Interview mit Dr. Lothar Schröter*
Zeitgeschehen im Fokus Wo sehen Sie die Ursachen des Ukrainekonflikts?
Dr. Lothar Schröter Die Wurzeln des Ukraine-Konflikts liegen in der Antwort auf die Frage, wie sich die Grossmächte die künftige Weltordnung vorstellen: Soll sie unipolar und vom Westen angeführt sein oder multipolar, wofür der globale Süden steht, die Volksrepublik China sowie Russland. Eine zentrale Rolle dabei spielt die Zukunft der Ukraine.
Warum besetzt die Ukraine hier eine Schlüsselstellung?
Es gibt den bekannten US-amerikanischen Geostrategen, Zbigniew Brzeziński, der in seinem Buch «Die einzige Weltmacht» schreibt, dass der Westen die Ukraine kontrollieren müsse, um Russland kleinhalten zu können. Wörtlich schrieb er: «Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Platz auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre blosse Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt.»
Wenn es gelingt, Russland kleinzuhalten, kann man sich auf die Konfrontation mit China einlassen, um somit die unipolare Weltordnung wiederherzustellen. Das Gleiche hatte er in zwei Grundsatzartikeln in der US-Zeitschrift Foreign Affairs dargestellt. Damit der Leser dann endgültig versteht, warum die Ukraine in dem westlichen Gesamtkonzept eine so grosse Rolle spielt, hat er sogar eine geographische Karte beigefügt.
Um Konflikte zu verstehen, braucht es immer einen Blick in die Geschichte. In der Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und Russland spielte die Krim stets auch eine Rolle. Was gab es für Entwicklungen bezüglich der Halbinsel?
Es gab verschiedene, die komplex waren, besonders in den 2000er Jahren. Die Krim drängte in dieser Zeit auf ein gewisses Mass an Autonomie, zunächst im Rahmen der Ukraine. Das hat Kiew ignoriert. Dann wendete sie sich zunehmend in Richtung Russland. Das endete in einer Volksabstimmung auf der Krim im Jahr 2014. Dort votierten über 96 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die Eingliederung in die Russische Föderation.
Man kann über diese Prozentzahl diskutieren. Unbestreitbar aber ist, dass die absolute Mehrheit der Krim-Bevölkerung sich mit Russland verbunden fühlt und staatlich zu ihm gehören wollte und will. Eine Annexion der Krim hat es also nie gegeben.
Das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland war nicht immer so problematisch, wie es sich jetzt darstellt. Warum hat sich das so massiv geändert, dass ein Krieg unausweichlich erschien, obwohl doch beide Staaten Bruderländer sind?
Die Ukraine und Russland sind in der Tat Bruderländer. Sie haben mit der mittelalterlichen Kiewer Rus dieselben Wurzeln. Die Sprache weist auch manche Ähnlichkeiten auf, die Schrift erst recht.
Es gab nach dem Ersten Weltkrieg eine Selbständigkeitsbewegung in der Ukraine. Sie bestand aus sehr konservativen und reaktionären Kräften mit einem starken Nationalismus, besonders in der Westukraine um die Stadt Lwow. Mit der Entstehung der UdSSR 1922 wurde auf Betreiben Lenins die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik Teil der Sowjetunion, während andere die Ukraine in die Russische Sowjetrepublik integrieren wollten. Lenin setzte sich durch, und so bekam die Ukraine einen eigenen Republikstatus innerhalb der UdSSR.
In der Folge kam es zu einer rasanten Entwicklung, zum Beispiel in der Landwirtschaft. Die Ukraine besitzt bekanntlich besonders ertragreiche Erde, die sogenannte Schwarzerde. Die stärkste Entwicklung während der Sowjetzeit vollzog sich aber in der Schwer- und Grundstoffindustrie, die die Ukraine und Russland stark miteinander verband.
Für die enge Verbindung zwischen den Völkern beider Sowjetrepubliken ist Potsdam-Krampnitz ein Beispiel. Dort waren die Stäbe der 10. Garde-Panzerdivision und der 35. Motorisierten Schützendivision der Sowjetarmee sowie dazugehörige Einheiten stationiert, und sie bestanden ganz überwiegend aus Russen, Ukrainern und Weissrussen.
Ich kannte das alles aus eigener Anschauung. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass es je zwischen Russland und der Ukraine einen Riss hätte geben können. Bei den baltischen Staaten war das ganz anders. Sie gehörten eigentlich nie so richtig dazu. Ich war mehrmals in der Sowjetunion, auch in der Ukraine, und spürte nichts von Zwistigkeiten.
Warum hat sich das seit dieser Zeit so extrem verändert?
Begonnen hat das Ganze 1991, als sich die drei Präsidenten der Ukraine, Weissrusslands und Russlands darauf einigten, die Sowjetunion zu zerschlagen. Dann gab es in der Ukraine, aber auch in den anderen beiden Staaten, die Diskussion, wo es hingehen soll. Orientiert man sich nach Westen, nach Osten oder auf sich selbst? Diese Auseinandersetzung – Weissrussland erlebte das auch – eskalierte in der Ukraine mit der Orangenen Revolution 2004 unter Julia Timoschenko.
Die Westorientierung gelang damals noch nicht, aber später unter Poroschenko, der nach dem Maidan-Putsch fünf Jahre Präsident der Ukraine war. Sein Vorgänger, Viktor Janukowitsch, suchte hingegen sowohl ein gutes Auskommen mit dem Westen als auch mit Russland, und er strebte so eine ausgeglichene Politik an. Es gab das Assoziierungsabkommen mit der EU, das nicht unterzeichnet, sondern von Janukowitsch aufgeschoben wurde.
Daraufhin schlossen sich die Kräfte zusammen, die mit aller Gewalt die Westorientierung durchsetzen wollten. Das mündete im Winter 2013/2014 in den Maidan-Aufstand, der in einem Putsch endete. Hier setzten sich die westorientierten und nationalistisch-faschistischen Kräfte durch, und zwar mit Unterstützung des Westens. Das bildete den Ausgangspunkt für den tatsächlichen Krieg, der in der Nacht vom 6. auf den 7. April 2014 durch die ukrainischen Nationalisten in einer so genannten Antiterroroperation eröffnet worden war.
Der damalige Nato-Generalsekretär Stoltenberg bestätigte dies mit der Aussage, dass der Krieg 2014 begonnen habe. Er gab dann nur den Russen die Schuld. Der ehemalige Offizier des Schweizer Nachrichtendiensts, Jacques Baud, erklärte, dass keine russischen Linieneinheiten im Donbas-Gebiet stationiert gewesen seien: «Während der gesamten Ukraine-Krise von 2021 bis 2022 hat man die Stationierung von militärischem Gerät auf russischem Territorium gesehen, aber kein einziges Bild von russischen Truppen im Donbas, und das seit Jahren.» Was es dort gab, waren russische Militärberater und militärtechnische Unterstützung, aber kein russisches Militär in Form geschlossener militärischer Truppenkörper.
Warum konnten Lugansk und Donezk erfolgreichen Widerstand leisten?
Lugansk und Donezk wehrten sich gegen die Angriffe der ukrainischen Nationalisten, und dies durch übergelaufene Soldaten in geschlossenen Truppenkörpern, die ihre Waffen mitnahmen, zum Teil auch schweres Gerät. Sie nannten sich fortan Milizen. Deshalb konnten sie einen erfolgreichen Abwehrkampf gegen die Ukrainer führen. Vor dem Hintergrund dessen, dass die Ukraine ihre Ziele militärisch nicht erreichen konnte, gab es die Verträge Minsk I und Minsk II 2014/15.
Die Schweiz spielte dabei unter dem damaligen Schweizer Bundespräsidenten Didier Burkhalter eine gewichtige initiierende Rolle für die Verhandlungen, die es im Rahmen von Minsk gegeben hatte. Dass die Ukraine gar nicht im Sinn hatte, die Bestimmungen der Abkommen umzusetzen, hatte Petro Poroschenko in einem Interview am 6. Juni 2022 in der italienischen Zeitung Corriere della Sera ganz klar gesagt, die Minsker Vereinbarungen hätten Kiew nur dazu gedient, Zeit zur Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte und zur Wiederherstellung der Wirtschaft zu gewinnen. An eine Verwirklichung habe man nie gedacht. Auch die frühere Bundeskanzlerin Merkel und der damalige französische Präsident Hollande bestätigten das und sahen es als eine erfolgreiche Taktik an.
Die Ukraine hatte einen faktischen Neutralitätsartikel in der Verfassung. Warum konnte ein Beitritt zur Nato überhaupt ein Thema sein?
Der Artikel wurde 2019 geändert und der Nato- und EU-Beitritt als neues Ziel in die Verfassung aufgenommen. Man muss sich aber im Klaren sein, dass Russland das nie akzeptieren kann. Als der Putsch 2014 gelungen war und die Krim sich zur Russischen Föderation bekannte, begann die grosse Aufrüstungsrunde zugunsten der Ukraine. Als Begründung musste die Abspaltung der Krim herhalten. Daran beteiligten sich Frankreich, die USA, Deutschland und Grossbritannien an vorderster Front. Deutschland war anfänglich zögerlich, lieferte dann aber Ausrüstung wie Stahlhelme und später auch Waffen, nach dem 24. Februar 2022 ganze Offensivsysteme.
Wir konnten in den letzten Jahren eine verdeckte Aufrüstung gegen Russland – zumindest seitens der USA sehen. Bereits der US-Präsident George W. Bush wollte den Raketenschutzschild in Rumänien und Polen aufbauen. Russland drohte mit nuklearfähigen Raketen im Kaliningrader Gebiet. Die Begründung der USA war, es sei zur Abwehr von Raketen aus dem Iran und Nordkorea. Wurde damals schon mit der Option eines Krieges gegen Russland gespielt?
Nur eines Stellvertreterkriegs. An einen bewusst provozierten Krieg zwischen der Nato und Russland will ich nicht glauben. Das würde zu einer Selbstvernichtung der Zivilisation führen. Das weiss man im Westen, ebenso in Russland und in China. Diesen Krieg will man vermeiden. Die genannten Abwehrraketen, das ist ganz klar, können auch als Offensivwaffen gebraucht werden. Vor diesem Hintergrund warnte Russland davor, das umzusetzen, aber die USA sind immer noch daran, das zu vollenden. Für Russland bedeutet das eine Bedrohung. Deshalb stellten sie im Kaliningrader Gebiet die Iskander-Raketen mit dem Ziel der Wiederherstellung eines Gleichgewichts auf.
Lassen Sie uns noch über die aktuellen Versuche, den Krieg zu beenden, sprechen. Was bedeutet die momentane Entwicklung?
Ich bin hier skeptisch, ob man sich auf eine gemeinsame Position einigen kann, denn die Vorstellungen liegen dermassen weit auseinander. Russland hat klar signalisiert, dass die vier Oblaste, Donezk, Lugansk, Saporoshje und Cherson Teile der russischen Föderation bleiben müssen. Die weitere Forderung war, dass die Ukraine nicht der Nato beitreten darf und neutral sein muss. Das widerspricht der ukrainischen Verfassung und den Zielen der ukrainischen Führung.
Ein weiterer Punkt war, dass die ukrainische Armee nur in einer minimalen Grösse zugelassen werden soll und die nationalistische Nationalgarde aufgelöst werden müsste. Das russische Memorandum steht also im direkten Widerspruch zu dem, was die Ukraine erwartet: Russland soll sich auf die Linie vor dem 24. Februar 2022 zurückziehen. Das werden die Russen niemals tun. Weiter forderte die Ukraine, dass der Weg in die Nato und in die EU freigehalten werden muss. Die EU würde Russland vielleicht akzeptieren, aber auf die Nato wird es sich niemals einlassen.
Das ist so konträr, und es stellt sich die Frage, ob hier jemals etwas herauskommen kann. Dazu addiert sich noch, dass die allermeisten Kriege nicht auf dem Schlachtfeld entschieden werden, sondern im Hinterland. Es gibt zwei Aspekte. Erstens: Wie steht die Bevölkerung zur politischen und militärischen Führung? Am 24. Februar standen sowohl in der Ukraine als auch in Russland etwa 75 Prozent der Menschen hinter ihren Regierungen. In Russland ist es immer noch in dieser Grössenordnung, in der Ukraine bröckelt es.
Den zweiten Aspekt bildet das militärökonomische Potenzial: Die russische Rüstungsproduktion läuft auf vollen Touren, die Ukraine ist weitgehend abhängig von Rüstungslieferungen aus dem Westen. Wenn die USA diese Lieferungen reduzieren würden, dann wird sichtbar, dass das ukrainische Militär dem russischen Druck nicht standhalten kann. Dann könnte es sein, dass Russland den Konflikt erst einmal militärisch lösen wird und die entsprechenden Gebiete vollständig erobert. Es wird der Ukraine klar machen, dass der Krieg weitergehe, wenn sie nicht auf den Nato-Beitritt verzichte. Der Nicht-Beitritt zur Nato ist das A und O – neben den vier Oblasten, die Russland zu seinem Territorium erklärt hat.
Russland war nach den Istanbuler Gesprächen im März 2022 bereit, darauf zu verzichten.
Ja, das stimmt, aber wir wissen, dass die Istanbuler Gespräche in der ersten Phase des Ukraine-Kriegs ganz offensichtlich vom Westen sabotiert worden sind, angeführt vom britischen Premier Boris Johnson. Dann kam die Butscha-Inszenierung. Damals hätte sich Russland auf die Grenze vor dem 24. Februar 2022 zurückgezogen. Man muss zudem wissen, dass sich die Kriegsziele während eines Krieges auch ändern können. Zum Beispiel wurde die bedingungslose Kapitulation Nazi-Deutschlands erst im Januar 1943 auf der Konferenz von Casablanca festgelegt.
Nach den «Analysen» selbsternannter Experten will Putin die alte Sowjetunion wieder herstellen oder das Zarenreich. Wird Russland, wenn es seine Kriegsziele erreicht hat, weiter Richtung Westen marschieren, wie uns die westlichen Medien im Gleichschritt mit den Regierungen weismachen wollen?
Wenn man zu einer Einigung über die vier Oblaste käme, nämlich dass sie völkerrechtlich zur Russischen Föderation gehören und dass ein Nato-Beitritt nicht mehr angestrebt wird, könnte man zu einer Einigung kommen. Dazu kommt noch die Nicht-Stationierung von Nato-Truppen in der verbleibenden Ukraine. Das ist ein entscheidender Punkt.
Wenn die drei Punkte völkerrechtlich fixiert werden könnten, dann kann ich mir vorstellen, dass Russland sich darauf einlassen würde und unterschreibt. Die Wiederherstellung alter Grenzen ist kein Ziel Russlands. Man hat sich damit abgefunden, dass die UdSSR aufgelöst wurde. Russland will gute Kontakte zu den ehemaligen Sowjetrepubliken, auch zu den zentralasiatischen, und Ruhe an seinen Grenzen. Das Land will sich weiterentwickeln, auch mit China und den übrigen BRICS-Staaten.
Der offensichtliche Hass, der im Baltikum gegen alles Russische betrieben wird, ist scharf. Inzwischen sind die Länder seit 35 Jahren unabhängig. Warum ist dieser Hass immer noch so stark?
Dazu muss man in die Zwischenkriegszeit gehen. Das Baltikum war immer extrem nationalistisch, man kann schon fast sagen zumindest halbfaschistisch. Die drei baltischen Staaten waren angelehnt an Nazideutschland, kollaborierten auch während des Krieges mit den Nazis und waren an unzähligen Morden und Übergriffen auf die Bevölkerung beteiligt, vor allem auch auf die Juden. Ich habe in meinem Buch versucht, von massgeblichen Personen diese halbfaschistische Gesinnung in ihren Lebenslinien nachzuzeichnen wie zum Beispiel bei Kallas (Estland), Ulmanis (Lettland) oder Landsbergis (Litauen).
Sie sind zum Teil aus Familien gekommen, die genau diese nationalistische und halbfaschistische Linie vertreten hatten. Der Urgrossvater von Kallas war zum Beispiel in den 30er Jahren an Massnahmen beteiligt, die umfänglich während der Nazi-Besetzung gegen jüdische Menschen wirksam wurden. Ihr Grossvater mütterlicherseits war Kollaborateur der Hitlerfaschisten und unterstützte die SS in deren mörderischem Wüten.
Er und die Grossmutter von Kallas waren nach dem Krieg einige Zeit interniert, und dadurch entstand ein persönlicher Hass auf die Russen. Man muss die Zwischenkriegszeit einbeziehen, um zu sehen, wie die Staaten damals organisiert waren und was sie für einen Charakter hatten. Darin liegen die Wurzeln für diese furchtbare Russophobie in diesen baltischen Staaten.
In diesen Ländern gibt es doch auch einen grossen russischen Bevölkerungsanteil, besonders in Litauen und Lettland. Wie leben diese Menschen mit dem Hass, den sie täglich spüren?
Die sind natürlich diskriminiert. Sie werden gezwungen, Sprachprüfungen in den entsprechenden Landessprachen abzulegen. Wenn sie das nicht können, werden sie an der Teilnahme an Wahlen gehindert. Das interessiert im Westen keinen, und es regt sich auch keiner auf, dass diese Menschen von Wahlen ausgeschlossen beziehungsweise dass ihnen andere staatsbürgerliche Rechte vorenthalten werden. Lettland zum Beispiel hat einen Bevölkerungsanteil originärer Russen von rund 27 Prozent.
Sie sind von den freien Wahlen weitgehend ausgeschlossen. Keiner unserer Demokraten macht das zum Thema, kein Steinmeier, kein Scholz, kein Merz und wie sie alle heissen. Zum Teil sind die Bevölkerungsteile ohne Staatsbürgerschaft, solange sie diese Sprachprüfung nicht bestehen. Manche weigern sich, und andere sind zu alt für solche Lernexperimente. Nach wie vor gibt es faschistische Traditionen in den drei baltischen Staaten. Noch heute werden Nazi-Kollaborateure als Helden gefeiert. Die nationalfaschistischen Tendenzen werden weiterhin gepflegt.
Kommen wir noch kurz auf die aktuelle Lage zu sprechen. Wie beurteilen Sie die Drohnenangriffe, die von der Ukraine und dem Westen als grosser Erfolg gefeiert werden. Die Medien sind voll davon. Warum konnte das geschehen?
Es ist ein Ergebnis einer typischen Schlamperei. Sicher müssen diese Flugzeuge gemäss neuem START-Vertrag von 2010 offen sichtbar aufgestellt werden. Die Schlamperei besteht darin, dass die Drohnen an die Flugplätze unbemerkt herangefahren werden konnten. Die Ukraine konnte mehrere Bombenflugzeuge zerstören und andere beschädigen. Die Russen werden sich überlegen, wie sie in Zukunft solche Angriffe verhindern können. Es werden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen, da bin ich ziemlich sicher. Am Kriegsverlauf wird sich aber gar nichts ändern.
Solche Ereignisse werden vom Westen benutzt trotz militärischer Erfolge der russischen Armee, sie bis heute als eine unfähige Truppe darzustellen.
Das erinnert an die Meldungen, als die deutsche Wehrmacht den Krieg gegen die Sowjetunion geführt hat. Da hiess es, die Soldaten der Sowjetarmee seien auf Pferden angeritten oder mit Panjewagen an die Front gekommen. Das sind die gleichen Geschichten. Am Ende hat die Sowjetarmee den Krieg gewonnen. Das ist nichts Neues. Die vietnamesische Volksarmee war mit sowjetischer Kampftechnik ausgerüstet und hat die USA geschlagen.
Hier geht es um nichts anderes als um typische Propaganda. Man macht den Gegner schlecht, wirft ihm Unfähigkeit vor. Die ukrainische Kampftechnik sieht so aus, dass sie sich mit ihren US-Kampfjets F-16 nicht hinaustrauen, dass sie sich hüten, mit den US-amerikanischen Abrams-Panzern herumzufahren, von den britischen Panzern ganz zu schweigen. Sie fahren damit nicht hinaus, weil sie genau wissen, sie werden abgeschossen.
Wenn die russische Armee den Krieg so führen würde, wie ihn die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg hat führen müssen, wäre der Krieg militärisch möglicherweise schon längst entschieden. Die russische Kriegsführung, – man wird häufig sofort angegriffen, wenn man das sagt, – ist darauf ausgerichtet, möglichst zivile Opfer zu vermeiden. Natürlich wollen sie auch die Zahl der eigenen Opfer so gering wie nur möglich halten. Sie setzten darauf, dass der Ukraine die Soldaten und das militärische Gerät ausgehen.
Die Hoffnung liegt immer noch auf einer diplomatischen Lösung. Was hat das jüngste Telefonat zwischen Putin und Trump gebracht?
Nach meiner Einschätzung hat es Positives vielleicht nur im Hinblick auf die weitere Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Grossmächten gebracht. Ansonsten, scheint mir, ist deutlich geworden, dass die Trump-Administration nicht mit einem baldigen Ende des Krieges rechnet und dass sie dies wohl so laufen lassen will, ohne sich wieder auf den Kurs der Biden-Führung zu begeben.
Die Ukraine ist für Washington sicher tatsächlich nachrangig geworden, was das Vorgehen Moskaus im Krieg erleichtert. Die russische Führung betrachtet das Gegenüber in Kiew nun endgültig als Terroristenregime, was von jenseits des Atlantiks nicht auf scharfe Gegenwehr traf. Moskau wird Washington auch etwas angeboten haben, möglicherweise eine Vermittlerrolle im Atomkonflikt mit dem Iran.
Herr Dr. Schröter, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
Lothar Schröter, geboren 1952, studierte von 1970 bis 1974 Geschichte und Russische Sprache an der Pädagogischen Hochschule in Leipzig. Anschließend absolvierte er ein postgraduales Studium der Militärgeschichte und arbeitete bis 1990 erst als wissenschaftlicher Assistent am Militärgeschichtlichen Institut in Potsdam, dann als promovierter und habilitierter Oberassistent und Dozent. Bis zum Eintritt ins Rentenalter war er in der beruflichen Aus- und Weiterbildung tätig. Zahlreiche Publikationen, darunter «Militärgeschichte der BRD» (1989), «Die NATO im Kalten Krieg« (2009), »USA – Supermacht oder Koloss auf tönernen Füßen?» (2009) und «Künftige Supermacht in Asien? Militärpolitik und Streitkräfte der Volksrepublik China» (2011).