen ihrer Bürger vertreten und dabei auch ihre Nachbarn respektieren, ist Frieden. Genau mit einem solchen Programm ist der einst auch in Russland sehr beliebte Komiker und Fernsehstar Wolodymyr Selenskyj im Mai 2019 Präsident der Ukraine geworden: Als «Diener des Volkes.»4

Und Wladimir Putin? Der sagte im Dezember 2019 auf einer Pressekonferenz in Paris mit den Regierungschefs von der Ukraine, Deutschland und Frankreich zum Konflikt im Donbas: «Lassen sie uns auch die einfachen Menschen nicht vergessen, die dort leben. Alle unsere Vereinbarungen sollten dazu beitragen, ihr Leben nicht irgendwann später, sondern jetzt zu verbessern.»5

Seine Idee von einem Wirtschaftsraum von «Lissabon bis Wladiwostok» hätte auch Deutschland Vorteile gebracht.6 Aber wenn zwei Freunde werden wollen, ärgert sich der Dritte – und versucht, das mit allen Mitteln zu verhindern. Das ist die eigentliche Ursache des ganzen Schlamassels. Unmittelbar nachdem Selenskyj mit seiner Forderung nach einem Frieden mit Russ­land einen überwältigenden Wahlsieg errungen hatte, nahm die taz die Witterung auf und schrieb: «Die Ukraine wird von einem Serienhelden regiert, der mehr von russischen Comedians versteht als vom eigenen Land. Ein intellektuelles Desaster.»7

Aber der junge Hase hat schnell gelernt, welche Haken er zu schlagen hatte, um am Leben zu bleiben. Am besten kreuzförmige. Auch den wie immer kreuzbraven Hunnen hat man durch die Sprengung ihrer lebenswichtigen Gaspipelines deutlich gezeigt, wo der Hammer hängt.
Ich mache mir keine Illusionen. Ich will nicht die Welt retten. Nicht mehr. Ich bin nur ein Grossvater, der seinen Enkeln die verlorene Jugend seiner Vorfahren ersparen möchte.

Deshalb sage ich: Das Letzte, was wir in dieser gefährlichen Situation brauchen, ist einen direkten Krieg mit Russland. Wenn deutsche Raketen, deren Kurs von Deutschen programmiert wurde, in Russland einschlagen, wird ganz Russland den Krieg mit Deutschland fordern. Die Lage ist schon brenzlig genug. Unter keinen Umständen dürfen wir sie weiter eskalieren lassen. Wie 1914 kann ein einziger Funken das Pulverfass explodieren lassen, ob in der Ostsee, im Schwarzen Meer oder in der Nähe eines Lagers mit Nuklearwaffen wie am vergangenen Wochen­ende.

«Wir sind näher an der atomaren Vernichtung als jemals zuvor in der Geschichte des Planeten».8 Jeffrey Sachs, der ruhig argumentierende Professor von der Columbia Universität, kann seine angestaute Wut über unsere «völlig unfähigen politischen Führer» kaum verbergen: «Dieser Krieg muss aufhören, bevor wir alle in die Luft gejagt werden.»

Solange Wladimir Putin am Ruder ist und keiner der lauter werdenden Hardliner das Kommando übernimmt, sollte gerade Deutschland alles daran setzen, das zerschlagene Porzellan wieder zu kitten, sich um Aussöhnung bemühen und die laufenden Friedensverhandlungen wohlwollend begleiten. Wir können uns nicht zum dritten Mal in hundert Jahren eine Regierung leisten, die unsere Jugend und unser ganzes Land gefährdet. ■

Stefan Nold, Jahrgang 1959, 1x Ehemann, 3x Vater, 5x Grossvater, studierte Elektrotechnik und promovierte an der TH Darmstadt. 1985 bis 1990: KSB Pumpen, Frankenthal, 1991 Gründung des Ingenieurbüros SOFT CONTROL GmbH Automatisierungstechnik, Darmstadt. Aktivist und Mitbegründer erfolgreicher lokaler Bürgerinitiativen. Zwei Bücher: 2012: «Beerdigung, Reifenwechsel, Hochzeit» (2012) Justus von Liebig Verlag, Darmstadt; «Kein Frieden – keine Zukunft. Schlagt Brücken und versteht eure Feinde» (2024) Open Source. Download: overton-magazin.de/wp-content/uploads/2024/07/Nold-KeinFriedenKeineZukunft-24720sN.pdf

  1. https://www.darmstadt-stadtlexikon.de/a/arheilgen.html ↩︎
  2. http://www.agenda21-treffpunkt.de/daten/altersaufbau-D-1910.jpg
    Zur näherungsweisen Berechnung wurde zeichnerisch der Flächeninhalt der Bevölkerungspyramide, die damals ohne kriegsbedingte Einschnitte ein fast perfektes Dreieck bildete, ermittelt und mit der trapezförmigen Fläche für die Altersgruppe zwischen 20 und 30 Jahre verglichen. ↩︎
  3. Roth, Eugen (1954): Simplizissimus. Ein Rückblick auf die satirische Zeitschrift: «Über die erste Redaktionssitzung nach Ausbruch des Kriegs im August 14 berichten laut Hermann Sinsheimer, dem späteren Chef, mehrere Teilnehmer übereinstimmend: «Ludwig Thoma, der Chefredakteur … machte den unzweideutigen Vorschlag, das Blatt eingehen zu lassen. Er war wie die übergrosse Mehrheit der Deutschen davon überzeugt, Deutschland sei überfallen worden, und es sei ein Defensivkrieg und ein Krieg um seine Existenz, den es zu führen habe und dem sich kein Deutscher entziehen dürfe.» S. 42–44. Fackelträger Verlag: Hannover. ↩︎
  4. Kiryushchenko, Olexey (2015–2017): Diener des Volks. Fernsehserie (51 Episoden) mit Wolodymr Selenskyj (Hauptdarsteller und Produzent). Folge 1 und 2: https://www.youtube.com/watch?v=2K5mTjJMx-w ↩︎
  5. Putin, Wladimir (10.12.2019): Pressekonferenz https://www.youtube.com/watch?v=0KO_JFoSpJ4 Minute 17:30 – 18:00. Elysee-Palast: Paris. ↩︎
  6. Putin, Wladimir (25.11.2010): Von Lissabon bis Wladiwostok. Plädoyer für eine Wirtschaftsgemeinschaft. SZ: München.
    www.sueddeutsche.de/wirtschaft/putin-plaedoyer-fuer-wirtschaftsgemeinschaft-von-lissabon-bis-wladiwostok-1.1027908 ↩︎
  7. Kratochvil, Alexander und Larysa Denisenko (18.11.2019): Sprachlos in Kiew. Die Ukraine nach Selenskis Wahlsieg.
    https://taz.de/Die- Ukraine-nach-Selenskis-Wahlsieg/!5638760/ taz Verlags und Betriebs GmbH: Berlin. ↩︎
  8. Sachs, Jeffrey (2.6.2025): Gespräch mit Andrew Napolitono auf dem Youtube-Kanal Judging Freedom.
    https://www.youtube.com/watch?v=CHqUzdSt_g0
    Minute 6:30: «I find our political leaders absolutely incapable.»
    Minute 10:30: «This war has to stop before we all get blown up. Minute 13:30: We are closer to annihilation than ever before in the history of the planet and since the start of the atomic age. And that means we are closer to nuclear Armageddon than during the entire cold war period. ↩︎