Wird die Schweiz zur «gelenkten» Demokratie?

von Thomas Kaiser

Nach einem halben Jahr lässt sich Fürst Ignazio I. von Parlaments Gnaden herab, dem Volk und seinen Vertretern, unseren Parlamentariern, denen er rechenschaftspflichtig ist, das Vertragswerk mit der EU vorzulegen. Bisher war es nur einem kleinen Teil der Volksvertreter in einem überwachten «Setting» von höherer Stelle zugestanden, die Verträge unter scharfen Auflagen einzusehen – von gebotener Transparenz und selbstverständlicher demokratischer Kontrolle keine Spur. Eine Machtdemonstration eines wenig gelittenen Bundesrats?1

Noch bevor eine breite Diskussion über den Inhalt der Verträge geführt werden kann, hat Bundesrat Cassis bereits entschieden, sie nur dem fakultativen Referendum zu unterstellen. Dies bedeutet, man muss mit grossem Aufwand innert 100 Tagen 50 000 Unterschriften sammeln. Sekundiert wird er vom SP-Bundesrat, Beat Jans, der vor mehr als einem Jahr ein Gefälligkeitsgutachten in Auftrag gegeben hat, das – wen wundert’s? – zu dem Ergebnis gekommen ist, dass ein obligatorisches Referendum keine verfassungsmässige Grundlage habe.

Es gibt allerdings Staatsrechtler, die zu anderen Schlüssen kommen. Es ist doch eindeutig, dass in unserer direkten Demokratie sowohl das Volk als auch die Stände abstimmen müssen, insbesondere über für unser Staatswesen einschneidende Verträge. Das Parlament kann Cassis‘ Entscheid umstossen.

Ignazio Cassis gab vor vier Wochen bekannt, dass der Bundesrat nichts anbrennen lassen möchte und daher nur das Volk abstimmen dürfe. Die Kantone lässt man aussen vor. Was haben wir für Demokraten im Bundeshaus? Wird die Schweiz zur gelenkten Demokratie, bei der Abstimmungen nur noch die Vorgaben des Bundesrats bestätigen dürfen? Werden wir zur Abnick-Demokratie? Selbst denken verboten?

Rechtssicherheit durch Sanktionsmassnahmen

In der Pressekonferenz am letzten Freitag beschwor Bundesrat Cassis mit der ihm eigenen Überheblichkeit und ernster Miene die tiefe und wichtige Bedeutung des Vertragswerks für die Schweiz. Er sprach von einem «stabilen Verhältnis zur EU» in einer «Welt der Instabilität». Man müsse sich auf «verbindliche Regeln» stützen können, das gebe «Rechtssicherheit». Schöne Worte, gut gelernt. Aber wie ist die Realität?

Die Rechtssicherheit besteht anscheinend darin, dass 35 Gesetze in der Schweiz angepasst, geändert oder neu erlassen werden müssen, «alle mit Blick auf Begleit- und Unterstützungsmassnahmen». Was soll das heissen? Verbirgt sich am Schluss dahinter eine verklausulierte Übernahme von EU-Recht, was beim Vorgehen des Bundesrats niemanden wundern würde? Besteht Rechtssicherheit darin, dass man sich im Streitfall dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) unterwerfen muss? Anerkennt die Schweiz das Urteil des EuGH nicht, folgen Strafmassnahmen.

Besteht Rechtssicherheit darin, dass die EU nicht definiert, welche Strafmassnahmen die Schweiz dann zu gewärtigen hat? Sie ist der Willkür des EuGH ausgesetzt. Bis die Verträge die demokratische Kontrolle durchlaufen haben, wird einige Zeit vergehen. In dieser Phase würden die Schweiz und die EU, wie Radio SRF schreibt, bereits vor der Zustimmung oder Ablehnung von Parlament und Volk schon jetzt erlaubt, einen «Modus vivendi» zu finden wie zum Beispiel die Teilnahme am «Horizon»-Forschungsprojekt.2

Es scheint, dass man jetzt Tatsachen schaffen will, die als Argumente für die Annahme der Verträge herhalten müssen: Jetzt konnten wir doch schon profitieren, da dürfen wir die Verträge nicht mehr ablehnen.

EU setzt Druck auf

Es ist eine konzertierte Aktion. Am Freitagnachmittag wurden die Verträge für alle veröffentlicht, am Abend wurde im Schweizer Fernsehen die «Arena» ausgestrahlt, die sich mit dem Thema befasste. In der Samstagsrundschau des Radios SRF war Andreas Schwab, der Vorsitzende der Delegation des EU-Parlaments für Beziehungen zur Schweiz, eingeladen. Er hielt sich kaum zufällig an diesem Tag in der Schweiz auf und hatte nichts Besseres zu tun, als sich den Fragen der Rundschau zu stellen.

Dabei bot SRF ihm eine Plattform, die Parteien der Schweiz und die Bevölkerung mit seinen Drohungen unter Druck zu setzen, die EU-Verträge anzunehmen. Er erwarte, «dass die Bundesratsparteien auch zeigen, dass der Bundesrat am Ende nicht alleine auf weiter Flur steht.»3 Hier offenbart sich das Demokratieverständnis der EU, dem sich Bundesrat Cassis immer mehr anzunähern scheint. Aber es gibt keine Verpflichtung, sich irgendeiner Meinung anzuschliessen. Eine Demokratie lebt von der Vielfalt der Positionen, von verschiedenen Auffassungen und vom Dialog. Es bleibt jedem unbenommen, seine Meinung zu behalten, zu vertreten oder zu ändern. Das gilt für jede Bürgerin und jeden Bürger und somit auch für unsere Volksvertreter. Am Schluss werden sie entscheiden müssen. Seit wann muss man blindlings dem Bundesrat folgen?

Keine Verurteilung des Angriffskriegs

Auch in der «Arena» vom Freitagabend thematisierte man unter anderem die angebliche Rechtssicherheit durch die EU-Verträge. Man spricht jetzt in der Schweiz auch von «regelbasierter Ordnung», ein Begriff, den die USA in die Welt gesetzt haben und der letztlich alles rechtfertigt, denn jeder kann seine Regeln selbst setzen – siehe EU.

Regelbasiert ist also, was den Mächtigen nützt. Die Moderatorin befragte am Anfang der Sendung die Kandidaten zur Eskalation im Nahen Osten. Man zeigte je nach Partei offen oder verdeckt Verständnis für Israel und benannte die Gefahr, die für Europa davon ausgehe. Den Angriffskrieg verurteilte man nicht. Die Parteipräsidentin der Grünen, Lisa Mazzone, erwähnte, dass der Angriff auf Iran vom Völkermord in Gaza ablenke.

Hat Israel Atomwaffen?

Gehen wir drei Jahre zurück. Nach jahrelangen Provokationen des Westens gegenüber Russland lässt sich Wladimir Putin zu seiner «militärischen Sonderoperation» in der Ukraine hinreissen. Fünf Tage später ergreift die Schweiz Sanktionen gegenüber Russland, verurteilt das Vorgehen als Bruch des Völkerrechts und stellt sich unter Missachtung der Neutralität bedingungslos auf die Seite der Ukraine.

Drei Jahre später greift Israel den Iran offen an, nachdem es ihm immer wieder Nadelstiche versetzt. Seit Jahren schwört Netanjahu den Westen auf die atomare Gefahr ein, die vom Iran ausgehen soll. Dass Israel unter Verstoss gegen den Atomwaffensperrvertrag die Bombe gebaut hat und über nukleare Sprengköpfe verfügt, wird unter dem Deckel gehalten.4
Darf Israel das? Der Titel des Buches von Evelyne Hecht-Galinski, der Tochter des ehemaligen und langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, gibt die Antwort: «Das elfte Gebot: Israel darf alles – Klartexte über Antisemitismus und Israel-Kritik».5

Tatsächlich hatte der Iran mit den USA ein Atomabkommen geschlossen, das Donald Trump, vermutlich auf Geheiss Israels, aufgekündigte. Warum sollte sich der Iran weiter daran halten? Der ehemalige Schweizer Botschafter im Iran, Philippe Welti, erklärte in einem Interview: «Nach dem Austritt der USA aus dem Vertragswerk war der Zweck des Abkommens ja unmöglich geworden. Als Gegenwert für die weitreichenden Konzessionen im Nuklearbereich hätte der Iran die Aufhebung der Sanktionen und die Reintegration in die Weltwirtschaft erhalten sollen. Seit dem Ausstieg der USA aus dem Vertrag betrachten sich die Iraner als nicht mehr vertraglich gebunden.»6

Iran und die «Achse des Bösen»

Nach dem US-Präsidenten George W. Bush gehört der Iran zur «Achse des Bösen». Alle Länder, die Bush damals willkürlich zu dieser Achse zählte, wurden direkt oder indirekt in den letzten drei Jahrzehnten von den USA mit Krieg überzogen und in ein Chaos gestürzt, wie Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Jemen. Nord-Korea und der Iran blieben übrig, die bis vor kurzem von einem grossen Krieg verschont wurden.

Bushs Plan soll nun im Iran durch Israel weitergeführt werden. Betrachtet man die Logik der Waffen, hat Nordkorea wahrscheinlich durch die Entwicklung eigener Atomwaffen einen Angriff des Westens verhindert. Konsultiert man die Web-Seite des Eidgenössischen Departements für Auswärtige Angelegenheiten findet man bis heute keine Stellungnahme zur aktuellen Situation. Keine Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs auf den Iran.

Hunderttausende «regelbasiert» in den Tod gejagt?

Die Situation erinnert an den Krieg gegen den Irak im Jahr 2003. Weil er angeblich Massenvernichtungswaffen, unter anderem Atomwaffen, besitze oder kurz vor der Fähigkeit stehe, solche einzusetzen, führten die USA und Grossbritannien einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen das Land. Auch hatten sie schon vorher regelmässig Luftangriffe gegen den Irak geflogen. Toni Blair, damals britischer Premier, zeichnete ein Horrorszenario, dass Saddam Hussein innert 45 Minuten seine Massenvernichtungswaffen abschussbereit habe.

Auch warf man Hussein vor, Uno-Resolutionen nicht einzuhalten. Das musste als Begründung herhalten, das Land in Schutt und Asche zu legen. Nachdem der Irak erobert worden war, stellte sich heraus, dass nichts davon, aber auch gar nichts, der Realität entsprach – nur Spekulationen, Gerüchte, Fakes, reine Propaganda. Aufgrund dieser Lüge verloren etwa eine Million Menschen ihr Leben, das Land wurde völlig zerstört und mit uranhaltiger Munition (DU) verseucht. Auch warf man Hussein vor, den Terror zu unterstützen. Nach dem Einmarsch der USA ging der Terror los. Wie können Menschen mit der Schuld leben, Hundertausende in den Tod gejagt zu haben?

A propos Uno-Resolutionen: Israel hat über 100 ignoriert. Kein einziger der Verantwortlichen wurde jemals zur Rechenschaft gezogen.

Angriffskrieg als Selbstverteidigungsrecht

Auch von der EU, die «regelbasierte Ordnung» par excellence, lässt sich ausser grosser Besorgnis und dem übrigen Bla-bla bis dato nichts Substantielles vernehmen. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen «war auch nicht willens oder in der Lage, den Aggressor zu benennen, wie das im Ukraine-Krieg täglich geschieht».7

Bundeskanzler Merz bemüht wieder einmal das Selbstverteidigungsrecht Israels, obwohl Israel der Aggressor ist, und stellt damit die Realität auf den Kopf. Frieden wird zum Unwort. Angriffskriege des Westens werden zur Selbstverteidigung erklärt, wenn es denn ins Konzept passt. Waffen schaffen Frieden, den Merz auch auf jedem Friedhof findet.8

Die Kommissionspräsidentin von der Leyen, Kriegstreiberin der ersten Stunde, verwickelt in dubiose Geschäfte im Zusammenhang mit Corona-Impfstoff, repräsentiert den Vertragspartner der Schweiz. Soll man dieser EU trauen, die nach Gutdünken Regeln ändert, verletzt oder gar nie einhält? Soll das ein Vertragspartner sein, an den die Schweiz einen erheblichen Teil ihrer Souveränität abtritt und damit mehr Stabilität in den Beziehungen zur EU erreichen will?9

Es reicht doch, mit der EU Handel zu treiben und die bestehenden Verträge beizubehalten. Mehr Anlehnung an die EU bedeutet immer weniger Souveränität, und die Schweiz kann damit rechnen, dass es neue Forderungen gibt.

Wer die Augen vor der Realität verschliesst, wird in der Zukunft ein böses Erwachen erleben. Wenn die Politik versagt, können in der Schweiz Volk und Stände eingreifen und die politische Richtung bestimmen. Das ist der Schweizer Weg, der einer EU fremd ist, da sie ein autoritäres, scheindemokratisches Gebilde ist: ohne Werte, ohne verlässliche Regeln und einer auf Willkür beruhenden «regelbasierten Ordnung». ■

  1. https://www.blick.ch/politik/nur-ausgesuchter-kreis-darf-vertraege-sehen-und-muss-schweigen-jetzt-bekommt-die-svp-einblick-in-die-geheimakte-eu-deal-id20806068.html ↩︎
  2. https://www.srf.ch/news/schweiz/schweiz-eu-das-sagt-cassis-zu-den-veroeffentlichten-eu-vertraegen ↩︎
  3. https://www.srf.ch/news/schweiz/eu-vertraege-veroeffentlicht-eu-parlamentarier-verlangt-bekenntnis-von-schweizer-parteien ↩︎
  4. https://wissenschaft-und-frieden.de/artikel/atomwaffenmacht-israel/ ↩︎
  5. https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/UB4LM3OQZLG3LUS6E22XA3PP7UYBJ4FW ↩︎
  6. https://www.tagesanzeiger.ch/iran-die-atomgefahr-bleibe-sagt-schweizer-ex-botschafter-776489999119 ↩︎
  7. https://blogs.taz.de/lostineurope/von-der-leyen-steht-zu-israel/ ↩︎
  8. https://www.zeit.de/news/2024-03/08/merz-frieden-gibt-es-auf-jedem-friedhof ↩︎
  9. https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2025-05/cp250060de.pdf ↩︎