«EU-Politik zerreisst die Ukraine»

«Die Ukraine aus russischem Einflussgebiet herauszulösen, ist schon lange geplant»

Interview mit dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, 

Zeitgeschehen im Fokus Sie gehörten knapp 16 Jahre als Abgeordneter dem deutschen Bundestag an und genauso lange waren Sie Mitglied der parlamentarischen Versammlung des Europarats. Einer Ihrer Schwerpunkte war die Aussenpolitik. In dem Zusammenhang waren Sie viel im Ausland, haben viele Menschen getroffen aus allen Bevölkerungsschichten, auch aus der Politik, und waren sehr häufig im Auftrag des Europarats an Wahlbeobachtungen eingesetzt. Was sind, wenn Sie an die Zeit zurückdenken, ihre stärksten Eindrücke?

Andrej Hunko Ich habe natürlich viel erlebt. Ich bin, wie Sie schon angedeutet haben, viel in der Welt herumgekommen. Ein Schlüsselerlebnis waren die vielen Reisen in die Ukraine, die ich vor allem in den Jahren 2014 und 2015 durchführte. Das betraf die Zeit während des Maidans, während des Putsches in Kiew und die folgende militärische Auseinandersetzung innerhalb der Ukraine. Das waren bleibende Erlebnisse, die mich beeindruckt haben und die ich kaum vergessen werde. Sie bekamen im Zusammenhang mit dem Krieg eine weitere Dimension. 

Waren Sie vor den Ereignissen auf dem Maidan und dem Sturz des Präsidenten bereits einmal dort?

Ja, ich war erstmals bei den Parlamentswahlen 2012 als Wahlbeobachter in der Ukraine. Hier ist mir ein Vorgang besonders in der Erinnerung geblieben. Als Wahlbeobachter trifft man die Botschafter der Länder und ist mit ihnen in Kontakt. Als klar wurde, dass die Partei der Regionen von Janukowitsch die Wahl gewonnen hatte, machte sich unter den westlichen Botschaftern eine tiefe Enttäuschung breit.

Das blaue Lager, das im Westen als prorussisch galt, hatte die Wahlen klar gewonnen. Wenn man die Wahlen über einen längeren Zeitraum in der Ukraine beobachtet, dann sieht man, dass einmal ein EU-Freundlicher aus dem sogenannten orangenen Lager gewählt wurde und einmal ein Russlandfreundlicher. Janukowitsch kam sogar aus dem Donbas. Es wechselten sich russlandfreundliche und antirussische Kandidaten ab.

Gab es bei den Wahlen, die Sie beobachteten, irgendwelchen Einspruch von westlicher Seite, wie wir das in den letzten Jahren bei anderen Ländern erlebt haben, vor allem, wenn nicht der prowestliche Kandidat gewählt wurde?

Nein, die Wahlen wurden anerkannt, aber als politisch enttäuschend wahrgenommen. Es gab Detailkritik, aber keine Kritik im Sinne einer Delegitimierung. Das war nicht so, wie man auf die jüngsten Wahlen in Georgien reagierte. Doch ich sehe noch die hängenden Köpfe vor mir, weil Janukowitschs Partei der Regionen die Wahl gewonnen hat.

Wie musss man diese Enttäuschung werten?

Die westlichen Vertreter wollten nicht akzeptieren, dass die Ukraine als eine Brücke zwischen Ost und West fungiert. Es gab ganz klar eine Agenda, und man glaubte fest daran, dass die prowestlichen Kräfte gewinnen müssten. Ich war bei den Wahlen 2012 zum ersten Mal als Wahlbeobachter in der Ukraine, was für mich Neuland war, und diese Reaktion der westlichen Vertreter blieb mir lebhaft in Erinnerung.

Dazu muss man konstatieren, dass das die letzte gesamtukrainische Wahl war. Alle Wahlen nach dem Maidan und dem Sturz Janukowitschs waren ohne die Bevölkerung auf der Krim und zu einem massgeblichen Teil ohne die Bevölkerung des Donbas. Dazu herrschte noch Bürgerkrieg in der Ukraine. Daher ist es sinnvoll, unter diesem Gesichtspunkt die Wahl nochmals anzuschauen.

Die kommunistische Partei hat damals über 13 Prozent bekommen, was nicht unerheblich ist. Nach dem Maidan wurde die Partei verboten und völlig zerschlagen. Die Wahlergebnisse der Partei Janukowitschs waren hoch.Der Name «Partei der Regionen» sollte auch den Respekt vor den unterschiedlichen Sprachen der Regionen und eine Befürwortung des Föderalismus zum Ausdruck bringen.

Enthielt das Minsker Abkommen nicht einen Punkt, der eine Verfassungsänderung in Richtung Föderalismus verlangte?

Ja, das war immer eine Forderung des russischsprachigen Teils, wobei es auch noch andere Minderheiten in der Ukraine gibt, zum Beispiel die ungarische, aber auch eine polnische. In der Partei von Janukowitsch gab es Regelungen, wenn eine Minderheit in einer Region mehrheitlich eine andere Sprache spricht, sollte sie in der Region auch offizielle Amtssprache sein. Das betrifft das Russische, aber auch Sprachen anderer Minderheiten.

Vom orangenen Teil des Parteienspektrums, der nach Westen ausgerichtet ist, hatte man das anders gesehen. Wenn man sich die Stimmverteilung der letzten Präsidentschaftswahlen vor dem Maidan auf einer Karte vor Augen führt und auch die Parlamentswahlen 2012, dann erkennt man sehr deutlich die Zweiteilung der Ukraine. Es gibt die Partei der Regionen und die kommunistische Partei, die im Süden und Osten besonders stark waren.

Sie hatten eine klare Mehrheit. Im westlichen Teil waren es andere Parteien. Das ist sehr eindrücklich. Man sieht diese krasse Zweiteilung. Die ist sicher ausgeprägter als zwischen Ost- und Westdeutschland. Wenn man das politisch so zuspitzt, wird ein Land zerrissen.

Vor dem Umsturz im Februar 2014 hatte ich einer deutschen Zeitung ein Interview gegeben, das unter dem Titel: «Diese EU-Politik zerreisst die Ukraine» erschien. Das war noch vor dem Maidan-Umsturz. Wenn ein Land in der inneren Orientierung so stark zwischen Ost und West gespalten ist, und man stellt es vor die Alternative, sehen wir, was dann geschieht.

Haben Sie aufgrund Ihrer Kontakte, Gespräche und Wahlbeobachtungen den Eindruck gewonnen, dass der heutige Konflikt von langer Hand geplant war?

Ja, ich denke, die heutige Situation ist von langer Hand geplant worden. Natürlich kann man das nicht wie bei einem Drehbuch im Detail planen, aber die Bereitschaft zu einer Konfrontation mit Russland und das In-Stellungbringen eines Teils der Ukraine gegen Russland sowie der Versuch, die Ukraine aus dem russischen Einflussgebiet herauszulösen, sind schon lange geplant.

Das ist auch schon formuliert worden, zum Beispiel von Brzeziński , dem Sicherheitsberater verschiedener US-amerikanischer Präsidenten, in seinem Buch «The Grand Chessboard». Für die EU und die USA war es immer eine Schlüsselregion, die darüber entscheidet, ob die Russische Föderation in der Liga der Grossen mitspielen kann oder nicht. Es war nach der Vorstellung Brzezińskis wichtig, die Ukraine von Russland loszulösen, um Russland als Konkurrent der USA entscheidend zu schwächen. Insofern kann man sagen: Es war geplant. 

Es gab auch über viele Jahre die Ausbildung der entsprechenden nationalistischen Kräfte in der Ukraine, die in der Tradition von Bandera, einem Nazi-Kollaborateur, standen und immer noch stehen. Es gab Jugendlager, die aus dem Ausland finanziert wurden, und so weiter. Es gibt die berühmte Aussage von Victoria Nuland während des Maidan, die man auf der Webseite des Weissen Hauses nachlesen kann, die USA hätten fünf Milliarden Dollar in die Ukraine investiert, man wolle nun auch politische Ergebnisse sehen.

Man inszeniert eine Konfrontation und muss dann abwägen, ob ein Regime-Change möglich ist. Das war dann mit dem Maidan gegeben. Im Vorfeld des Maidan gab es in Deutschland eine Veranstaltung, zu der auch der russische Botschafter geladen war und der sich auch ge­äussert hatte. Er sagte damals mit sehr deutlichen Worten, man solle aufhören, Russland in die Enge zu treiben, sonst würde es deutlich darauf reagieren.

Den genauen Wortlaut habe ich nicht mehr im Kopf, aber so ist mir die Stellungnahme in Erinnerung geblieben. Das waren scharfe und –  wie man heute sieht – prophetische Worte. Dieser Aufritt hat meine Alarmglocken schrillen lassen. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich mich mit der ganzen Entwicklung der orangenen Revolution und der nachfolgenden Zeit noch nicht ausführlich beschäftigt, das war im gewissen Sinne Neuland für mich. Doch nach der Rede war offensichtlich, dass da etwas Schwerwiegendes zu sein scheint.

Was waren die Gründe für den Maidan und dessen Eskalation bis hin zu den Todesschüssen?

Im November 2013 war der Gipfel in Vilnius, auf dem das Assoziierungsabkommen mit der EU unterschrieben werden sollte. Dort haben Janukowitsch und Asarow, der Premierminister, das Abkommen nicht unterschrieben und begründeten es damit, dass man noch mehr Zeit brauche und mit dem Unterschreiben zuwarten wolle. Die EU akzeptierte das nicht, und dann begannen die Demonstrationen auf dem Maidan.

Stand dahinter nicht die Forderung der EU an die Ukraine, den Handel mit Russland einzustellen?

Das ist eine sehr interessante Frage. Asarow war Premier unter Janukowitsch und beliebter in der Bevölkerung. Er galt als seriös und führte auch nicht so ein pompöses Leben wie Janukowitsch. Im Jahre 2016 habe ich ihn getroffen, und er hat mir in einem Vier-Augen-Gespräch erzählt, wie die Verhandlungen mit den EU-Kommissaren gelaufen sind.

Nach seiner Darstellung war es so, dass die ukrainische Seite, vertreten durch Janukowitsch und Asarow, darauf gedrängt hatten, trilaterale Gespräche, also mit der EU, Russland und der Ukraine zu führen. Der grösste Teil der ukrainischen Wirtschaft lag im Osten, im Donbas: die Schwerindustrie, die Rüstungsbetriebe und High-Tech-Firmen. Die gab es sowohl in Kiew als auch im Donbas. Hier wurde viel für den russischen Markt produziert. Wenn man ein Assoziierungsabkommen verhandelt, muss man die wirtschaftliche Verflechtung des Landes berücksichtigen. Im Fall der Ukraine würde der russische Markt wegbrechen.

Hat die Seite der EU diese Verflechtungen berücksichtigt?

Nein, von der EU-Seite her wurde nichts berücksichtigt. Handelskommissar de Gucht, Erweiterungskommissar Füle und Kommissionspräsident Barroso ­haben zuerst die trilateralen Gespräche abgelehnt. Wenn sie dem Assoziierungsabkommen zustimmten, argumentierte die Ukraine, und den russischen Markt verlören, dann bräuchte sie Kompensation in der Höhe von 20 Milliarden Euro. Auch das hat die EU abgelehnt.

Das letzte Angebot der Ukraine sah so aus, dass sie zusage, wenn sie eine kurzfristige EU-Mitgliedschaftsperspektive bekomme. Auch das wurde abgelehnt. Das Ganze war eine Täuschung der Bevölkerung, denn das EU-Assoziierungsabkommen sah nie eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine vor.  

Stand hinter dem Assoziierungsabkommen keine spätere EU-Mitgliedschaft?

Nein, das war nicht vorgesehen. Es ging der EU darum, eine «Zwiebelschale» von Staaten zu schaffen, ohne volle Mitgliedschaft, aber mit engen wirtschaftlichen und militärischen Verbindungen zur EU. Das war die Politik der östlichen Partnerschaft. Die war vorgesehen für Staaten wie die Ukraine, Moldawien, Belarus, Aserbaidschan, Armenien und Georgien. Im Gegensatz zum Westbalkan hat man bei diesen Ländern keine Beitrittsperspektive vorgesehen. 

Das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ist ein riesiges Vertragswerk, ein umfangreiches ökonomisches, wirtschaftspolitisch neoliberal ausgerichtetes Abkommen, auch mit einer militärischen Dimension. 

Es gibt Kapitel in dem Abkommen, da geht es um die militärische Kooperation. Dieses Abkommen wurde von der Regierung Janukowitsch und Asarow nicht unterschrieben. Danach gingen die im Hintergrund schon vorbereiteten Maidan-Proteste los. 

Es bestand in der Bevölkerung eine Unzufriedenheit mit der Regierung wegen Korruption oder sozialer Ungerechtigkeit, was nicht ganz von der Hand zu weisen war. Von Anfang an aber es gab einen rechtsextremen Block, der zwar nicht die Mehrheit repräsentierte, aber die ideologische und operative Hegemonie auf dem Maidan hatte.

Wenn wir vom rechten Sektor sprechen, dann sind das Rechtsradikale, die sich in der Tradition Banderas und der Nazikollaborateure verstehen. Sie waren in der Lage, den Putsch vom 21. auf den 22. Februar zu organisieren. Sie sind nie als eigene Partei angetreten. 

Früher gab es die Swoboda als rechte Partei, an der hat sich die ganze Empörung bis in den Mainstream hinein entzündet. Als drei Mitglieder von Swoboda nach dem Putsch 2014 an der Regierung beteiligt waren, gab es kritische Kommentare im Westen.

Man kritisierte das militärische Vorgehen gegen den Donbas, die Bombardierung von Lugansk und weitere Ereignisse. Das Ziel des rechtsextremen Blocks war aber nicht die Schaffung einer eigenen Partei. Die Strategie bestand darin, einflussreiche Positionen zu gewinnen, Einfluss zu nehmen auf die grossen Parteien. Das hat funktioniert. 

Das Verrückte ist, dass im OSZE-Bericht und im Briefing, damit man als Wahlbeobachter einen Überblick über die politische Lage bekommt, ein Satz auftauchte, den ich nie vergessen werde, nämlich, dass die Partei Swoboda nicht mehr die Hauptstrategie der Rechtsextremen bestimme, sondern dass das durch die Platzierung der eigenen Leute auf den Listen von Jazenjuk und Poroschenko übernommen werde.

Swoboda wurde dann parlamentarisch weitestgehend bedeutungslos, sie bekam noch ungefähr 3 Prozent. Das nahm man im Westen zum Anlass, alles herunterzuspielen, was mit dem Einfluss der Rechtsextremen zusammenhing, da sie prozentual keinen Einfluss mehr hatten. Dieser Schachzug funktionierte, denn seither ist die Debatte im Mainstream praktisch gestorben.

Die von Ihnen erwähnten Wahlen im Oktober 2014 waren die ersten Parlamentswahlen nach dem Putsch …

Genau. Nach dem Putsch gab es eine Übergangsregierung unter dem Präsidenten Turtschynow, mit dem es im Rahmen einer Delegationsreise des Bundestages ein gemeinsames Treffen gab. Der Westen wollte nach dem Putsch – die provisorische Regierung in der Ukraine stand massiv unter Druck – legitime Verhältnisse.

Es gab auch in den Hauptmedien heftige Debatten über die Legitimität dieser Regierung, die aus dem Maidan-Putsch hervorgegangen war. Das war damals ganz anders als heute. Der Mainstream-Westen befürwortet alles, was Selenskyj macht, ob er sich an die Verfassung hält oder ob er Wahlen durchführt, ist einerlei. 

Es gab 2014 deutliche Kritik am militärischen Vorgehen gegen den Osten der Ukraine oder auch am Verbot der russischen Sprache. Der Druck aus dem Westen auf das Gesetz war so gross, dass man es zunächst nicht umsetzten konnte. Aus westlicher Sicht musste daher möglichst schnell eine Legitimität hergestellt werden. Im Mai 2014 gab es Präsidentschaftswahlen, bei denen Poroschenko gewählt wurde, und im Oktober 2014 Parlamentswahlen.

Kann man denn tatsächlich von Legitimität sprechen?

Nun ja, aus westlicher Sicht vielleicht. Man hat ja einen Präsidenten und ein Parlament gewählt. Bei diesen Wahlen ist die Swoboda-Partei abgestürzt. Aber man muss bei den Wahlen bedenken, dass nicht mehr die gesamte Ukraine daran beteiligt war. Die Krim hatte sich abgespalten, und im Donbas war Bürgerkrieg.

Das sind ungefähr sieben Millionen Menschen, die mit grosser Mehrheit pro-russische Parteien gewählt hätten, die Partei der Regionen oder die kommunistische Partei. Diese Parteien konnten bei den Wahlen 2014 nicht mehr antreten. Alle Wahlen danach waren ohne die Stimmen dieser Menschen, wenn sie im Donbas lebten oder zum Teil nach Russland geflohen waren. Das muss man unbedingt berücksichtigen, denn früher war das Verhältnis bei den Wahlen meist fünfzig zu fünfzig. Seit 2014 gab es natürlich immer eine pro-westliche Mehrheit.

Auf den Maidan-Putsch sowie auf das Sprachengesetz gab es in anderen Regionen der Ukraine ebenfalls Reaktionen. Sind Sie auch in diese Gebiete gereist?

Auf der Krim war ich nicht. Es hätte mich natürlich interessiert, zu sehen, wie das Referendum dort abläuft. Ich wurde auch dorthin eingeladen, aber als Parlamentarier ist das natürlich schwierig, selbst wenn man sagt, es gehe nicht um eine Legitimierung, sondern man wolle sich ein Bild vor Ort machen. Man kann sicher sein, dass man sich den Vorwurf einhandelt, das Ganze legitimieren zu wollen.

Der Westen hat das als ein illegales Referendum angesehen. Im April 2014 war ich in Donezk, wo die Verwaltungsgebäude von den sogenannten Separatisten als Reaktion auf den Maidan-Putsch besetzt wurden. Während des Maidan gab es in Kiew die Besetzung wichtiger Verwaltungs- und Regierungsgebäude. In Donezk war das die Gegenreaktion darauf. Es war interessant, und ich schaute mir das an. Ich habe dort Bergarbeiter getroffen, die davorstanden, und ich fragte sie, warum sie demonstrierten. Sie erklärten mir, dass es gegen die bandaristische Regierung in Kiew gehe.

Sie waren auch in Odessa? Dort gab es doch auch Unruhen nach dem Maidan-Putsch.

Im Laufe des Jahres 2014 besuchte ich öfters Odessa, insgesamt vier Mal. Das erste Mal kurz nach dem Massaker in dem Gewerkschaftshaus. Dort verbrannten bei Protesten und Zusammenstössen zwischen Befürwortern und Gegnern der Maidan-Proteste offiziell 48 Menschen, weil die Gegner des Maidan in ein Gewerkschaftshaus getrieben wurden und das Haus angezündet wurde. Odessa ist eine ganz friedliche Stadt.

So etwas hat es dort noch nie gegeben. Das war ein schwerer Schock für die Bewohner. Die Angehörigen dieser 48 Opfer habe ich mehrmals besucht. Während der Präsidentschaftswahl Anfang Mai 2014, als Poroschenko gewählt wurde, reiste ich auch nach Odessa. Dort kam ich auch zu dem Gewerkschaftshaus. Dann war ich im August desselben Jahres dort. Nachdem mich Angehörige der Brandopfer angeschrieben hatten, besuchte ich sie dort.

Im Oktober 2014 hielt ich mich als Wahlbeobachter des Europarats erneut in Odessa auf und dann nochmals Ende November im Zusammenhang mit einer grossen Reise durch die Ukraine. 

Odessa ist etwas anderes als der Donbas. Ich würde es nicht in pro Kiew oder pro Moskau einordnen. Es ist eine Stadt mit einer starken eigenen Identität. Es ist eine grosse Hafenstadt wie bei uns in Deutschland zum Beispiel Hamburg oder Bremen, die ebenfalls eine starke Identität haben.

Sind Sie in der Zeit danach erneut in die Ukraine gereist?

In meiner letzten Reise im November 2014 war ich zusammen mit meinem Kollegen Wolfgang Gehrcke in den Flüchtlingslagern auf russischer Seite. Ich konnte dort mit den Flüchtlingen sprechen, die aus dem Donbas geflohen waren. Ich wollte erfahren, wie sie das alles wahrgenommen hatten. Es lebten überwiegend Frauen und Kinder in diesen Lagern. Auf die Frage, was sie sich wünschten, gaben sie zur Antwort, es gebe im Donbas, in Gorlowka, ein Kinderkrankenhaus.

Wenn wir etwas tun könnten, dann sollten wir doch helfen, das Krankenhaus wieder aufzubauen. Als der Krieg gegen den Donbas im Sommer 2014 richtig eskalierte, wurde es von ukrainischer Seite beschossen. Im Winter 2014/2015 machten wir dazu eine kleine Spendenkampagne und waren völlig überwältig, welcher Geldbetrag zusammenkam. Das waren nicht fünf- oder zehntausend Euro, womit wir ungefähr gerechnet hatten, sondern es kamen 180 000 Euro zusammen. Wir wollten natürlich, dass alles Geld dem Krankenhaus zugutekommt.

Wir liessen uns vom Krankenhaus eine Medikamenten- und auch die Geräteliste schicken und wollten ihm alles liefern. Zu dem Zeitpunkt war Krieg, und das Krankenhaus stand sehr nahe an der Frontlinie auf der östlichen Seite. Wir hatten mit der ukrainischen Botschaft in Deutschland Kontakt aufgenommen, bekamen aber erst einmal keine Antwort. Wir reisten dann nach Rostow am Don auf die russische Seite und beluden dort vier kleine LKWs.

Mit einem ersten Teil des Spendengelds kauften wir im russischen Grosshandel medizinische Güter. Das machten wir zweimal. Ein grösserer Teil wurde dann im Herbst 2015 in den Donbas geliefert. Wir besuchten auch das Krankenhaus. Als wir das erste Mal dort waren, im Februar 2015, liefen die Minsk II-Verhandlungen. Freitagabends bekamen wir die Information, dass man sich geeinigt habe und ein Waffenstillstand, der in 48 Stunden in Kraft treten sollte, ausgehandelt worden sei.

Mussten Sie 48 Stunden warten?

Wir konnten das nicht. Es waren verschiedene Gründe dafür ausschlaggebend, unter anderem begann im Bundestag der Parlamentsbetrieb. Dazu kam, dass unsere Begleiter keine Möglichkeit hatten, mit in den Donbas einzureisen. Es war an der Grenze zwischen Russland und den sogenannten Separatisten. Wir Abgeordnete hatten Diplomatenpässe, aber die anderen vier Personen, die uns begleitet hatten, hätten keine Möglichkeit gehabt, wieder nach Russland einzureisen. Sie hatten nur ein einmaliges Reisevisum nach Russland.

Wir zwei Abgeordnete sind dann ohne unser Team eingereist. Wir liessen uns an der Grenze von der Polizei abholen, die uns mit den LKWs begleitet hatte. Als wir in Donezk eintrafen, bekamen wir einen Anruf, dass Sachartschenko, der Machthaber in der «Volksrepublik Donezk», aus Minsk zurückgekommen sei, und ob wir Interesse an einem Gespräch hätten. Wir waren die ersten Gesprächspartner der «anderen» Seite nach einer welthistorischen Vereinbarung.

Das war natürlich interessant, und wir liessen uns diese Möglichkeit nicht entgehen. Wir machten am Anfang klar, dass wir ihn weder als Terroristen, wie es in Kiew der Fall war, noch als Präsidenten des Donezk sähen. Er hatte das wohl erhofft und war sichtlich enttäuscht. Er berichtete dann aber sehr ehrlich darüber, dass man sich in allen Punkten einigen konnte, bis auf einen Punkt, und zwar Debalzewo, aber das werde noch ausgekämpft.

Mit ihm besuchten wir dann noch den Flughafen in Donezk und das zerstörte Flughafenviertel, wo kein Haus mehr bewohnbar war. Alle Häuser waren zerschossen. Dort wurden wir selbst auch beschossen. In einem Zick-Zack-Kurs sind wir dann zurückgefahren. Das sind Bilder, die man im Kopf hat und nicht mehr so schnell vergisst.  

Aufgrund Ihrer Erfahrung als Aussenpolitiker und durch viele Reisen in das Krisengebiet lag es für Sie im Bereich des Möglichen, dass Putin die Ukraine, auch aufgrund der Unnachgiebigkeit des Westens, angreifen könnte?

Im Februar 2022 war ich in Russ­land und habe dort auch Gespräche geführt. Jeder Gesprächspartner, den ich getroffen hatte, stellte die Frage: Warum setzt ihr Minsk  II nicht um? Seit sieben Jahren ist das Abkommen unterschrieben und noch immer wird der Donbas bombardiert. Wir verlieren langsam die Geduld. Das war die Stimmung. 

Es gab eine Person, Fjodor Lubjanow, ein intellektueller Kopf der russischen Aussenpolitik, der mir sagte, am Ende werde es in einem Kopf entschieden, was geschehen soll, und so war es auch, es war eine Entscheidung von Putin, in die Ukraine einzumarschieren. Natürlich ist der ganze politische Hergang Grundlage, um zu verstehen, warum die Russen einmarschiert sind.

Gleichwohl habe ich ein Politikverständnis, das davon ausgeht, dass es immer unterschiedliche Optionen gibt. Ich war überrascht, dass die Russen nicht nur in den Donbas einmarschierten, sondern auch direkt auf Kiew lossteuerten. Wohl mit dem Motiv, den Druck auf Kiew zu erhöhen, damit es schnell zu einem Abkommen kommt, wie es nach den Verhandlungen in Istanbul auch ausgesehen hatte. Der Angriff war ganz klar vom Westen provoziert, aber es gibt keine Zwangsläufigkeit.

Wissen Sie, wie die Stimmung in der russischen Bevölkerung zu Beginn des Kriegs war?

Die russische Gesellschaft war erst einmal ziemlich schockiert. Es gab keine Jubelstimmung wie im März 2014. Die Abspaltung der Krim von der Ukraine und die Integration in die Russische Föderation, unabhängig davon, wie man es völkerrechtlich bewertet, war flankiert von einer patriotischen Stimmung. Vergleichbar etwa mit der Wiedervereinigung in Deutschland.

Das war im Februar 2022 nicht der Fall. Der Kriegsbeginn war nicht begleitet von einer nationalistischen Stimmung, sondern eher von einer Verunsicherung und Überraschung. Die russische Propaganda machte sich lustig, weil der Westen behauptet hatte, Russ­land würde dort einmarschieren. Aber durch die Reaktion des Westens der maximalen Konfrontation mit mittlerweile 18 Sanktionspaketen der EU und riesigen Waffenlieferungen, mit möglichen Taurus-Lieferungen, sieht die russische Bevölkerung heute viel mehr die Notwendigkeit, der eigenen Regierung zu folgen.

Herr Hunko, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser