Gaza: «Dieser Plan ist ganz eindeutig im Interesse Israels»

Interview mit Karin Leukefeld, freie Journalistin und Nahost-Expertin

Zeitgeschehen im Fokus Wie lange wird der Waffenstillstand halten? Wird Israel ihn respektieren und nicht wie die beiden letzten Male, den Krieg wieder aufnehmen?

Karin Leukefeld Man kann davon ausgehen, dass es einigermassen ruhig bleibt, solange die Leichen der gefangenen Israeli noch nicht alle übergeben sind. Das Hauptinteresse von Netanjahu und Trump liegt darin, die Bevölkerung in Israel zu beruhigen, dass das, was hier allgemein unter Geiseldrama bezeichnet wird, zu einem guten Abschluss kommt.

Die Lebenden sind zurück, und die Toten können beerdigt werden. Es hat seit Wochen riesige Proteste und Tumulte in Israel gegeben, und ein Hauptanliegen des Abkommens ist zunächst einmal, Netanjahu aus der Schusslinie zu nehmen. Man wollte erreichen, dass die Proteste zurückgehen, dass man im gewissen Sinne Normalität darstellen kann.

Trump erwähnte in seiner Rede, dass so das Ansehen Israels in der Welt wieder hergestellt wird. Wenn Trump seinen Freund Netanjahu retten beziehungsweise Israel stabilisieren will, muss er die internationale Kritik an dessen Regierungsführung und die unzufriedenen Menschen in Israel beschwichtigen. Das ist ein zentraler Punkt dieser Vereinbarung. 

Trump präsentiert sich als Friedensfürst, aber wenn man Ihren Ausführungen folgt, dann geht es ihm eigentlich nicht um Frieden.

So wie er sich auch bei der Knessetrede vernehmen liess und bei der Unterzeichnung des «Friedensabkommens» in Sharm el-Sheikh, ist es ganz klar, dass er sich als grosser Retter präsentiert. Er hatte gesagt, er habe einen Krieg beendet, der 3000 Jahre gewährt habe. Das ist eine Zeitrechnung, die möglicherweise der Thora entspricht oder von den rechtsextremen religiösen Kräften in Israel verbreitet wird. Natürlich war die Region nicht 3000 Jahre im Krieg, auch wenn es dort immer wieder Kriege gegeben hat.

Er betonte auch immer wieder, dass vorherige US-Regierungen und andere in der Welt, damit meinte er auch die Uno, nicht in der Lage gewesen seien, diesen Frieden herzustellen. Aber ihm sei das gelungen. In Journalistengesprächen auf dem Flug nach Tel Aviv plauderte Trump aus dem Nähkästchen. So habe die Hamas die Erlaubnis, die Waffen noch zu behalten und auch einzusetzen, denn man müsse im Gaza-Streifen für Ordnung sorgen.

Das wurde von Journalisten kaum berichtet. Das ist natürlich ein enormer Widerspruch dazu, dass der Fokus sich darauf richtet, die Hamas entwaffnen zu wollen. Nach diesen Journalistengesprächen hätte die Hamas den Auftrag, für Ordnung zu sorgen, und dafür bräuchte sie auch die Waffen. Die Widersprüche ergeben sich daraus, dass die eine Aussage für die Öffentlichkeit bestimmt ist, und die andere für «Eingeweihte». Nur wenige Journalisten erfahren als «Eingeweihte» davon, was im Einzelnen besprochen wurde. Die Bevölkerung, die das Abkommen direkt betreffen soll, wird nicht einbezogen und nicht informiert.

Was bedeutet das alles für die Palästinenser?  Sind sie durch den Plan geschützt?

In Donald Trumps 20-Punkte-Plan von kommen die Palästinenser nicht vor. Die palästinensische Seite ist auch bei der Entstehung des 20-Punkte-Plans nicht einbezogen worden. Es gab mit ihnen keine Debatten darüber. Es bestand auch keine Zusammenarbeit mit der Uno oder mit anderen Staaten. Der Plan wurde praktisch nur mit Israel ausgehandelt.

Dieser Plan ist ganz eindeutig im Interesse Israels, um das Land militärisch zu stärken, politisch und international zu rehabilitieren. Der 20-Punkte-Plan dient dazu – das hat Netanjahu betont –, das zu erreichen, was er wolle. Darum geht es. Deshalb ist für die Palästinenser die Perspektive sehr kritisch. 

Am Mittwochmorgen hiess es in den Nachrichten, dass, wenn die Hamas ihre Waffen nicht abgeben wolle, die USA es durchsetzen würden, wenn es sein müsse, auch mit Gewalt. Das ist doch ein Widerspruch zu seinen Aussagen im Flugzeug.

Trump will aller Voraussicht nach verhindern, dass Netanjahu vorprescht und militärisch operiert. Der Verteidigungsminister Israels hat bereits gesagt, wenn die Leichname nicht übergeben würden, betrachteten sie das als einen Bruch ihrer Vereinbarungen, was als Argument verwendet werden kann, um militärisch gegen die Palästinenser vorzugehen. Netanjahu hat immer wieder betont, dass der Kampf noch nicht zu Ende sei. Wann ist er denn zu Ende? Wenn alle Palästinenser getötet oder vertrieben sind?

Schon jetzt gibt es  keine Häuser mehr, keine Arbeit, keine Schulen, keine Krankenhäuser mehr in Gaza. In einer Rede vor dem Auswärtigen Ausschuss in der Knesset hat Netanjahu gesagt, früher oder später würden alle gehen, Israel würde die Situation so verschärfen, dass die Palästinenser nichts anderes mehr wollten, als Gaza zu verlassen. Damit das funktioniert, bräuchte man Länder, die diese Menschen aufnähmen. Man muss die Netanjahu-Regierung beim Wort nehmen.

Und was Netanjahu und die Minister sagen, ist in der israelischen Presse, die auch in Englisch erscheint, zu lesen. Die Medien in Israel berichten sehr offen darüber. Die Knesset hat sich gegen eine Zweistaatenlösung ausgesprochen, die aber von den Uno-Mitgliedsstaaten immer wieder gefordert wird. Auch Deutschland spricht von einer Zweistaatenlösung, und ich nehme an, auch die Schweizer Regierung, wenn sie sich dazu äussert.

Ja, das macht sie und befürwortet sie auch, aber Palästina als Staat anerkennen, will unser Aussendepartement nicht.

Alle sprechen von der Zweistaatenlösung. Doch nach dem Trump-Netanjahu-Plan soll zunächst ein Sicherheitskonzept für Gaza erarbeitet werden. Die Hamas müsse entwaffnet werden und dürfe keine Zukunft mehr haben. Die Bevölkerung müsse sich von der Hamas distanzieren, heisst es. Das ist das Ziel für den Westen – und natürlich für Israel. Das bedeutet, dass man eine politische Lösung, die von den Palästinensern mit ausgehandelt wird, nicht akzeptiert. Man erwähnt sie nicht einmal.

Die palästinensischen Organisationen haben in den vergangenen Jahren immer wieder Vereinbarungen getroffen – bei Treffen in Moskau, in Peking. Sie haben Pläne und Ideen für ihre Zukunft, für eine Übergangsregierung, für Wahlen. Die palästinensische Bevölkerung muss sagen können, wem sie vertraut und wem sie zutraut, Palästina zu regieren, und wie ihre Zukunft aussehen soll. Die Presse greift diese wichtigen Fragen nicht auf. Die Palästinenser werden wieder einmal übergangen.

Das erinnert an den Uno-Teilungsplan von 1947. Hier wurden die Palästinenser nicht gefragt, nicht mit einbezogen, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt. Was in den Medien auch nicht thematisiert wird, ist die Lage der Palästinenser im besetzten Westjordanland. Wie ist die Lage dort?

Es gibt fortlaufend Zerstörungen von Häusern. Das Flüchtlingslager in Jenin ist fast vollständig zerstört worden. Seit Monaten gibt es Vertreibungen aus verschiedenen Regionen im Westjordanland. Es existiert eine umfassende Absperrung, so dass sich die Palästinenser nicht richtig bewegen können. Es ist fast unmöglich, zur Arbeit zu gelangen oder auch in eine Klinik. Sie müssen durch mehrere Sperren der israelischen Besatzungsbehörden, bis sie an ihrem Bestimmungsort ankommen.

Wenn man mit verschiedenen Menschen dort spricht, dann erfährt man, dass das wirtschaftliche Leben grösstenteils stillsteht. Das hängt damit zusammen, dass Häuser, Dörfer und Agrarland entweder zerstört oder von den Siedlern eingenommen werden. Das Ganze funktioniert nur mit Hilfe der Besatzungsarmee. Es ist genau die gleiche Vorgehensweise wie im Gaza-Streifen. Die Palästinenser sollen vertrieben und obdachlos gemacht werden. Man will, dass sie verschwinden.

Es sind zusätzliche Siedlungsbauten vom zuständigen Finanzminister Smotrich, einem rechtsextremen Siedler aus gleichnamiger Bewegung, bewilligt worden. Das ist ein grober Verstoss gegen das Völkerrecht. Mit den neuen Siedlungen will Israel verhindern, dass es für die Palästinenser im Westjordanland mit Ostjerusalem ein zusammenhängendes Gebiet gibt. Die neuen Siedlungen würden Ostjerusalem vom Rest des Westjor­danlandes abschneiden. 

Gehört das nicht zum israelischen Gesamtplan?

Sie meinen, einen jüdischen Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer – «From the river to the sea»? Ja, genau darum geht es. Dahinter steckt der Anspruch, dass Israel das ganze Land – und übrigens noch viel mehr für Gross-Israel – für sich beansprucht, genauso wie den Gaza-Streifen. Israel – die zionistischen Extremisten – wird nicht aufgeben, bis es das erreicht hat. Die Menschen, die im Westjordanland leben, sollen nach Jordanien vertrieben werden.

Der jordanische König bekam nach dem Uno-Teilungsplan und dem anschliessenden Krieg 1948/49 die Autorität über das Westjordanland, über Ostjerusalem und seine heiligen Stätten, auch über die Al-Aksa-Moschee, die momentan fast täglich von jüdischer Bevölkerung, auch von Offiziellen Israels, aufgesucht wird. Die Al-Aksa-Moschee ist eines der wichtigsten muslimischen Heiligtümer, doch die Gläubigen werden beim Gebet, bei ihrem Weg dorthin, drangsaliert. Den Muslimen aus Gaza ist seit langem verboten, dorthin zu gelangen.

Viele Palästinenser, die im Westjordanland leben, haben einen palästinensischen Flüchtlingspass, denn es gibt keine palästinensische Staatsangehörigkeit, und sie besitzen einen jordanischen Pass, um ausreisen zu können. Nun sagt Israel, sie seien alle Jordanier und sollten auch dorthin. Jordanien, das schon 1948 und 1967 palästinensische Flüchtlinge aufgenommen hat und auch solche aus dem Irak und aus Syrien, lehnt eine Umsiedlung der Palästinenser aus dem Westjordanland kategorisch ab. Eine Umsiedlung widerspricht im übrigen auch dem internationalen Recht.

Und alle Palästinenser, die im Gaza-Streifen leben, sollen Ägypter sein, weil Ägypten nach 1948 den Gaza-Streifen kontrolliert hatte und man sie auch dorthin vertreiben kann?

Das meint Israel, vermutlich meint das auch die Trump-Administration. Aber alle arabischen Staaten, die ja nach wie vor einen Staat Palästina fordern, lehnen diese Denkweise ab. Wenn wir uns die Geschichte der Stadt Gaza anschauen, als es vor dem Ersten Weltkrieg in der Region keine Grenzen gab, bestand eine rege Verbindung zwischen Kairo - Jerusalem - Damaskus - Aleppo - Bagdad. Der Weg von Kairo nach Jerusalem und umgekehrt ging über Gaza. Das ganze Gebiet war damals unter osmanischer Besatzung.

Die Osmanen unterteilten das Territorium in Provinzen, aber der Bevölkerungsfluss, bestimmt durch den Handel und die Häfen am östlichen Mittelmeer, war völlig ungehindert. Deswegen hatte Gaza als wichtige Hafenstadt mit einem grossen Warenumschlagplatz sehr enge Beziehungen nach Kairo, nach Jerusalem und nach Damaskus. Das interessiert heute niemanden in Israel oder in den westlichen Partnerländern Israels. Die Geschichte wird völlig ausgeblendet.

Kann man sagen, die Zerstörung dieser Kultur habe mit dem Sykes-Picot-Abkommen begonnen, nachdem die Briten und die Franzosen ihre Einflusszonen festgelegt hatten?

Die Zerstörung begann sicher schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit dem zunehmenden Interesse der westlichen Kolonialmächte an der Region. 

Ich möchte nur an die Berlin-Bagdad-Bahn erinnern und das deutsche Kaiserreich. Aber ja, mit dem Ersten Weltkrieg, dem Sykes-Picot-Plan 1916 und der Balfour-Erklärung 1917 zugunsten einer «jüdischen Heimstatt in Palästina» wurde die Region zerteilt und auch zerstört.

Heute ist es so, dass der Sonderbeauftragte der USA, Tom Barrack, der für Syrien und den Libanon zuständig und Botschafter in der Türkei ist, kürzlich in einem Interview sagte: «Sykes-Picot gibt es nicht mehr», und Israel werde keine Grenzen mehr akzeptieren.

Damit meint er, dass Israel jetzt dieses Gebiet kontrolliert. Offen wird über Gross-Israel – Eretz Israel – gesprochen. Das ist sowohl der grosse Plan Netanjahus als auch der der Siedlerbewegung und der der Trump-Administration. Dieser Plan wird von jüdisch-zionistischen Organisationen in den USA unterstützt. 

Es gibt also keinen Vorbehalt, dass das Ziel eines Gross-Israels auf keinen Fall akzeptiert würde. Welche Chance haben jetzt die Palästinenser? 

Der Plan handelt von den Zielen Israels gegen die Palästinenser, gegen die Hamas, gegen einen Staat Palästina. Es soll eine vom Ausland geführte Verwaltung eingesetzt werden, die sogenannte «Gaza International Transitional Authority» (GITA). Vorbild ist die britische Mandatsverwaltung für Palästina zwischen 1922 und 1948. Die Rolle der arabischen Golfstaaten bei dem Plan ist noch etwas unklar. Sie haben offenbar die Hamas unter Druck gesetzt.

Die Hamas ist eine Organisation der sunnitischen Muslimbruderschaft. Das ist eine panarabische Organisation, die 1922 in Ägypten gegen die britische Mandatsmacht entstand. Sie wird auch von der Türkei unterstützt. Die Regierung von Erdoğan sieht sich als Teil dieser Bewegung, obwohl er und die türkische Bevölkerung keine Araber sind. Sie haben eine grosse Nähe zur politischen Ausrichtung der Muslimbruderschaft.

Katar hat diese Bewegung seit der Zeit, die als Arabischer Frühling bezeichnet wird, unterstützt. Es stützte die Kräfte in Tunesien, Ägypten und in Syrien. Dadurch hat Katar ein Gewicht innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft in dieser Region, weniger militärisch als finanziell und politisch. Es hat die Hamas im Gaza-Streifen von Anfang an unterstützt – mit Zustimmung der USA. Auf Bitten Washingtons holte Katar das Hauptquartier der Hamas nach Doha.

Es gibt ein Interview mit dem Aussenminister von Katar, der das deutlich macht. Vorher war die Hamas in Damaskus, wurde jedoch ausgewiesen, als sie sich am Krieg gegen die syrische Regierung beteiligte. Sie führt in Ankara und Istanbul ein Büro, natürlich auch in Ägypten. Diese Staaten werden derzeit lobend erwähnt, weil sie viel zu diesem Waffenstillstand beigetragen hätten. Die Türkei, Ägypten und Katar haben mit US-Präsident Donald Trump den 20-Punkte-Plan unterschrieben.

Vor dem «Friedenstreffen» in Sharm el-Sheikh, zu dem Israel und die Hamas nicht eingeladen waren, liess Erdoğan verlauten, dass er nicht zu dem Treffen komme, wenn Israel auch anwesend sei…

Erdoğan muss sich gegenüber seiner Bevölkerung so äussern, die ganz entschlossen auf der Seite der Palästinenser und auch der Hamas steht. Die Demonstrationen für die Palästinenser, für Gaza waren in der Türkei gigantisch. Erdoğan laviert. Er ist Politiker. Die Türkei ist Mitglied der Nato. Das schränkt ihn in gewissen Dingen ein. Auch steht er unter dem Druck der Nato und der USA. Er will von ihnen Kampfjets und braucht Ersatzteile dafür. Was im Hintergrund dieser Vereinbarungen läuft, ist nur Geschäft und Kontrolle.

Wenn man das so genannte «Familienfoto» vom Treffen in Sharm el-Sheikh anschaut, bei dem sich Trump als Friedensfürst präsentiert hat, dann stehen dort der Emir von Katar, der jordanische König und weitere Regierungschefs arabischer Länder sowie Macron in der ersten Reihe. Es ist ein Gruppenbild mit Dame, denn ganz aussen sieht man die Aussenbeauftragte der EU, Kaja Kallas. Hinter Trump, in der zweiten Reihe stehen Starmer aus England und Merz aus Deutschland.

Was wollen diese europäischen Herren dort? Der Präsident von Aserbaidschan war auch anwesend. Man fragt sich, was er mit der ganzen Sache zu tun hat. Was läuft im Hintergrund? Merz hat kurz zur Presse gesprochen und erklärt, dass Deutschland an der Seite Israels stehe und beim Wiederaufbau mithelfen wolle, er sei aber auch da, um Herrn Trump daran zu erinnern, dass es jetzt auch Frieden in der Ukraine geben müsse. Alle verfolgen ihre eigenen Interessen. 

Wie reagieren die Staaten rundherum? Wie stellen sich Saudi-Arabien, Bahrein, der Iran und so weiter zu diesem Waffenstillstand und zu den darin festgehaltenen Punkten? 

 Sie äussern sich zurückhaltend. Wir erfahren oft nicht, was in den Hallen der Herrscher oder in den Nebenräumen diskutiert wird. Man weiss, dass Katar, die Emirate und Saudi-Arabien das Angebot bekommen haben, in den USA ihre Piloten auf Kampfflugzeugen ausbilden zu können. Das ist in verschiedenen Medien nachzulesen.

Das Pentagon berichtete ebenfalls darüber. Die Länder haben also militärische Zusagen von den USA bekommen, erst einmal für ihre eigene Sicherheit, aber auch, um sich gegen den Iran wenden zu können. Das ist das Interesse des Westens. Die Länder sollen ihre Beziehungen mit dem Westen und mit Israel normalisieren und den Iran isolieren. Das entspricht nicht den regionalen Interessen, sondern den Interessen des Westens. Es ist reine Geopolitik, die hier vonstatten geht. Es ist eine gefährliche Politik, die in gewisser Weise an die Situation um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert erinnert, als Öl am Persischen Golf gefunden wurde.

Auf einmal hatten die damaligen Kolonialländer des Westens, angeführt von Grossbritannien, den Franzosen, den Deutschen und den Italienern, grosses Interesse am Nahen und Mittleren Osten. Der Bau der Berlin-Bagdad-Bahn – unter deutscher Führung – gegenüber dem britischen Bau der Hejaz-Bahn – ist Ausdruck des entstehenden Wettlaufs um die Kontrolle der Region. Der deutsche Kaiser ist nach Jerusalem gefahren, um deutsche Interessen dort zu manifestieren. Er traf sich dort auch mit Vertretern der zionistischen Bewegung.

Die Türkei war schon länger geschwächt und im Niedergang, als die europäischen Grossmächte den Ersten Weltkrieg anzettelten. In dieser Zeit wurde die Region komplett aufgeteilt, gemäss den Interessen der damaligen Grossmächte, Grossbritannien und Frankreich. Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es dort unabhängige Staaten, die im Ost-West-Konflikt eine Rolle gespielt hatten und die Mitglieder der Uno wurden. Die Staaten blieben schwach, und es entwickelten sich – mit iranischer Unterstützung – Widerstandskräfte, die sich gegen eine US-israelisch geführte Neuordnung der Region auflehnten. Kräfte wie die Hisbollah im Libanon, die Hamas, die Huthis, der Iran und der Irak bildeten eine «Achse des Widerstands».

Syrien, ein ganz wichtiges Brückenland, zerfällt. Es ist jetzt unter der Kontrolle eines ehemaligen Al Kaida-Anführers, der gegen die syrische Regierung kämpfte. Gleichzeitig gibt es dort einen Machtkampf zwischen Israel und der Türkei. Die alte, von westlichen Kolonialmächten diktierte Aufteilung, zerfällt. Heute sehen wir eine gewaltsame US-israelische Neuaufteilung der Region, und alle, die auf dem Foto von Sharm el-Sheikh stehen, wollen ein Stück von diesem Kuchen abhaben. Der Völkermord in Gaza ist nicht nur ein Kriegsverbrechen und ein Bruch des internationalen Rechts, sondern auch eine Katastrophe für die Menschen, die dort zu Hause sind.

Menschen, die über Generationen versucht haben, ein Leben für sich und ihre Kinder aufzubauen, und von den westlichen Mächten und Israel nur als Verschiebemasse benutzt wurden. Ihre politischen Institutionen werden nicht respektiert, und das Völkerrecht wird nicht anerkannt. Die Uno-Charta wird ignoriert, die Uno-Resolution für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser, das Selbstbestimmungsrecht aller Völker der Region, wird ignoriert. Gewalt und Macht setzen sich über Recht und Souveränität aller Staaten hinweg.

Man kann immer mehr beobachten, dass die Uno-Charta durch die reale Politik obsolet geworden ist –  natürlich nicht inhaltlich, aber faktisch ist es so. Die Macht stellt ihre eigenen Regeln auf und nennt es dann regelbasierte Ordnung, was nichts mit den Grundlagen der Uno-Charta gemein hat. Worum geht es?

Die einzelnen westlichen Staaten versuchen, die Beziehungen zu den USA auf einem guten Niveau zu halten, auch wenn die USA sie ständig unter Druck setzt. Sie wollen den Partner auf der anderen Seite des Atlantiks nicht verlieren, gemeint ist: den militärischen Schutz der USA. Den Ton in Europa geben die E3 an – Deutschland, Frankreich und Grossbritannien.

Sie betrachten Iran, Russland, China als Feinde, nicht als mögliche Partner, und treten entsprechend aggressiv auf. Manche EU-Staaten haben andere Vorstellungen und bemühen sich um bessere, um neue Beziehungen mit Russland, mit dem Iran, mit China und plädieren dafür, den Versuch zu unterstützen, dass die Staaten in der Region friedlich zusammenfinden. Aber wie gesagt, die meisten, insbesondere Deutschland, stehen auf der Seite Israels.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass es starke wirtschaftliche Interessen, vor allem an israelischer Militär- und Überwachungstechnologie, gibt. Aber vor allem sehen wir einen globalen Konflikt in der Region. Es ist ein Teil der Entwicklung und Entstehung der neuen Weltordnung. Man muss bei all dem, was dort geschieht, über den Horizont hinaus in den Rest der Welt blicken: Was geschieht in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO), was geschieht bei BRICS, wie verhalten sich Länder in Asien, in Afrika und in Lateinamerika? Das spielt alles eine Rolle.

Sie hatten erwähnt, dass die Hamas ein Büro in Damaskus hatte und während des Kriegs in Syrien ausgewiesen wurde, weil sie sich gegen die offizielle Regierung gewandt hatte. Warum hat sich die Hamas gegen Assad gestellt, sie war doch mit der Hisbollah verbunden, die wiederum auf der Seite Assads stand?

Ja, das ist richtig. Beide hatten gute Kontakte zum Iran. Dass die Hamas ihre vorherige Position 2011 verlassen hat, hing damit zusammen, dass sich die Führung entschieden hat, als Muslimbruderschaft zu agieren, nicht als Vertretung der Palästinenser. So haben mir das Palästinenser in der Region damals erklärt. Hintergrund war, dass die Muslimbrüder im sogenannten arabischen Frühling in Tunesien und in Ägypten erfolgreich mobilisieren konnten und in Ägypten mit Mursi sogar die Regierung übernommen hatten.

Sie wurden stark von Katar unterstützt. Auch US-Aussenministerin Hillary Clinton erklärte, dass sie überhaupt kein Problem mit der Muslimbruderschaft habe, solange sie die Rechte der Frauen einhielten und Frieden mit Israel wahrten. Die Türkei, gefördert von der EU und auch von der Nato, sollte das grosse Vorbild für die ganze Region werden.

Es gab in Ägypten Stimmen, die sagten, dass sie gerne so ein System hätte wie in der Türkei, muslimisch geprägt, aber mit einem Militär, das vom Parlament kontrolliert wird.  Das wurde von der EU und den USA gefördert. Man war damals der Meinung, dass die Muslimbrüder in der Region eine wichtige politische Rolle spielen sollten. Letztlich gab es einen kurzen arabischen Frühling für die Muslimbruderschaft, und die Bevölkerungen der Region erlebten seitdem nur Krieg, Zerstörung, Tod und Vertreibung. 

Wie reagieren die Verbündeten der «Achse des Widerstands» auf die aktuelle Entwicklung? Die Huthi haben den Palästinensern Unterstützung zugesagt, bis Israel sich aus Gaza zurückgezogen und die Kampfhandlungen beendet hat. Die Hisbollah begründete ihre Angriffe auf Israel als Entlastungsschläge für die Palästinenser. Gibt es jetzt Äusserungen von diesen Milizen?

Die Huthi haben den Waffenstillstand begrüsst, werden aber die Situation weiterhin beobachten. Sollte Israel diese Vereinbarung über den Waffenstillstand und die humanitäre Hilfe nicht einhalten, seien sie jederzeit bereit, wieder militärisch gegen Israel und israelische Interessen vorzugehen. Die Hisbollah hat den Waffenstillstand und das Zulassen humanitärer Hilfe begrüsst, aber sie hat sich nicht ausführlich dazu geäussert, weil die Hisbollah im Libanon enorm unter Druck steht.

Auch die libanesische Regierung wird von den USA und der EU unter Druck gesetzt, die Hisbollah zu entwaffnen. Sie hat einen nationalen Konflikt auszufechten und hält sich mit politischen Stellungnahmen zurück. Der Iran war zur Unterzeichnung der Vereinbarung nach Sharm el-Sheikh eingeladen, hat es aber abgelehnt, dort zu erscheinen. Der Iran und andere Staaten rechnen damit, dass Israel in naher Zukunft erneut angreifen könnte, entweder in Gaza, im Libanon oder Iran.

Auch der Libanon rechnet mit einem Angriff, wobei Israel den Libanon täglich bombardiert. Die Hisbollah, aber auch die Regierungen im Libanon und im Iran, äusserten grosse Bedenken, dass Israel den Waffenstillstand nicht einhalte. Im aktuellen Konflikt hat Netanjahu die Waffenstillstandsvereinbarungen unter fadenscheinigen Gründen gebrochen und damit das Vertrauen der anderen Länder beschädigt. Man begrüsst die humanitäre Hilfe und das Schweigen der Waffen, mehr aber auch nicht.

Am Mittwochmorgen wurde gemeldet, dass Israel bereits die Zufuhr humanitärer Hilfe im Gaza-Streifen reduziert.

Ja, man hatte die Hilfe ab Montag zurückgefahren, auch als Druckmittel gegen die Hamas, weil nicht genügend Leichname übergeben wurden. Das wird direkt wieder gegen die Bevölkerung ausgespielt, gekoppelt mit der Blockade von humanitärer Hilfe. Die Hamas hat sich dazu geäussert und mitgeteilt, dass die sterblichen Überreste der Israeli übergeben werden sollen, man aber in der Trümmerlandschaft die Orte erst finden müsse, wo sie beerdigt seien. Man könne sie zwar lokalisieren, aber man müsse auch an die Gräber herankommen. Man brauche entsprechend schweres Gerät, und das dauere. Die Türkei hat übrigens Hilfskräfte nach Gaza geschickt, um bei der Bergung dieser Leichen zu helfen. 

Ich möchte in dem Zusammenhang doch daran erinnern, dass noch Tausende getötete Palästinenser unter den Trümmern liegen, die bisher nicht geborgen werden konnten. Es wurde gemeldet, dass Israel in den letzten Tagen bereits 44 Palästinenser getötet hat, angeblich weil sie eine «Grenzlinie» überschritten hätten. Man muss sich auch klar machen, dass Israel immer noch mehr als 50 Prozent des Gaza-Streifens besetzt hält. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass es sich nicht weiter zurückzieht, sondern leider eher das Gegenteil eintreten wird. Solche Töne sind auf alle Fälle in der Knesset zu hören.  

Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser