EU-Vertrag: Gut verhandelt oder doch nur gekuscht?

von Reinhard Koradi
«Am 26. Mai 2021 beschloss der Bundesrat, das Institutionelle Abkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, da in zentralen Bereichen substanzielle Differenzen bestanden (Unionsbürgerrichtlinie, Lohnschutz und staatliche Beihilfen).» ¹ Dies, nachdem auch die ab Januar 2021 geführten sechs Gesprächsrunden keine wesentliche Nachbesserung des Vertragswerkes brachten.

Die damalige Ablehnung durch den Bundesrat erfolgte allerdings erst, nachdem der öffentliche Druck gegen das Rahmenabkommen mit der EU derart stark war, so dass auch die feurigsten Befürworter einer EU-Annäherung erkennen mussten, dass die Schweizer Stimmberechtigten dieses Vertragswerk nie akzeptieren würden.

Kurz vor Weihnachten äusserte sich der Bundesrat zum neu vorgelegten EU-Vertrag. Nach mehrmonatigen Verhandlungen soll gemäss dem Bundesrat ein für die Schweiz positives Abkommen mit der EU abgeschlossen worden sein

Besseres Verhandlungsergebnis?
Um es gleich vorwegzunehmen: Wenn der Bundesrat das Vertragswerk positiv beurteilt, dann müssen wir ganz genau hinschauen. Es ist leider nicht das erste Mal, dass unsere Exekutive (Ausführende im Sinne des Volkswillens) die Stimmberechtigten mit falschen oder unvollständigen Informationen manipuliert. Die Taktik, den Stimmberechtigten nur begrenzten, verschleierten oder sehr späten Zugang zu den wesentlichen Inhalten politisch relevanter Sachgeschäfte zu gewähren, wird auch in Bezug auf das Abkommen mit der EU angewendet. Auf wesentliche Inhalte stösst der interessierte Bürger nur nach zeitraubenden Recherchen. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, die «Errungenschaften» zu den strittigen Punkten in einer Liste offenzulegen. Die Geheimniskrämerei und die befangene Euphorie rund um das neue Vertragswerk sind äusserst verdächtig. Es lohnt sich, das schön geredete Verhandlungsergebnis äusserst kritisch unter die Lupe zu nehmen.

Bemerkenswert ist zudem, dass von den drei damals als kritisch eingestuften Themen lediglich der Lohnschutz an die Öffentlichkeit gebracht wird. Weder zu der Unionsbürgerschaft noch zu den staatlichen Beihilfen sind derzeit Informationen zugänglich. Taktik, um den Gegnern keine zusätzlichen Angriffsflächen zu bieten, oder sind die beiden anderen Themen einfach aus den Traktanden gefallen respektive im «Kleingedruckten» untergebracht worden?

Abkommen erweitert
Im Jahr 2000 wurden die bilateralen Abkommen mit der EU von den Schweizer Stimmberechtigten angenommen. Damals umfassten die Abkommen mit der EU die Bereiche Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, technische Handelshemmnisse, öffentliches Beschaffungswesen, Forschung und Landwirtschaft. Das neu ausgehandelte Vertragswerk umfasst nun zusätzlich drei neue Bereiche: Strommarkt, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit.

Strommarkt
Der Strommarkt soll in der Schweiz gemäss EU-Richtlinien liberalisiert werden. Dabei integriert die Schweiz die EU-Vorschriften des Elektrizitätsbinnenmarktes in nationales Recht. Gemäss Bundesrat sollen durch den freien Zugang zu den verschiedenen Anbietern die Strompreise in der Schweiz sinken. Die einheimischen Netzbetreiber werden in den EU-Strombinnenmarkt integriert, was die Versorgungssicherheit erhöhen soll. Die Erfahrung lehrt allerdings, dass Deregulierung und Liberalisierung in den meisten Fällen weder zu günstigeren Preisen noch zu mehr Versorgungssicherheit führen. Grosse Anbieter sichern sich schnell eine marktbeherrschende Stellung und vernichten damit die regional ausgerichtete Grundversorgung. Wohlstand, Chancengleichheit und Versorgungssicherheit in der Schweiz gründen jedoch auf dieser vom Staat garantierten Grundversorgung. Der Verzicht auf eine leistungsfähige Grundversorgung zugunsten von Grosskonzernen, deren Ziel nach wie vor die Gewinnmaximierung ist, kommt einem Schuss ins eigene Bein gleich. Die EU diktiert zukünftig die Energiepolitik der Schweiz und verpflichtet sie, die Stauseen zur Reservehaltung gegenüber dem EU-Binnenstrommarkt zugänglich zu machen. Mit dem Stromabkommen werden Abhängigkeiten in einem sehr sensiblen Bereich der Grundversorgung geschaffen, die je nach Versorgungssituation den Spielraum für eine eigenständige Energiepolitik einengen.

Lebensmittelsicherheit
Eine durch die EU-Kommission geregelte Lebensmittelsicherheit bringt zusätzlichen administrativen Aufwand, verteuert die Lebensmittel und liegt nicht im Interesse der noch weitgehend gewerblichen Struktur einheimischer Lebensmittelproduzenten (Molkereien, Käsereien, Metzger und Bäcker). Die kleineren und mittleren Gewerbebetriebe garantieren über Berufslehre, Tradition und Berufsstolz eine Lebensmittelsicherheit, die keine EU-Verordnung leisten kann. Das rationelle Handwerk braucht keine zusätzlichen Regelungen und Gesetze, sondern möglichst viel Spielraum für Innovationen und Qualitätsmerkmale, die den kleinen und mittleren Unternehmen zur Profilierung im Markt verhilft.

Das Abkommen über Lebensmittelsicherheit soll der Schweiz den Zugang zu den europäischen Frühwarnsystemen und Risikobewertungen öffnen, heisst es. Wir brauchen keine europäische Behörde zur Überwachung der Lebensmittelsicherheit. Die Erleichterung des Marktzugangs zum EU-Binnenmarkt für die einheimischen Lebensmittelproduzenten wird weiter als Argument für die Zustimmung zu diesem Abkommen angeführt. Das haben wir bereits alles. Aber es geht gar nicht um diese Punkte. Was wirklich zählt, ist allein der Zwang zur Übernahme von EU-Normen und Gesetzen. Es braucht auch keine von der EU-Kommission diktierte Stärkung des Konsumentenschutzes in der Schweiz. Wir haben bereits genügend Bestimmungen auf nationaler Ebene, die die Rechte der Konsumenten schützen und die Pflichten der Produzenten regeln. Warum das EDA darauf hinweist, dass die Agrarpolitik und der bestehende Grenzschutz für Agrarprodukte (Zölle und Kontingente) von diesem Abkommen nicht betroffen sind, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Vermutlich ist der Titel des Abkommens irreführend. Der wahre Inhalt des Abkommens ist ein weiterer Schritt zur Marktliberalisierung mit negativen Folgen für den schweizerischen Produktionsstandort von Nahrungsmitteln. In der Schweiz haben Konsumenten und Bürger schon längst realisiert, dass regionale Wirtschaftskreisläufe die allerbesten Garanten für gute Qualität und Sicherheit sind.

Das hier vorgestellte Abkommen fördert allein die Massenproduktion transnationaler Konzerne und stellt für die dezentrale, einheimische Lebensmittelproduktion eine existenzielle Gefahr dar.

Gesundheitsabkommen
Das Gesundheitsabkommen soll die Krisenvorsorge im Gesundheitsbereich verbessern. Es stellt die kontinuierliche Zusammenarbeit und den ständigen Zugang zum EU-Dispositiv zur Bewältigung von grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren sicher.² Auch diese Vereinbarung gleicht einer Blackbox. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gross, dass die Schweiz ihre Selbstbestimmung im Gesundheitsbereich verliert. Corona hat uns gelehrt, was zu erwarten ist, wenn transnationale Organisationen das Diktat im Gesundheitswesen übernehmen. Was geschieht, wenn die EU die Ziele der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder andere transnationale Übergriffe im Gesundheitswesen übernimmt? Müssen wir Gehorsam leisten und nachziehen?

Zuwanderung
In den Verhandlungen haben sich die EU und die Schweiz geeinigt, die bestehende Schutzklausel aus dem Abkommen über die Personenfreizügigkeit griffiger zu formulieren. Griffiger bedeutet, weniger Selbstbestimmung und mehr Einfluss der EU auf die Zuwanderungspolitik der Schweiz.

Eine Schutzklausel gibt der Schweiz die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden, sollte die Zuwanderung ein bedrohliches Ausmass annehmen. Sie muss allerdings mit ihrem Anliegen an den gemischten Ausschuss gelangen, in dem die EU und der Bund gleichermassen vertreten sind. Wird dort keine Einigung erzielt, kann Bern an ein Schiedsgericht gelangen. Dieses prüft, ob die Voraussetzungen für Schutzmassnahmen gegeben sind. Falls ja, kann die Schweiz Schutzmassnahmen ergreifen. Führen aber die Schutzmassnahmen zu einem Ungleichgewicht der beiden Seiten, könnte die EU als Reaktion Ausgleichsmassnahmen im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens ergreifen, «die verhältnismässig sein müssten», so der Bundesrat.⁴
Für die Anrufung der Schutzklausel ist nebst dem ordentlichen Verfahren, das im schnellsten Fall rund acht Monate dauert, auch ein Vorgehen in dringlichen Situationen vorgesehen. Hier könnte die Schweiz innert 60 Tagen provisorische Massnahmen ergreifen, die danach noch vom Schiedsgericht beurteilt würden.

Klar, die Schweiz kann aktiv werden, aber ob diese Aktivität gerechtfertigt ist, entscheidet nicht Bern, sondern ein Schiedsgericht. Der Bundesrat muss nämlich das Schiedsgericht davon überzeugen, dass die Schweiz in ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt und diese auf die Zuwanderung aus der EU zurückzuführen sind. Nur in diesem Fall kann die Schweizer Regierung Schutzmassnahmen in Betracht ziehen.⁴

Lohnschutz
In diesem Vertragswerk wird der Lohnschutz abgewertet. Beim Lohnschutz geht es nämlich nur um entsendete Arbeitnehmende aus dem EU-Raum, die in der Schweiz arbeiten. Das weit schwerwiegendere Problem ist die Zuwanderung von Arbeitskräften, die bereit sind, eine Arbeitsstelle zu tieferen Löhnen anzutreten. Lohnschutz und Zuwanderung beeinflussen sich gegenseitig und gehören zusammen. Um Lohndumping zu verhindern, wurden in der Schweiz bereits 2004 die flankierenden Massnahmen eingeführt. Damals als Beruhigungsmittel für die Gewerkschaften. Statt den flankierenden Schutzmassnahmen wird die Schweiz nun die EU-Entsenderichtlinie übernehmen, was für die einheimischen Arbeitskräfte nur nachteilig ist. Zukünftig gilt der Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Führt die Zuwanderung aus den EU-Ländern zu einem Ueberangebot an Arbeitskräften, sinkt das Lohnniveau automatisch. Ein Lohnschutz, der das Lohnniveau in der Schweiz schützt, ist durch das neu ausgehandelte Abkommen ausgehebelt. Da müssen doch bei den Gewerschaftern und der arbetenden Bevölkerung die Alarmglocken schrillen. Die Einhaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen wird durch die paritätischen Kommissionen, also Gewerkschaften und Arbeitgeber, kontrolliert. Die Schweiz konnte einige Ausnahmen aushandeln. So gilt in Risikobranchen weiterhin eine Voranmeldefrist, sie wird aber von acht auf vier Tage verkürzt. Und die Schweiz kann eine Kaution für Wiederholungstäter verlangen. Zudem hat die EU der Schweiz eine Non-Regressions-Klausel zugestanden. Das heisst, die Schweiz muss Weiterentwicklungen der EU-Entsendrichtlinie nicht übernehmen, wenn das Schweizer Schutzniveau verschlechtert würde.

Spesenregelung: Hier bleiben Fragezeichen offen. Für entsendete Arbeitnehmende gilt das Spesenniveau aus dem Herkunftsland – das kann zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Die Schweiz muss die Spesenregelung übernehmen. Der Bundesrat hält fest, dass er bei der Umsetzung im Inland den zur Verfügung stehenden Spielraum maximal nutzen wird, um das Risiko von Wettbewerbsverzerrungen zu minimieren.

Auch in diesem Abkommen bleiben viele Fragen unbeantwortet. Wer definiert die Risikobranchen? Was bedeutet die Aussage, «der Bundesrat wird den Spielraum maximal ausnutzen», und wer bestimmt die Verschlechterung des Schutzniveaus? Sämtliche sogenannten Zugeständnisse der EU sind derart vage, dass man sie weitgehend vergessen kann. Und dann liegt über allen Abkommen das Damoklesschwert der Streitschlichtung, die immer zum Tragen kommt, wenn Uneinigkeit besteht.

Dynamische Rechtsübernahme
Die dynamische Rechtsübernahme kommt nur in jenen Bereichen zur Anwendung, in denen die Schweiz am EU-Binnenrechtsabkommen beteiligt ist. Aber bitte, das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Diese Formulierung bedeutet nichts anderes, als dass zukünftig die dynamische Rechtsübernahme automatisch auf sämtliche neue Zugangsvereinbarungen zum EU-Binnenmarkt angewendet wird. Der Anwendungsbereich der Binnenmarktabkommen könne zudem nicht von der EU ausgedehnt werden, wird beschwichtigt. Auch hier nur Schönrederei!
Ändert die EU die rechtlichen Grundlagen eines Binnenmarktabkommens, so entscheidet die Schweiz über die erforderlichen Anpassungen im nationalen Recht, welche wie üblich dem Referendum unterstehen. Verweigert sie die Übernahme eines geänderten EU-Rechtssatzes, kann die EU verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen im betroffenen Abkommen oder einem anderen Binnenmarktabkommen treffen. Ganz eindeutig, die EU bestimmt die schweizerische Rechtsordnung. Spurt die Schweiz nicht, folgen Sanktionen. Diese Drohung genügt, um die Rechtsübernahme als zwingend einzustufen.

Streitschlichtung
Man mag die ganze Geschichte noch so schönreden, Tatsache bleibt, wir lassen fremde Richter in unser Land.

In den Bereichen, wo die Schweiz sich für ein Zusammengehen mit der EU verpflichtet hat, kommt ein neuer Streitschlichtungsmechanismus zum Tragen. Sollten die beiden Vertragsparteien in der Anwendung und Umsetzung der vertraglichen Verpflichtungen uneinig sein, wird als erstes der gemischte Ausschuss die Sachlage prüfen. Sollte der gemischte Ausschuss sich nicht einigen können, kann jede Seite den Streitpunkt einem Schiedsgericht unterbreiten. Wird im paritätisch zusammengesetzten Schiedsgericht (Vertreter aus der EU und der Schweiz) keine Einigung erzielt und handelt es sich beim Streit um EU-Recht, respektive dessen Auslegung, muss das paritätische Schiedsgericht den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Auslegung dieses Rechts beiziehen. Den Streit selbst beurteilt jedoch das Schiedsgericht. Befolgt eine Seite nach Ansicht der anderen die Entscheidung des Schiedsgerichts nicht, so kann diese im betroffenen oder einem anderen Binnenmarktabkommen Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Diese müssen allerdings verhältnismässig sein. Die Verhältnismässigkeit kann das Schiedsgericht überprüfen. Wer hinter diesen Bestimmungen noch einen Funken von Selbstbestimmung der Schweiz sieht, hat die Mechanik der Konfliktlösung mit der EU nicht begriffen. Verbunden mit der dynamischen Rechtsübernahme hat die Schweizer Verhandlungsdelegation die Souveränität der Schweiz für ein unannehmbares Vertragswerk geopfert.

Kohäsionszahlungen
Dass die Schweizer Verhandlungsdelegation von der Gegenseite über den Tisch gezogen wurde, beweist die Zustimmung zur Ausrichtung einer Marktzutrittsgebühr. Die EU-Unternehmen haben nämlich ebenfalls einen erleichterten Zutritt zum für sie äusserst attraktiven Schweizermarkt. Von 2030 bis 2036 zahlt die Schweiz jährlich 350 Millionen Franken. Für die Jahre 2025 bis 2029 hat sich der Bund zu einer Zahlung von jährlich 130 Millionen Franken verpflichtet. Die Zahlungen sollen erst fällig werden, wenn das Abkommen in Kraft tritt. Der Bund sucht ja verzweifelt nach Sparmöglichkeiten, eine der interessantesten Optionen ist die Ablehnung des Abkommens mit der EU.

Der Bundesrat ist zufrieden – und die Bürger?
Der Bundesrat zeigt sich zufrieden mit dem Ergebnis: Die im Verhandlungsmandat definierten Ziele seien in allen betroffenen Bereichen erreicht worden, schreibt die Landesregierung in einem Communiqué. «Die positiven Ergebnisse der Verhandlungen entsprechen den Interessen der Schweiz und ebnen den Weg für die nächsten Schritte». Verdächtig ist hier der Hinweis auf die nächsten Schritte. Für den Bundesrat scheint der Plan, die Schweiz immer stärker an die EU anzubinden, offensichtlich aufgegangen zu sein. Das miserable Vertragswerk dient allein den EU-Turbos. Wird einmal festgestellt, dass die Verträge mit der EU dem Schweizer Volk nichts bringen ausser Verlusten der demokratischen Rechte, der Selbstbestimmung und des Wohlstandes, wird es ein leichtes sein, das Volk zu einem EU-Beitritt zu nötigen.

Es gibt nur eine Antwort auf das Abkommen: Nein!
Die freien Bürger können mit dem Verhandlungsergebnis nicht zufrieden sein. Es wird auch keine positiven Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land haben. Die Schweiz setzt sich nämlich in das Bett einer desolaten Union. Einer Union, die derzeit keine positiven Perspektiven vorweisen kann. Und jeder, der nur ein bisschen klar denken und urteilen kann, versteht, dass die Verbindung einer gesunden Demokratie mit einer maroden, zentralistisch geführten EU nur Verlierer hervorbringen wird. Vor allem auch, weil die EU – sollte das Abkommen nicht verworfen werden – die Schweiz auf einen Weg zur Selbstaufgabe zwingt.
Das falsche Spiel in Bern muss dem Schweizer Volk die Augen öffnen. Die einzig richtige Antwort ist daher: An diesem falschen Spiel beteiligen wir uns nicht. Wir wollen unsere Unabhängigkeit bewahren und schicken den EU-Deal in die Wüste – am besten den gesamten Bundesrat als Zugabe. ■


¹ https://www.eda.admin.ch/europa/de/home/bilateraler-weg/ueberblick/institutionelles-abkommen/informationen-dokumente.html
² https://www.youtube.com/watch?v=zdKALIKbmOE
³ https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/eu-paket-vergleich-zum-gescheiterten-rahmenabkommen-das-hat-die-schweiz-verbessert-hier-musste-sie-nachgeben-ld.2714218
⁴ https://www.nzz.ch/schweiz/schweiz-eu-bundesrat-verkuendet-abschluss-der-verhandlungen-ld.1863539

EU-Rahmenvertrag 2.0 – Verrat an der Schweiz

von Thomas Kaiser
Kurz vor den Festtagen, wenn ein grosser Teil der Bevölkerung bereits in den Weihnachtsferien weilt und die übrigen mit den Vorbereitungen für das grosse Fest des Friedens beschäftigt sind, zelebriert der Bundesrat den Abschluss der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Der Zeitpunkt ist kaum zufällig, sondern gehört zum politischen Kalkül.

Am 20. Dezember traten die Schweizer Bundespräsidentin, Viola Amherd, und die EU-Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, zum «Präsidialen Statement zum materiellen Abschluss der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU» vor die Medien. Wer tatsächlich etwas Substanzielles zu den Verträgen erwartet hatte, ging leer aus und wurde auf die Pressekonferenz mit den Bundesräten Beat Jans, Guy Parmelin und Ignazio Cassis vertröstet. Fragen an die beiden Präsidentinnen waren keine zugelassen. So hatten sie freies Feld, ihren Schmusekurs zu demonstrieren, ohne sich kritischen Fragen von Journalisten stellen zu müssen.

Wider demokratischer Gepflogenheiten
Der «offizielle Staatsbesuch», der im Vorfeld kaum publik gemacht wurde, war eine Show auf tiefem politischem Niveau. Offensichtliches Ziel war es, Einigkeit zwischen der EU und der Schweiz zu demonstrieren. Es war ein PR-Auftritt, wie man ihn wahrscheinlich noch nie erlebt hat und der unseren demokratischen Gepflogenheiten entgegensteht.

Viola Amherd redete um den heissen Brei herum, lobte permanent und penetrant das gute Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU und verkaufte den EU-Rahmenvertrag 2.0 als Fortführung des bilateralen Wegs.

Es ist kaum zu glauben, wie Amherd den drohenden Verlust der Schweizer Souveränität als «Vorteil für das Land» und als ein «starkes Signal» für den ganzen europäischen Kontinent propagierte. Es wurde deutlich, dass sich der Bundesrat mit der gleichen Begründung den EU-Sanktionen gegen Russland angeschlossen und mit einem «starken Signal» für EU und Nato die Neutralität verraten hatte. Amherd betonte das «freundschaftliche Verhältnis» zwischen sich und von der Leyen. Das Verhältnis der beiden spielt aber bei der sachlichen Prüfung des Vertrags keine Rolle. Hier geht es um den Inhalt, die Fakten und die Konsequenzen für die Schweiz.

Der Bundesrat ist verpflichtet, sich für das Wohl des ganzen Landes und der gesamten Bevölkerung einzusetzen. Das verlangt die Verfassung von ihm, und zwar langfristig. Doch bei dieser Selbstbeweihräucherung beschleichen einen grosse Zweifel, ob das noch die Richtschnur ist.

Lobhudeleien gegenüber der EU
Während ihres Statements vor der Presse wirkte Viola Amherd unruhig und richtete mehrfach den Blick auf die neben ihr stehende, erhabene Kommissionspräsidentin. Damit war für alle ersichtlich, wen Viola Amherd zufriedenstellen wollte. Ihre Worte waren Lobhudeleien gegenüber der EU und Werbung für das «ausgewogene Verhandlungsergebnis», das beiden Seiten nur «Vorteile bringt». Sie versuchte der anwesenden Presse, den ausgehandelten Vertrag «billig» zu verkaufen. Die beiden Frauen zelebrierten das Ende der Verhandlungen, als ob der Vertrag bereits in Stein gemeisselt wäre. Ist er aber nicht, das ist auch Frau Amherd klar. Am Schluss erwähnte sie doch noch das Parlament und als Feigenblatt das Volk, das jetzt im Zentrum (der Propaganda?) stehe. Sie musste das sagen, denn sie weiss, dass sie am Volk nicht vorbeikommt. Nach dieser Vorstellung kann man erahnen, mit welchen Mitteln die Stimmberechtigten bearbeitet werden, damit der Vertrag nicht zur Makulatur wird. Amherds persönliche Beraterin, Brigitte Hauser Süess, liess denn auch im Interview mit Radio SRF durchblicken, dass der Bundesrat eine Kampagne (Propaganda) vorbereite, um die Verträge dem Volk nahezubringen – damit diesmal nichts anbrennt.

Der Bundesrat legte sich bis jetzt nicht fest, ob er den Rahmenvertrag 2.0 dem obligatorischen Referendum unterstellen will oder nicht. Wenn er das verweigern würde, was den amtierenden Räten durchaus zuzutrauen wäre, übergingen sie die Stimmen der Kantone und umgingen das Ständemehr. Bundesrat Beat Jans hatte bereits im Sommer mit juristischen Winkelzügen versucht, bevor nur irgendetwas ausgehandelt war, die Mitbestimmung der Kantone mit einem zweifelhaften Gutachten zu verhindern. Es geht ihm auch nicht darum, in einem demokratischen Prozess den Vertrag anzunehmen oder abzulehnen, sondern das Volk «muss» das Vertragswerk annehmen, damit der Bundesrat vor der EU sein Gesicht wahren kann.
Wer so weit geht wie Viola Amherd, wird nur schwer seine eigene Befindlichkeit in den Hintergrund stellen können und eine sachliche, auf Fakten beruhende Auseinandersetzung führen. Wenn das nicht geschieht, erleidet die Demokratie enormen Schaden.

Wo sind aufrechte Haltung und Rückgrat?
Das Ständemehr ist in der Schweizer Verfassung festgeschrieben und war 1848 der Kompromiss, der zwischen den Kantonen ausgehandelt wurde, um zu verhindern, dass die bevölkerungsreichen Kantone, diejenigen mit weniger Einwohnern überstimmen und so ihren Willen den kleineren Kantonen aufdrücken könnten. Ohne das Festschreiben des Ständemehrs wäre unser Bundesstaat, wie wir ihn heute kennen, kaum zustande gekommen. Der Föderalismus ist eine der tragenden Säulen unseres demokratischen Staatswesens.
Mit Bundespräsidentin Viola Amherd stand keine Schweizerin vor den Medien, die aufrecht und mit Rückgrat die Souveränität und Eigenständigkeit unseres Landes repräsentierte, keine Landesvertreterin, die mit Engagement die Interessen von Land und Leuten vertritt. Es war eine peinliche Vorstellung, wie wir sie in der letzten Zeit schon öfters erlebt hatten, besonders wenn man sich der Medienkonferenz nach der gescheiterten Veranstaltung auf dem Bürgenstock erinnert. Tragisch ist, dass sich die Schweiz von solchen Politikern und Politikerinnen auf der internationalen Bühne vertreten lassen muss.

Nach ihren Ausführungen übergab Viola Amherd «Ursula» das Wort, und die bedankte sich bei «Viola». Man hat sich bereits «verschwestert». Die angemessene diplomatische Distanz, wenn Grundlegendes auf dem Spiel steht, wurde verlassen: «Säudeckeli – Säuhäfeli», wie man in der Schweiz in solch einem Fall zu sagen pflegt. Mit anderen Worten: Man ist sich einig im üblen Spiel.

Arroganz des Westens
Ursula von der Leyen bezeichnete das vorläufige Ende der Verhandlungen grossspurig als «historisch» und liess die Katze gleich aus dem Sack: Es geht um den Führungsanspruch der EU mit der Schweiz im Seitenwagen. «Wir geben gemeinsame Antworten auf globale Realitäten.» Sie spricht so, als sei die Schweiz bereits ein Teil der EU und Viola Amherd strahlt beflissen. Der Deutschlandfunk spricht von einer «engeren Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU» und übernimmt von der Leyens Aussagen unkritisch. Einheit wurde demonstriert, die vergessen machen soll, wie die EU die Schweiz nach dem gescheiterten Rahmenabkommen abstrafte. Im weiteren erklärte Frau Präsidentin, dass die Schweiz nun auch bei den «Grossen» am Tisch sitzen dürfe. Sie fabulierte über «kraftvolle Partnerschaften» und beschwor: «Solche sind ein Muss»; die Deutungshoheit immer auf der Seite der EU. Die «regelbasierte internationale Ordnung» wurde auch noch bemüht, was nichts anderes bedeutet als die Ignoranz des Westens gegenüber dem internationalen Recht. Internationales Recht kann nur die Uno setzen und nicht die EU. Das erinnert an absolutistische Willkür. Die Betonung der «gemeinsamen Werte» klingt hohl und blasiert. Das Hervorheben von «Rechtsstaatlichkeit» und «Demokratie» soll die Einheit zwischen der Schweiz und der EU bekräftigen. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind unbestritten die Grundlagen eines friedlichen und gleichwertigen Zusammenlebens. Ob die EU diese Ansprüche erfüllt, ist fraglich.

EU und Schweiz nicht kompatibel
Wenn von der Leyen die Demokratie der EU und der Schweiz in einem Atemzug nennt, zeigt sich zum wiederholten Male, dass die Granden der EU keine Ahnung davon haben, wie sehr sich die Demokratie unseres Landes von den Strukturen der EU unterscheidet. Während die EU von Anfang an ausschliesslich von oben nach unten durchorganisiert ist, finden wir in der Schweiz genau das Gegenteil: das direktdemokratische Prinzip von unten nach oben. Das Schweizer Volk ist der Souverän. Letztlich kann es alles zum Scheitern bringen. Das will man in der EU nicht akzeptieren und droht mit «Retorsionsmassnahmen», sprich Sanktionen, sollte der Vertrag an der Urne scheitern. Der ehemalige Grüne Aussenminister, Josef Fischer, äusserte sich in seiner ihm eigenen Überheblichkeit dahingehend, dass er das Volk als unfähig erachte, über so etwas Komplexes wie die EU-Verträge zu entscheiden, man lasse sich das Errungene nicht zerstören. Ein Plebiszit ist für ihn etwas Emotionales: «Bei Volksabstimmungen geht es doch nur um Emotionen.» Das ist bis heute das Demokratieverständnis der EU. Tatsächlich ist das Volk vielfach rationaler als abgehobene Politiker. Direkte Demokratie wäre, wenn überhaupt, nur dann von der EU akzeptiert, wenn das Volk den politischen Vorgaben der Herrschenden zustimmte. Damit wird sie zur Farce. Das ist machiavellistisch und hat nichts mit der Ausgestaltung unserer Demokratie zu tun.

Kein Land in der EU kennt die von der Verfassung garantierte direkte Mitsprache der Bevölkerung im Sinne von Referendum und Volksinitiative. Die EU ist kein Vorzeigemodell für Demokratie. Wenn ein Parlament wie das der EU kein Initiativrecht besitzt, die Gewaltenteilung, wie in einer Demokratie zwingend, kaum erfüllt ist, wenn gewählte Volksvertreter nur eingeschränkte Befugnisse besitzen, kann man beim besten Willen nicht von einer Demokratie sprechen, bestenfalls von einer «gelenkten Demokratie».

Wir sind uns so nah …
Was von der Leyen an diesem Presseauftritt präsentierte, war eine inszenierte Charmeoffensive, abgekartet und gut einstudiert. Es fehlten nur noch die Worte, mit denen der damalige Präsident, John F. Kennedy, vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin die Herzen der Deutschen berührte: «Ich bin ein Berliner.» «Ich bin eine Schweizerin» wäre eine zu billige Kopie gewesen. Von der Leyen hat einen anderen Dreh gefunden: «Wir sind uns so nah, wie man sich nur sein kann.» Was heisst hier «wir»? Seit wann bestimmt von der Leyen, wie nahe sich die Schweizer der EU fühlen? Diese Aussage ist der Gipfel der Arroganz und nur schwer verdaulich. Auch zögert von der Leyen nicht zu bestimmen, dass «die Grenzen zwischen der Schweiz und Deutschland nur noch virtuell» seien.

Bei einer Zugfahrt von der Schweiz nach Deutschland ist sinnvollerweise von einer virtuellen Grenze nichts zu spüren, wenn zum Beispiel der deutsche Grenzschutz, bewaffnet und in voller Montur, in Dreiergruppen die Züge durchsucht und Reisende kontrolliert.

Von der Leyen führte das grosse Wort und Viola Amherd nickte zustimmend, wie eine brave Schülerin. Dass man seitens der EU-Kommission schon ab dem 1. Januar 2025 eine Übergangsregelung für Schweizer Unternehmen angekündigt hat, «die ihnen sofort den Zugang zu den europäischen Programmen gewähren», ist ein ungeniessbares «Zückerli» von der EU. Dieser Schritt bedeutet, bevor Parlament und Volk die Verträge gutgeheissen haben, eine Missachtung der demokratischen Prozesse, auch gegenüber den Mitgliedsländern der EU, was nicht gross erstaunen kann. Mit diesem Schritt wurde ein fait accompli geschaffen, um Unternehmer für eine Unterstützung des Rahmenvertrags 2.0 zu gewinnen. Die EU-Kommission will mit allen Mitteln die Schweiz in die EU zwingen.

Ursula von der Leyen dominierte das Geschehen. Sie zeigte der Schweiz, wer die Fäden in der Hand hält, und gab zu verstehen, dass es die einmalige Chance sei, auch bei den «Grossen der EU» dabei sein zu können. Das soll alles «auf gleicher Augenhöhe» geschehen, wie sie betonte. Wie diese «gleiche Augenhöhe» aussieht, kann man sich nach diesem Auftritt und den Erfahrungen der letzten Jahre lebhaft vorstellen.

Mit der Haltung unseres Bundesrats wird die EU leichtes Spiel haben. Das realisierten auch die Unterhändler und die Kommissionsmitglieder. Wie sollen sie auch einen anderen Eindruck bekommen von Bundesräten, die handstreichartig die Neutralität und jetzt auch die Souveränität über Bord werfen wollen. Doch ob das Volk das alles mitmacht, ist sehr zu bezweifeln. Zum Glück hat es das letzte Wort, und wird es, wenn es den Vertrag ablehnt, auch weiterhin behalten.

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=UIpgt4OgE1s

«Der Westen und Israel schufen regionale Chaoszustände, um ihre Ambitionen und Interessen zu befriedigen»

Interview mit Jacques Baud* (version française)

Jacques Baud (Bild zvg)

Zeitgeschehen im Fokus Laut Medienberichten soll Joe Biden die Reichweitenbegrenzung der ATACMS aufgehoben haben, ist das richtig?

Jacques Baud Nein. In Wirklichkeit hob Biden die Beschränkungen, die der Ukraine für den Einsatz von Raketen auferlegt worden waren, im November 2024 nicht auf! Das ist reine Manipulation durch unsere Journalisten und Medien.
Ich glaube nicht, dass die USA auf eine direkte Konfrontation mit Russland drängen wollen. Auch wenn die Biden-Regierung anscheinend keine Anstrengungen unternimmt, um dem Trump-Team den Amtsantritt zu erleichtern, glaube ich nicht, dass eine solche Konfrontation das Ziel ist. Was Donald Trump betrifft, so hat er sich selbst gegen den Einsatz von Raketen auf russisches Territorium ausgesprochen.¹

Im Mai 2024, nach der russischen Offensive auf Charkow, stimmten die USA, Frankreich und Grossbritannien dem Einsatz ihrer Waffen gegen Ziele auf russischem Territorium zu.² Damals ging es darum, der ukrainischen Armee die Fähigkeit zu verleihen, Kommandoposten, Artilleriestellungen oder Munitionslager im russischen Hinterland zu treffen.³ Obwohl keine Entfernungen offiziell bekannt gegeben wurden, wurde allgemein angenommen, dass diese Ermächtigung eine Zone von 50 bis 60 Kilometern entlang der Grenze betraf und Schläge auf Städte wie Moskau ausschloss.

Seitdem hat sich die Lage in der Ukraine weiter verschlechtert. Anfang August 2024 sollte bei einer Offensive der Ukraine im Oblast Kursk ein Gebiet erobert werden – möglicherweise sogar das Kernkraftwerk Kursk. Wie Selenskyj selbst bestätigte, handelte es sich dabei um ein Pfand für mögliche Verhandlungen.⁴ Dieses Gebiet hatte für die Ukraine also eine Bedeutung strategischer Natur. Aus diesem Grund hatten die westlichen Länder den Einsatz von Raketen auf russisches Territorium genehmigt. Um es etwas zu vereinfachen: Das Kraftwerk Kursk liegt etwa 60 Kilometer von der Grenze entfernt, und wenn man die ursprünglich vom Westen genehmigte Tiefe von 50 bis 60 Kilometern hinzurechnet, kommt man auf eine Tiefe von 100 bis 120 Kilometern.

Laut dem International Institute for Strategic Studies (IISS) handelt es sich bei den meisten an die Ukraine gelieferten ATACMS wahrscheinlich um die M39 Block 1 aus dem Jahr 1997 mit einer maximalen Reichweite von 165 Kilometern.⁵ Um den Werfer zu schützen, werden diese Raketen in der Regel in einer Entfernung von zwei Dritteln der Reichweite von der Frontlinie eingesetzt. Mit anderen Worten: Die Trägerraketen sind etwa 100 bis 120 Kilometer von der Frontlinie entfernt, und die Tiefe der Schläge beträgt daher 40 bis 65 Kilometer. Dies wurde bis heute beobachtet, mit Ausnahme des Schlages auf Brjansk.

Angesichts der sich verschlechternden Lage bat Selenskyj seine westlichen Partner um die Erlaubnis, seine Waffen noch tiefer einzusetzen – 300 Kilometer für die US-amerikanischen ATACMS und 500 bis 550 Kilometer für die britischen und französischen STORM SHADOW/SCALP. Damit könnte die Ukraine russische Städte bis etwa Moskau bedrohen. Diese Fähigkeit, in der operativen/strategischen Tiefe Russlands zuzuschlagen, war Teil seines «Plans für den Sieg».

Selenskyj wollte diese Diskussion im September 2024 am Rande der Uno-Generalversammlung, doch Biden verschob sie auf das Treffen der Ramstein-Gruppe, das damals für Mitte Oktober angesetzt war. Im Oktober vertagte Biden jedoch auch dieses Treffen, ohne dass Kiews Antrag diskutiert wurde. Joe Biden lehnte trotz wiederholter Bitten Selenskyjs und des britischen Premierministers Keir Starmer den Einsatz von ATACMS in der Tiefe des russischen Territoriums weiterhin ab.

Bis heute gibt es keine offiziellen Dokumente oder Erklärungen, die eine Änderung der Doktrin in dieser Hinsicht erkennen lassen. Bei den Pressekonferenzen des Weissen Hauses und des Pentagons wiederholen die Sprecher, dass es keine Bestätigung dafür gebe, dass Biden seine Meinung in dieser Frage geändert habe.⁶ Wie während des Kalten Krieges wollen die USA vermeiden, in eine Situation zu geraten, die sie zu einer direkten Konfrontation mit Russ­land zwingen würden.

Doch seit dem 17. November 2024 behauptet die westliche Presse (und viele «geopolitische» Kommentatoren), Biden habe beschlossen, den Einsatz von Langstreckenraketen gegen Russland zu genehmigen. Am 19. November 2024 scheint ein Abschuss von ATACMS-Raketen unweit von Brjansk in 120 Kilometern Tiefe diese Änderung zu bestätigen.
Tatsächlich geht aus einem Artikel der New York Times vom 27. Dezember hervor, dass es nicht zwei Entscheidungen (im Mai und dann im November 2024), sondern nur eine Entscheidung im Mai gab.

Wie lässt sich das erklären?
Es scheint, dass die Ukraine versucht hat, die USA in eine Situation des «fait accompli» zu locken, um Biden in eine Entscheidung zu zwingen. Die USA sind irgendwie in der Selenskyj-Falle gefangen. Zuzugeben, dass die Ukraine ein unberechenbarer Akteur ist, der «nicht gehorcht», könnte andere westliche Länder davon abhalten, dem Land weiterhin zu helfen. Deshalb haben die Amerikaner beschlossen, mit dieser Ungewissheit zu spielen. Doch das ist ein gefährliches Spiel, denn die Ukraine befindet sich in einer Situation, die sie immer mehr zu Verzweiflungstaten treibt. Der Angriff auf Brjansk ist nur ein Beispiel, das verdeutlicht, dass die Ukraine bereit ist, Washingtons rote Linien zu überschreiten. Dies war bereits zuvor bei den Angriffen auf das russische Frühwarnradarsystem VORONE am 22. Mai, auf russische Ölraffinerien im Juni und auf Kursk am 6. August zu sehen.

Ausserdem erinnere ich daran, dass Selenskyj Donald Trump im September 2024 gesagt hatte, dass die Ukraine bereit sei, ihre eigenen Atomwaffen zu produzieren, wenn sie nicht in die Nato aufgenommen werde. Die Ukraine hat auch mit der Produktion von HRIM-2-Raketen (GROM-2) begonnen, die Moskau erreichen könnten.

Der Raketenangriff auf Brjansk am 19. November 2024 war der tiefgreifendste, der mit westlichen Raketen gegen russisches Territorium geführt wurde. Deshalb beschloss Wladimir Putin am 21. November, die Hyperschallrakete ORESHNIK einzusetzen, insbesondere auf das Juzhmash-Werk in Dnepropetrovsk, das an der Produktion der Rakete HRIM-2 beteiligt ist. Dies ist also eine Botschaft an die Ukraine, aber auch an die Amerikaner, damit sie die Kontrolle über Selenskyj zurückgewinnen.

Es scheint also, dass Joe Biden seine Entscheidung bezüglich der Raketen nicht geändert hat. Das Problem ist, dass diese Raketen, um in der Tiefe des russischen Territoriums eingesetzt zu werden, Daten benötigen, die nur die Amerikaner liefern können. Aus diesem Grund ist Wladimir Putin der Ansicht, dass die USA dann ein aktiver Konfliktteilnehmer wären. Aus demselben Grund ist das Pentagon vehement gegen solche Einsätze. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Anzeichen dafür, dass die USA ihre Doktrin in dieser Hinsicht geändert hätten.
In Wirklichkeit verdeutlicht diese Situation ein Problem, das auch bei Israel und dem Iran zu beobachten ist: die Unfähigkeit der USA, die Kontrolle über ihre «Schützlinge» aufrechtzuerhalten. Das ist die eigentliche Gefahr in Europa und im Nahen Osten. Die ukrainische und die israelische Führung haben die gleiche Kultur, die sie dazu bringen könnte, einen nuklearen Holocaust auszulösen.

Wie das Wall Street Journal berichtet und wie ich bereits 2022 in mehreren meiner Bücher erwähnt habe, wusste der Westen, dass die Ukraine nicht über die Mittel verfügte, diesen Krieg zu führen.⁸ Im April 2024 erkannte der ukrainische Geheimdienst bei Treffen mit US-Politikern an, dass die Ukraine einen konventionellen Krieg gegen Russland nicht gewinnen könne und zu einer Strategie der «asymmetrischen Kriegführung» auf russischem Territorium übergehen müsse.⁹

Doch diese Erkenntnisse haben die Haltung unserer Politiker nicht geändert, die die Ukraine weiterhin auf den Kriegspfad drängen. Mit anderen Worten: Der Westen drängt die Ukraine dazu, das Wehrpflichtalter auf 18 Jahre zu senken, um einen Krieg fortzusetzen, von dem man seit April 2024 weiss, dass er bereits verloren ist!10

Kann man also sagen, dass der Einsatz britischer, französischer und US-amerikanischer Raketen auf russischem Territorium durch die Ukraine «Verzweiflungstaten» als Zeichen der sich abzeichnenden Niederlage sind? Warum haben die Waffenlieferungen nichts gebracht, sondern die Ukraine noch mehr in Richtung einer Niederlage geführt?
In Wirklichkeit hat die Ukraine diesen Krieg bereits im Mai/Juni 2022 verloren. Dem Westen ist die Ukraine und das, was mit ihr passieren könnte, egal. Sein Ziel war es, dass Russland kollabiert. Seine «unausweichliche» Niederlage in der Ukraine sollte zu seiner Zerstückelung11 und seinem endgültigen Verlust an Einfluss in der Welt beitragen.12 Die offizielle Rede ist, dass «Russland nicht gewinnen darf». Doch die westliche Strategie ging nicht auf.

Seit Sommer 2022 wurden die HIMARS-Raketen, die M-777-Kanonen, die CESAR-Kanonen, die ATACMS-Raketen, die ABRAMS- und LEOPARD-Kampfpanzer von unseren Journalisten als «Wunderwaffen» dargestellt. Ursprünglich wollte der Westen sie nicht liefern. Erst die ständige Verschlechterung der Lage veranlasste ihn, seine eigenen «roten Linien» zu überschreiten. Wie der amerikanische General Patrick Ryder im September 2024 betonte, «gibt es keine Wunderwaffe, die der Ukraine den Sieg bringen kann».13 In Wirklichkeit ist sogar das Gegenteil der Fall. Heute hört niemand mehr etwas von F-16 oder STORM SHADOW!

Jede dieser Waffen sollte der Ukraine eine Wende bringen und die Bedingungen für einen vorteilhaften Frieden schaffen. In Wirklichkeit haben sie der Ukraine nur die Illusion eines möglichen Sieges vermittelt und sie immer weiter in Richtung ihrer Zerstörung getrieben.
Sie hatten nie das Potenzial, das Kräfteverhältnis zu kippen, aber sie ermöglichten es Russland, Gegenmassnahmen zu finden und sich technologisch zu stärken. Den Ukrainern wurde sogar das Leben schwer gemacht, da sie manchmal «Google translate» benutzen mussten, um die Bedienungsanleitungen der gelieferten Waffen zu übersetzen!14 Da sie ohne Ausbildung an das ukrainische Militär verteilt wurden, konnten sie nicht in siegfähige Strukturen und Operationskonzepte integriert werden. Was die ATACMS betrifft, so sollen die USA seit 2023 500 Exemplare an die Ukraine geliefert haben, was etwa 20 Prozent der US-Bestände entspricht.15 Die Raketen konnten nicht in eine kohärente Einsatzdoktrin zur Unterstützung von Operationen integriert werden, sondern wurden als Vergeltungswaffen eingesetzt.

Diese Waffen dienen eher dazu, unser Gewissen zu beruhigen, als der Ukraine zu helfen. So wurden beispielsweise die von Frankreich im Sommer 2023 angebotenen Mirage 2000-5F von den Ukrainern nicht mit Begeisterung aufgenommen. Im September 2023 erklärte Juri Ignat, der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, dass dies nicht das Flugzeug sei, das die Ukraine brauche und es das Leben des ukrainischen Militärs nur erschweren würde.16 Aber natürlich hörte kein französischer Politiker zu, versuchte zu verstehen und den Ukrainern eine bessere Lösung anzubieten. Im Dezember 2024 haben die ukrainischen Piloten gerade ihre Ausbildung an der Mirage 2000-5 abgeschlossen!17

Die einzige Möglichkeit, eine Rationalität der westlichen Entscheidungen zu erkennen, ist die Feststellung, dass es nicht darum ging, der Ukraine den Sieg zu verschaffen, sondern Russland zu schwächen. Und selbst dieses Ziel wurde nicht erreicht! Seit Mitte 2022 hat der Westen, indem er die russischen Fähigkeiten unterschätzte, die Ukraine systematisch in eine für sie ungünstige Situation gedrängt. Indem der Westen seine Hilfe mit Lügen rechtfertigte, liess er die Ukraine im Glauben, über mehr Kapazitäten zu verfügen, als sie tatsächlich hatte. Aus diesem Grund besteht Selenskyj darauf, dass der Westen seine Versprechen einhält. Indem sie über Russ­land logen, haben unsere Journalisten und Politiker die Ukraine über den Ausgang des Krieges belogen, wie das Wall Street Journal einräumt.18 Unsere Journalisten und Politiker haben die Ukrainer wissentlich in den sicheren Tod getrieben.

An allen Fronten wird die Ukraine zurückgedrängt, dennoch pilgern die EU-Granden, Kallas, Costa und andere, zu Selenskyj und versprechen ihm weitere Unterstützung, um einen Sieg Russlands zu verhindern. Wie realistisch ist das?
Obwohl die offizielle westliche Rhetorik in dieser Frage eine gewisse Zweideutigkeit zulässt, weiss Selenskyj seit März 2022, dass die Ukraine nicht Mitglied der Nato sein wird.19 Andererseits weiss er, wie Oleksej Arestowitsch im März 2019 erklärt hatte, dass die Ukraine ohne westliche Hilfe keine Erfolgschancen hat. Aus diesem Grund tauschte Selenskyj im April 2022 eine Friedensperspektive mit Russland gegen westliche Unterstützung für «so lange wie nötig» ein.20

Von diesem Zeitpunkt an unternahm Selenskyj alles, um den Westen zu zwingen, sich physisch in den Konflikt zu verwickeln. So erklärt sich, dass er im April/Juli 2022 vermehrt Kriegsverbrechen gegen Russland anklagte, um die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine oder einer entmilitarisierten Zone um Saporoschje zu rechtfertigen,21 die die Nato konsequent ablehnte.22/23 Da er sich nicht auf die Nato verlassen konnte, schloss Selenskyj bilaterale Sicherheitsabkommen mit seinen westlichen Partnern. Diese Abkommen sind nur ein Beweis dafür, dass die Nato um die nukleare Kapazität der USA herum geschaffen wurde und «überdimensioniert» ist, um auf diese Art von Krise zu reagieren.

Heute ist man zu einer Unterstützung für «so lange wie möglich» übergegangen24 Im Klartext: Der Westen hat seine Ressourcen erschöpft, und die Ukrainer wissen, dass sie nicht gewinnen können.25 Andererseits ist der Westen nach wie vor davon überzeugt, dass die Ukraine diesen Konflikt noch gewinnen kann. Das ist das «magische Denken».26 Kaja Kallas, die neue EU-Aussenbeauftragte aus Estland, – ein Land, das vom Geld anderer Leute lebt – führt mit dem Blut anderer Leute Krieg gegen Russland und ist eine der stärksten Befürworterinnen des magischen Denkens. Für sie kommt ein Gespräch mit Wladimir Putin nicht in Frage, da er den Frieden ablehnt.27 Sie ist offensichtlich eine Lügnerin, denn Putin hat mehrfach erklärt, dass er zu Gesprächen bereit sei.28

Unsere Politiker versuchen, Wladimir Putin bis zum letzten Ukrainer zu bekämpfen.29 Dieser Krieg ist zu einem Religionskrieg geworden.

Welche Gefahren gehen von TAURUS aus?
Der TAURUS-Marschflugkörper gehört zur selben Familie wie die britische STORM SHADOW und die französische SCALP. Er hat eine ähnliche Reichweite und Technologie und würde an der Situation in der Ukraine rein gar nichts ändern, da Russland durchaus in der Lage ist, sie abzufangen. Im Übrigen hört man von diesen Flugkörpern nicht mehr viel, ebenso wenig wie von ATACMS, die es nicht schaffen, die russische Luftabwehr zu durchbrechen.

Die Entscheidung, die Ukraine mit TAURUS zu beliefern, hätte eher politische als operative Auswirkungen. Die deutsche Regierung scheint sich nach der Arbeit zu sehnen, die sie 1944 nicht beenden konnte, was ihr autoritäres Abdriften erklärt: die Unterstützung krimineller Unternehmen, die von der Uno verurteilt wurden,30 einschliesslich der Unterstützung des Terrorismus oder die Rückkehr zur Zensur der 1930er Jahre in all ihren Dimensionen, einschliesslich der Indizierung von Büchern.31 Ob in der Ukraine oder in Palästina, die deutsche Regierung verfolgt wieder einmal einen nihilistischen Ansatz in Konflikten – und die Schweiz folgt ihr auf Schritt und Tritt!

Auch wenn Selenskyj, wie Sie bereits erwähnten, «rote Linien» überschritten hat, ist doch der Westen der Haupttreiber des Krieges.
Wie die Kyiv Post am 1. September 2024 berichtete, «hat Putin in einem Punkt Recht: Der Krieg in der Ukraine betrifft nicht nur die Ukraine. Um effektiv mit Putin umgehen zu können, müssen die USA und der Westen verstehen, dass der russisch-ukrainische Krieg Teil eines grösseren Konflikts zwischen Russland und dem Westen ist.»32 Seit 2014 handelt es sich also um einen von den USA ausgelösten Konflikt, der die Ukraine als Schlachtfeld und die Europäer als «nützliche Idioten» benutzt.

Der Konflikt in der Ukraine ist ein Konflikt zwischen dem Westen und Russland. Paradoxerweise handelt es sich nicht um einen Konflikt zwischen der Nato und Russland. Im Gegenteil, es ist ein Konflikt, der die Unzulänglichkeit der Nato für diese Art von Konflikt aufzeigt. Ich möchte daran erinnern, dass der Grund für die Existenz der Nato darin besteht, die europäischen Länder unter den nuklearen Schutz der USA zu stellen. Wie Jens Stoltenberg mehrfach betonte, ist die Nato ein nukleares Bündnis. Mit anderen Worten: Sie ist überdimensioniert, um auf den Ukraine-Konflikt zu reagieren. Tatsächlich könnte man sagen, dass die ORECHNIK-Rakete vom 21. November 2024 die Nato überflüssig gemacht hat! Aus diesem Grund mussten die verschiedenen europäischen Länder bilaterale Abkommen mit der Ukraine schliessen, um ihr Sicherheitsgarantien zu geben.

Ich erinnere auch daran, dass, obwohl Nato-Länder wie Frankreich, Deutschland oder Polen in diesen Konflikt verwickelt sind, die Nato als Organisation nicht involviert ist. Hier ist das Versagen der Nato nicht operationeller, sondern konzeptioneller Natur. Die Nato ist nicht für einen innereuropäischen Konflikt formatiert. Aus diesem Grund haben weder Schweden noch Finnland ihre Sicherheit durch den Beitritt zum Bündnis verbessert, sondern verschlechtert. Diejenigen, die den Ukraine-Konflikt als Grund für die Schweiz sehen, sich der Nato anzunähern, haben absolut nichts über die Funktionsweise der Nato verstanden.

Man hört wenig vom Einsatz der ATACMS-Raketen, auch nicht von militärischen Zielen, die sie getroffen oder vernichtet haben. Was kann mit ihnen letztlich erreicht werden?
Der Angriff auf Brjansk am 19. November 2024 war mit 120 Kilometern der weiteste, der mit ATACMS-Raketen durchgeführt wurde. Nach dem Einsatz der ORECHNIK-Rakete führte die Ukraine am 11. Dezember 2024 mindestens einen Angriff mit sechs ATACMS-Raketen auf eine Fabrik in Taganrog durch. Dieser Angriff fand 50 Kilometer innerhalb des russischen Hoheitsgebiets statt, also innerhalb der von den USA genehmigten Grenzen. Am 3. Januar 2025 wurde ein Angriff mit acht ATACMS von den Russen in der Gegend von Belgorod vernichtet.
Das Problem ist, dass die Ukraine nicht wirklich militärische Ziele hat, die sie mit diesen Raketen bekämpfen will. Sie konzentriert sich daher auf zivile Ziele. Die Idee dahinter ist, wie Selenskyj erklärte, dass die russische Bevölkerung «den Krieg spürt».33 Derzeit versuchen die Ukrainer und die Europäer, diese Eskalation vor dem Amtsantritt von Donald Trump herbeizuführen, um ihn vor ein «fait accompli» zu stellen. Dies erklärt Macrons Vorstoss bei den Polen, um sie dazu zu bewegen, sich mit Truppen an der Seite Frankreichs in der Ukraine zu engagieren. Dies erklärt auch Keir Starmers Äusserungen, Wladimir Putin «maximalen Schmerz» zuzufügen.34 Doch die Reaktion von Donald Trump, der sich gegen den Einsatz von Raketen gegen Russland35 und die Entsendung von Truppen in die Ukraine ausspricht,36 kühlte den kindlichen Eifer des französischen Präsidenten und des britischen Premierministers ab.

Wann ist für Russland der Krieg beendet? Hat sich sein Ziel geändert?
Es ist wichtig, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass Russland nach den Zielen arbeitet, die Wladimir Putin im Februar 2022 definiert hat: die Vernichtung der Bedrohung für die russische Bevölkerung in der Ukraine. Im Einklang mit seiner Militärdoktrin wird Russland versuchen, seinen militärischen Sieg in einen politischen Sieg umzuwandeln und so die Neutralität der Ukraine durchzusetzen. Es ist seit Beginn seiner Operation völlig klar, dass Russ­land nicht versucht, ukrainisches Territorium zu erobern. Im April 2022 waren die Russen nach den Verhandlungen in Istanbul bereit, sich aus dem ukrainischen Hoheitsgebiet zurückzuziehen. Die Frage des Donbas und der Krim muss noch diskutiert werden.

Der Konflikt ist also nicht territorialer Natur, und Russland hat wahrscheinlich nie die Absicht gehabt, den westlichen Teil der Ukraine zu besetzen. Dies ist der nationalistischste Teil, der historische Verbindungen zu Deutschland hat, das ihm 1941 seine erste Unabhängigkeit geschenkt hatte. Das erklärt, warum die Deutschen und insbesondere Persönlichkeiten wie Annalena Baerbock oder Ursula von der Leyen – ganz zu schweigen von anderen wie der kanadischen Ministerin Chrystia Freeland – eine starke emotionale Bindung zu diesem Teil der Welt haben. Bis Anfang der 1960er Jahre kämpften die Sowjets in dieser Region einen Guerillakrieg, der von den Geheimdiensten der USA (Operation AERODYNAMIC), Grossbritanniens (Operation VALUABLE) und Frankreichs (Operation MINOS) unterstützt wurde.

Die Russen wollen diese Erfahrung nicht wiederholen. Sie sind bereit zu verhandeln, aber nicht um jeden Preis. Am 14. Juni 2024 nannte Wladimir Putin in einer Ansprache vor Führungskräften des Aussenministeriums die beiden Bedingungen für die Einleitung eines Verhandlungsprozesses: erstens Russlands Kontrolle über das gesamte Territorium der vier Oblaste Cherson, Saporoshje, Donezk und Lugansk und zweitens der Verzicht der Ukraine auf die Nato-Mitgliedschaft.37

Heute weiss Selenskyj zwei Dinge: erstens, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine für Russ­land eine rote Linie ist; und zweitens dass ein Nato-Beitritt der Ukraine unwahrscheinlich ist, da Trump dagegen ist.38

Wie Viktor Orbán erklärte, gibt es nur zwei mögliche Ergebnisse für den Konflikt: ein Friedensabkommen oder die vollständige Zerstörung eines der beiden Protagonisten, das heisst aller Wahrscheinlichkeit nach der Ukraine.39

Mit anderen Worten, Selenskyj hat zwei Möglichkeiten: mit Wladimir Putin zu verhandeln oder den Konflikt eskalieren zu lassen. Da seine Wette, ein Stück russisches Territorium in Kursk als Pfand zu nehmen, fehlgeschlagen ist und er keine Karten für Verhandlungen in der Hand hat, versucht Selenskyj, eine Eskalation herbeizuführen. Er will den Westen dazu bringen, einzugreifen, um den Preis zu erhöhen. Er setzt den asymmetrischen Krieg gegen Russ­land um, der im April 2024 von Kirillo Budanow erwähnt worden war. Dies erklärt die schnelle Abfolge der Ermordung von General Kirillow,40 der Drohnenangriffe auf die Zivilbevölkerung in Kasan,41 des Angriffs auf einen Frachter im Mittelmeer und der Unterbrechung der Druschba-Pipeline in die Slowakei und nach Ungarn. Dies erklärt auch seine Hartnäckigkeit, mit der er das kleine Gebiet um Sudja im Oblast Kursk hält.

Was braucht es für eine Verhandlungslösung? Kann das mit Selenskyj unter Beteiligung des Westens erreicht werden?
Die Lösung des Problems ist komplexer, als es aussieht. Erstens wird Russland nur mit einer legitimen und rechtlich anerkannten ukrainischen Regierung in Verhandlungen treten. Denn die Unfähigkeit, im Mai 2024 unter dem Kriegsrecht Präsidentschaftswahlen abzuhalten, hat Selenskyj in eine institutionelle Grauzone gebracht. Laut der ukrainischen Verfassung wäre das wahre Staatsoberhaupt der Vorsitzende der Rada (Parlament) und nicht Selenskyj. Mit anderen Worten: Ein mit Selenskyj unterzeichnetes Abkommen könnte schlichtweg ungültig sein.
Zweitens hat sich Selenskyj per Dekret selbst verboten, mit Russ­land zu verhandeln, solange es von Wladimir Putin geleitet wird.42 Auch hier steht die Gültigkeit eines mit der Ukraine geschlossenen Abkommens in Frage.

Drittens haben die Russen kein Vertrauen in mögliche westliche Partner für ein Abkommen. Im Februar 2014 hatten Frankreich, Deutschland und Polen die Vereinbarung zwischen den Maidan-Demonstranten und Präsident Janukowitsch garantiert. Sie hielten sich nicht an ihr Wort und liessen den ukrainischen Präsidenten zwei Tage später stürzen. Im Februar 2015 garantierten Frankreich und Deutschland das Minsker Abkommen. Später gaben sie zu, dass sie nie die Absicht gehabt hätten, diese Verpflichtung einzuhalten. Im März 2022 hatten Frankreich und Deutschland an den Verhandlungen in Istanbul teilgenommen und Russland aufgefordert, seine Streitkräfte als Zeichen des guten Willens aus Kiew abzuziehen – was Russland auch tat, kurz bevor die Europäer Selenskyj dazu drängten, sich aus den Verhandlungen zurückzuziehen! Frankreich und Deutschland sind ehrlose Länder, deren Wort nichts wert ist. Warum sollte Russland solchen «Partnern» vertrauen?

Viertens haben die Russen festgestellt, dass es keinen Sinn hat, mit der Ukraine zu verhandeln, wenn der Westen später kommt, um das Ergebnis der Verhandlungen zu sabotieren. Im November 2022 erklärte Claude Wild, der Schweizer Botschafter in der Ukraine, zu Recht, dass die Entscheidung, zu verhandeln, «bei den Ukrainern liegt». Das Problem ist, dass das völlig losgelöst von der Realität war.43 «Kein Abkommen zur Ukraine ohne die Ukraine» sollte zwingend sein, aber das Problem ist, dass der Westen Ende Februar 2022,44 im April 202245 und im August 202246 systematisch interveniert hat, um die Verhandlungen zwischen Russ­land und der Ukraine zu unterbrechen oder abzubrechen. Es wird also notwendig sein, dieses Vertrauen zu Russland wieder aufzubauen und ihm zusätzliche Garantien zu geben. Die Unfähigkeit unserer Diplomaten aufgrund ihrer parteiischen Haltung, Vertrauen zu schaffen, wird sich gegen die Ukraine auswirken. Wladimir Putin wird wahrscheinlich eine Abmachung mit den Amerikanern haben wollen, und es wird Trumps Aufgabe sein, Selenskyj das aufzuzwingen, was er besprochen hat.

Heute gehen die Russen davon aus, dass der Westen wie bei den Minsker Abkommen nur eine Pause einlegen will, um die Ukraine wieder zu bewaffnen und dann den Konflikt wieder aufzunehmen. Daher haben sie klar erklärt, dass sie nur in Verhandlungen eintreten werden, um eine endgültige Lösung zu erreichen. Die Russen sind also offen für die Idee, zu verhandeln, aber unter sehr strengen Kriterien.47

Die Ideen, ein «Einfrieren» des Konflikts, eine entmilitarisierte Zone, die Entsendung von Friedenstruppen und die Möglichkeit, dass die Ukraine nach 5, 10 oder 20 Jahren der Nato beitreten kann, sind für Russland ausgeschlossen. Selenskyj seinerseits will keinen Frieden; er will in die Nato eintreten. Wie Oleksej Arestowitsch, sein Berater, und die RAND Corporation im Frühjahr 2019 erklärten, ist dies der Grund, warum er die Ukraine in diesen Konflikt hineingezogen hat. Dabei sollte eine Situation geschaffen werden, in der Russland durch massive und brutale Sanktionen geschwächt würde, die seinen Zusammenbruch herbeiführen und so der Ukraine die Tür zur Nato öffnen sollten.48 Dies sollte der Höhepunkt einer langjährigen Strategie der USA sein, wie Robert Wade von der London School of Economics im März 2022 feststellte.49 Heute ist Russland nicht zusammengebrochen und stärker als je zuvor. Bis heute hat Selenskyj dieses Ziel noch nicht erreicht, das nach wie vor seine oberste Priorität ist.50 Deshalb sträubt er sich gegen den Gedanken an Verhandlungen. Er will Waffen; keine Verhandlungen.51 Er will «Frieden durch Gewalt».52 Er lehnte die Vermittlungsinitiative von Viktor Orbán ab, den er beschuldigt, ein Verbündeter Russ­lands zu sein,53 und von seinem slowakischen Amtskollegen, Robert Fico, dem er vorwirft, von Moskau bezahlt zu werden.54 Aus diesem Grund lehnt er jede Initiative ab, die ein Zeichen für eine Beruhigung der Lage setzen könnte. Dies erklärt auch Selenskyjs Ablehnung von Viktor Orbáns Vorschlag eines weihnachtlichen Waffenstillstands. Dies ist auch der Grund, warum er gegenüber Donald Trump seine Absicht erwähnt haben soll, die Ukraine mit Atomwaffen auszustatten, falls sie nicht in die Nato aufgenommen werden sollte.55

Worum geht es Selenskyj, wenn er alles ablehnt, was zum Frieden und einem Ende des Sterbens führt?
Für Selenskyj geht es darum, seine Entschlossenheit zu zeigen, weiter zu kämpfen, um Trump nicht das Gefühl zu geben, dass die Ukraine das Handtuch geworfen hat. Im März 2022 hatte der Westen ihm unbegrenzte Hilfe zugesagt, Selenskyj versucht daher, den Westen zur Verantwortung zu ziehen. Dies ist die Erklärung für seine Offensive in Kursk und die jüngste neue «Offensive», die er in diesem Sektor gestartet hat.

Das Wort «Verhandlungen» hat für Wladimir Putin eine andere Bedeutung als für Wolodymyr Selenskyj. Für Putin geht es darum, von der militärischen Situation vor Ort zu einer dauerhaften Vereinbarung zu gelangen. Für Selenskyj geht es darum, die Modalitäten einer Kapitulation und des Rückzugs Russlands aus der Ukraine zu verhandeln, um eine Vereinbarung auf der Grundlage der Grenzen von 1991 zu haben. Dies war übrigens auch der Plan für die Konferenz im Juni 2024 in der Schweiz, auf der die westlichen Länder und die Ukraine die Modalitäten des russischen Rückzugs festlegen sollten, wobei Russland während dieses Prozesses nicht zu Wort kommen durfte und nur anwesend sein sollte, um die westlichen Anordnungen entgegenzunehmen. Wie konnten unsere Diplomaten nur so dumm und willensschwach sein, sich ein solches Szenario auszudenken, das den schändlichsten Ideologien unserer Geschichte würdig ist? Eigentlich ist es nicht sehr überraschend.

Welche Rolle spielt oder könnte Donald Trump spielen?
Donald Trump tritt in diesem Kontext auf. Es ist nicht sicher, ob er die Lösung hat, aber man muss ihm den Willen zugestehen, es zu versuchen; etwas, was noch kein westlicher Führer oder Diplomat zuvor versucht hat.

Die Frage stellt sich, was Donald Trump wirklich anstrebt. Auf den ersten Blick will er das Problem an die Europäer weitergeben. Nicht nur, dass dieser Konflikt zu einem «schwarzen Loch» geworden ist, das militärische, finanzielle und diplomatische Ressourcen verschlingt, ohne Aussicht auf einen «Return on Investment», sondern er verbindet die USA auch mit dem Bild einer Niederlage. Dies ist nicht wirklich mit der von Trump angekündigten Rückkehr der amerikanischen Grösse vereinbar. Seit einigen Wochen hört man die unterschiedlichsten Ideen über den amerikanischen Ansatz für einen Verhandlungsprozess. Ein konkreter Plan ist jedoch noch immer nicht zu erkennen. Trump wird auf seine europäischen Alliierten stossen, die politisch, wirtschaftlich und militärisch nicht in der Lage sind, die ukrainischen Kriegsanstrengungen allein zu unterstützen, und die Verhandlungen mit Russland ablehnen – mit der Behauptung, dass es Russland sei, das sich weigert!56

Deshalb beginnen Politiker wie Macron in Panik zu geraten und kommen mit der Idee zurück, Truppen in die Ukraine zu entsenden.57 Ihre Verbündeten sind jedoch anderer Meinung. Bereits im Februar 2024 lehnte die Nato diese Idee ab.58 Im Dezember lehnt Donald Tusk eine Beteiligung Polens ab.59 Wie auch immer, die Idee, Truppen in die Ukraine zu schicken, um «den Frieden zu wahren», setzt voraus, dass es einen Frieden gibt, den es zu wahren gilt. Mit anderen Worten, dass es ein Abkommen mit Russland geben würde. Abgesehen davon, dass niemand weiss, wie ein solches Abkommen zustande kommen und welchen Inhalt es haben würde, würde dies bedeuten, dass Russland die Idee einer westlichen Militärpräsenz auf ukrainischem Territorium akzeptieren würde. Nun wissen wir aber bereits, dass Wladimir Putin diese Idee mehrfach abgelehnt hat.

In jedem Fall hat die westliche Diplomatie die Ukraine in eine völlige Sackgasse geführt. Die Sicherheitspolitik eines Landes oder einer Einheit ist das Produkt einer Aussenpolitik und einer Verteidigungspolitik. Im Falle der EU sollte die Nato für den Verteidigungsbereich zuständig sein, während die Gemeinsame Aussenpolitik vom Europäischen Auswärtigen Dienst (EEAS) wahrgenommen werden sollte. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Nato für einen Konflikt wie den in der Ukraine nicht geeignet ist und dass der EEAS sich als völlig abwesend auf der internationalen Bühne erwiesen hat. Die Unangemessenheit des EEAS wird durch Sergej Lawrow veranschaulicht, der behauptet, dass «die EU zu einer Art Nato im politisch-militärischen Sinne geworden ist.»60

Resultat: Die Europäer verbringen mehr Zeit damit, sich auf einen Plan zu einigen, als sich darum zu bemühen, die russischen Forderungen einzubeziehen. Dieses Fehlen von Überlegungen und einer «Strategie» hat zur Folge, dass die einzige Lösung für Russland in einem entscheidenden Sieg über die Ukraine besteht. Dieser entscheidende Sieg über die Ukraine könnte Russland jedoch zu einer territorialen Besetzung drängen, die es ursprünglich nicht wollte.

Daher könnte der Konflikt unabhängig davon, was Trump tun wird, an einem Gleichgewichtspunkt enden, der durch das Zusammentreffen der gegenseitigen Interessen der Ukraine und Russ­lands definiert wird. Russland hat ein Interesse daran, dass der Konflikt endet, bevor es gezwungen ist, den westlichen Teil der Ukraine zu besetzen; und die Ukraine muss aufhören, bevor ihre eigentliche Existenz bedroht ist.

Lassen Sie uns noch auf den Nahen Osten zu sprechen kommen. Lässt sich hier erkennen, welchen Weg Trump einschlagen könnte, um den Konflikt zu beenden?
Nein, nicht wirklich. Es ist bekannt, dass Donald Trump Israel bedingungslos unterstützt und die Palästinenser als Terroristen betrachtet.61 Mit einer Beruhigung, die auf einem Dialog zwischen Israel und Palästina beruht, ist daher nicht zu rechnen.

Man kann hingegen erwarten, dass Trump versuchen wird, die USA aus diesem Konflikt herauszuführen, damit er sich auf seine Aufgabe des wirtschaftlichen Wiederaufbaus konzentrieren kann. Die Erfahrungen aus Trumps erster Amtszeit haben jedoch gezeigt, dass er im Nahen Osten keine mässigende Rolle gespielt hat. Seine Schläge gegen Syrien und die Ermordung von General Soleimani hatten eindeutig dazu beigetragen, die Spannungen in der Region zu verschärfen.

Medien berichten, die syrische Regierung und Russland als Unterstützer Syriens seien von der Offensive der HTS überrascht worden. Kann man das so sehen?
Nein, es sieht nicht so aus, als wäre es eine grosse Überraschung gewesen. Laut der Erklärung des russischen Aussenministeriums vom 8. Dezember 2024 scheint es, dass die syrische Regierung mit der Türkei oder der HTS über eine gewaltfreie Machtübergabe verhandelt hat.62 Anscheinend wollte Baschar al-Assad einen neuen Krieg vermeiden und zog es vor, die Macht abzugeben. Ich erinnere daran, dass Russland und Syrien im Februar 2012 die gleiche Lösung vorgeschlagen hatten, aber der Westen lehnte ab, da er davon überzeugt war, dass Assad innerhalb wenigerWochen gestürzt werden würde.63 Diesmal versuchte Baschar al-Assad nicht zu fragen: Er ist gegangen.

Im Gegensatz dazu scheint das Ausmass der Offensive der HTS und der Türkei alle überrascht zu haben. Es scheint, dass die Türkei ursprünglich das Ziel hatte, eine Pufferzone entlang ihrer Grenze zu errichten und die Kurden weiter nach Osten und Süden zu drängen. Dies war wahrscheinlich auch der Grund, warum die Türkei 2023 und 2024 mehrmals versuchte, einen Dialog mit Baschar al-Assad aufzunehmen. Dieser weigerte sich jedoch konsequent, mit Erdoğan zu sprechen, solange die Türkei Teile des syrischen Territoriums besetzt hielt. Tatsächlich nahm Baschar al-Assad die gleiche Haltung ein wie Selenskyj gegenüber Russland! Dieser fehlende Dialog zwischen den beiden Ländern ist wahrscheinlich das, was zur aktuellen Situation geführt hat. Da die gleichen Ursachen die gleichen Wirkungen haben, ist es wahrscheinlich die gleiche Entwicklung wie die, die wir in der Ukraine beobachten können.

Will der Westen in Syrien durch die Unterstützung der HTS und der neuen Regierung Russ­land schwächen?
Nein, nicht wirklich. Die Ukraine hat natürlich versucht, eine zweite Front in Syrien zu eröffnen,64 und ihre Spezialkräfte griffen im Juni russische Streitkräfte an65 und wiederholten die Operation im September.66 Ausserdem war der ukrainische Geheimdienst an der Ausbildung der HTS-Terroristen beteiligt,67 mit denen die Ukraine enge Verbindungen unterhält.68 Es kam jedoch nicht zu Zusammenstössen zwischen der HTS und den russischen Streitkräften. Im Gegenteil, wir haben gesehen, dass die HTS eine Konfrontation mit dem russischen Militär vermieden hat. In der Folge scheinen die HTS und die Türkei entgegen allen Erwartungen die russischen Stützpunkte in Syrien beibehalten zu wollen.69 Aus diesem Grund reisten der deutsche und der französische Aussenminister nach Damaskus, um (erfolglos) den Abzug der russischen Stützpunkte zu fordern.70

Für den Westen besteht eindeutig die Absicht, den Einfluss Russ­lands zu schwächen. Im übrigen sah dies die von der RAND Corporation im April 2019 festgelegte Strategie vor, die seitdem in jeder Hinsicht umgesetzt wurde.

Auch wenn der Regimewechsel in Damaskus auf den ersten Blick ein Rückschlag für Russland ist, zeigt eine genauere Analyse, dass dies wahrscheinlich nicht der Fall ist. Russland, der Iran und die Türkei verfügen alle über eine robuste Diplomatie, deren Wirksamkeit sich nun zu zeigen scheint.

Welche Entwicklung lässt sich in Syrien seit dem Ende von Assads Regierung beobachten, und welche Rolle spielt Israel darin?
Israel fährt wie üblich damit fort, militärische Einrichtungen seines neuen Verbündeten Syrien anzugreifen.71 Die neue syrische Regierung hat erklärt, dass sie derzeit keine Feindseligkeiten gegen Israel hegt, und ist der Ansicht, dass diese Angriffe immer noch das «Regime» von Assad betreffen. In der Tat ist Syrien noch nicht in der Lage, auf diese Angriffe zu reagieren. Es hat den westlichen Delegationen jedoch deutlich gemacht, dass seine Geduld Grenzen hat.72 Tatsächlich hat seine Regierung bereits einen Brief an den Uno-Sicherheitsrat gerichtet, in dem sie den Rückzug der israelischen Truppen von syrischem Territorium fordert.73

Annalena Baerbocks Aufrufe zu einem «inklusiven» Syrien zeigen den infantilen Charakter unserer Führer.74 Indem sie zu Gesprächen mit der Führung der HTS (die immer noch als terroristische Organisation gilt)75 eilte, zeigte die deutsche Ministerin, dass die Bezeichnung «terroristisch» einen rein politischen Wert hat und nicht auf Fakten beruht. Dies bedeutet, dass die «Hamas», die (nur) vom Westen als terroristisch bezeichnet wird, sehr wohl ein Partner für Verhandlungen über eine Lösung in Palästina sein könnte. Der Begriff «Terrorist» hat hier nur die Funktion, jegliche Verhandlungen zu verhindern. Dies wird noch von Moran Gaz, dem ehemaligen Leiter der Abteilung für Sicherheitsangelegenheiten bei der Staatsanwaltschaft des südlichen Bezirks in Israel, bestätigt, der erklärte, dass es am 7. Oktober keinen einzigen Fall von Vergewaltigung durch Palästinenser gegeben habe.76 Hinzu kommt, dass das einzige Baby, das in Palästina im Ofen verbrannt wurde, von Israelis selbst verbrannt wurde,77 dass es am 7. Oktober 2023 keine 40 geköpften Babys gab78 und dass die meisten getöteten Israelis von Israelis selbst getötet wurden.79

Mit anderen Worten: Frau Baerbocks Unterstützung für die Verbrechen gegen die Bevölkerung von Gaza beruht ausschliesslich auf den Lügen der israelischen Desinformation. Dies ist nicht sehr überraschend, da sie Gruppen unterstützt, die von der Uno als Terroristen bezeichnet werden.

Gibt es einen Plan Syrien aufzuteilen?
Ich weiss nichts, von einem solchen Plan. Der einzige Plan zur Teilung Syriens, den ich kenne, ist der von Oded Yinon in den 1980er Jahren erstellte Plan, der die Grundlage für einen Bericht von 1996 mit dem Titel «A Clean Break» für Benjamin Netanjahu bildete. Er sah die Neugestaltung des Nahen Ostens und die Balkanisierung Syriens vor. Diese Idee wurde von den Amerikanern aufgegriffen, und in einem Bericht der Defense Intelligence Agency vom 5. August 2012 wurden die Einzelheiten erläutert, wobei es hiess, dass in Syrien ein «salafistisches Fürstentum» geschaffen werden sollte.80 Eine Situation, die von Seiten Israels seltsam erscheinen mag, es sei denn, man weiss, dass der jüdische Staat lieber den Islamischen Staat an seiner Grenze haben wollte als ein mit dem Iran verbündetes Syrien!81

Aus dieser Sicht kann man sagen, dass Benjamin Netanjahu erreicht hat, was er wollte. Aber er ist wahrscheinlich von der Charybdis in die Skylla gefallen, denn in der Türkei kursiert ein neuer Slogan: «Gestern Hagia Sophia, heute Umayyaden, morgen Al-Aqsa». Die Beharrlichkeit Israels und die Unterstützung seiner Verbündeten wie den USA, Deutschland oder der Schweiz, die Staaten der Region zu zerstören, indem sie ihre innere Spaltung fördern, stösst langsam an ihre Grenzen.

Die Dynamik, die sich im «Rest der Welt» entwickelt hat und die durch Israels Kriegsverbrechen und seine wiederholten Verstösse gegen das Völkerrecht gefördert wurde, hat eine dauerhafte Tendenz zur Ablehnung Israels geschaffen. Dieser Trend könnte, wie ich in meinem Buch «Die Niederlage des Siegers» vor dem Risiko gewarnt habe, zur Bildung einer Koalition führen, die darauf abzielt, Israel aus der Region zu entfernen. Auch wenn man dies vielleicht bedauern könnte, würde diese Möglichkeit eine gewisse Stabilität in die Region bringen und es den verschiedenen Ländern der Region ermöglichen, normale Beziehungen untereinander zu unterhalten.

Ist die HTS ein Gegner der Hisbollah und des Iran?
Ich denke nicht, dass wir die Dinge so sehen sollten. Zunächst einmal befinden wir uns im Nahen Osten. Westliche Logiken gelten hier nicht. Die Logik «Die Freunde meiner Freunde sind meine Freunde» ist leicht zu verstehen. Wenn jedoch das Wort «Feind» in dem Dreieck verwendet wird, versteht ein westlicher Geist nichts mehr. Im Nahen Osten kann dies jedoch funktionieren.

Die neuen Behörden in Damaskus und der Iran versuchen, den Dialog wieder aufzunehmen.82 Der Iran wird Ende Januar ein Abkommen über strategische Partnerschaft mit Russland unterzeichnen.83 Die Türkei bleibt ein Partner Russlands und versucht, den Handel mit dem Iran zu steigern.84

Die Dynamik der BRICS-Staaten ist natürlich kein Militärbündnis, aber anders als in der Europäischen Union ist sie ein Ausdruck einer Interessengemeinschaft. Da sie über keine Zwangsmittel verfügt, vereint sie ihre Mitglieder in einem auf Kooperation ausgerichteten Ansatz. Aus diesem Grund hat der Zusammenbruch Syriens nicht zu einer allgemeinen Konfrontation geführt, auch wenn die Übergriffe und Verbrechen, die die HTS mit dem Segen des Westens begangen hat, sehr sehr sehr zahlreich sind.

Bemerkenswert an dieser Situation ist eine Überlegung des American Economic Institute, in der es heisst: «Die USA müssen sich darauf vorbereiten, in Syrien Türken zu töten».85 Die Israelis beginnen, die Gefahr zu erkennen, denn in einem Bericht der Nagel-Kommission der israelischen Regierung vom 6. Januar 2025 heisst es, Israel solle sich darauf vorbereiten, gegen die Türkei zu kämpfen.86 Wiedereinmal ist es das «westliche Lager», wo die Probleme auftauchen!

Wir beobachten den langsamen Niedergang eines Landes, das sich systematisch geweigert hat, das Völkerrecht zu respektieren, das wahrscheinlich das Land ist, das seit 1945 die meisten Kriegsverbrechen und Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht begangen hat. Israel hat nie die Respektabilität gefunden, die es hätte haben sollen, weil es sich systematisch als über dem Recht stehend betrachtet hat. Zu dieser Feststellung kommt die wachsende Verachtung der übrigen Welt gegenüber einer westlichen Welt hinzu, die sich ebenfalls als über dem Gesetz stehend betrachtet, die sich das Recht herausnimmt, überall auf der Welt unschuldige Menschen abzuschlachten, und die jammert, wenn der Terrorismus sie im Gegenzug trifft.
Der Westen und Israel haben regionale Chaoszustände geschaffen, um ihre eigenen Ambitionen und Interessen zu befriedigen. Es gibt nicht ein einziges Terrorismusopfer, das nicht die Folge unserer Aussenpolitik ist. Terrorismus ist kein unabwendbares Schicksal. Im Falle des islamistischen Terrorismus ist er immer eine Antwort auf unsere Handlungen. Wenn wir als Bürger aufmerksamer und strenger auf die Handlungen unserer Regierungen achten würden, hätten wir diese Tragödien vermeiden können. Unsere Richter, Politiker und Journalisten sind Individuen, die Mittelmässigkeit, Korruption und Dummheit harmonisch miteinander verbinden. Das hat zu der Situation geführt, in der wir uns zu Beginn des Jahres 2025 befinden.

Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser

*Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschul­institut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.


www.reuters.com/world/trump-criticizes-ukraines-use-us-missiles-attacks-deep-into-russia-2024-12-12/
www.wsj.com/world/europe/u-s-allows-ukraine-to-strike-inside-russia-with-american-weapons-72a3f8a1
kyivindependent.com/blinken-up-to-ukraine-if-it-decides-to-use-us-weapons-to-strike-inside-russia/
kyivindependent.com/zelensky-on-kursk-incursion/
www.iiss.org/online-analysis/missile-dialogue-initiative/2023/10/ukraine-targets-russian-airfields-with-us-supplied-atacms-missile/
www.aa.com.tr/en/americas/us-declines-to-comment-on-reports-of-us-approval-for-ukraine-to-use-long-range-missiles/3397200
www.ft.com/content/0da7d91d-6836-4fad-a636-740de2381ee6
www.wsj.com/articles/ukraines-lack-of-weaponry-and-training-risks-stalemate-in-fight-with-russia-f51ecf9
thehill.com/opinion/international/5060257-zelensky-ukraine-corruption-waste/
10 apnews.com/article/ukraine-war-biden-draft-08e3bad195585b7c3d9662819cc5618f
11 www.csce.gov/briefings/decolonizing-russia-a-moral-and-strategic-imperative/
12 www.rand.org/pubs/research_reports/RR3063.html
13 www.defense.gov/News/Transcripts/Transcript/Article/3904376/pentagon-press-secretary-maj-gen-pat-ryder-holds-a-press-briefing/
14 www.nytimes.com/2022/06/06/world/europe/ukraine-advanced-weapons-training.html
15 www.nytimes.com/2024/12/27/world/europe/ukraine-russia-missiles-trump.html
16 newsukraine.rbc.ua/news/french-mirage-2000-aircraft-are-not-option-1695299450.html
17 mil.in.ua/en/news/ukrainian-pilots-complete-training-on-mirage-2000-5fs-in-france/
18 www.wsj.com/articles/ukraines-lack-of-weaponry-and-training-risks-stalemate-in-fight-with-russia-f51ecf9
19 edition.cnn.com/2022/03/15/europe/ukraine-nato-zelensky-shift/index.html
20 www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2023/07/12/remarks-by-president-biden-on-supporting-ukraine-defending-democratic-values-and-taking-action-to-address-global-challenges-vilnius-lithuania/
21 defensemirror.com/news/32543/Ukraine_Proposes_Demilitarized_Zone_Around_Zaporizhzhia_NPP_Russian_Response_Awaited
22 www.bbc.com/news/world-europe-60629175
23 www.dw.com/en/ukraine-zelenskyy-condemns-nato-over-no-fly-zone-decision-as-it-happened/a-61007081
24 www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2023/12/13/remarks-by-president-biden-and-president-zelenskyy-of-ukraine-in-joint-press-conference-2/
25 thehill.com/opinion/international/5060257-zelensky-ukraine-corruption-waste/
26 www.thenation.com/article/world/ukraine-and-the-end-of-magical-thinking/
27 www.firstpost.com/world/russia-doesnt-want-peace-eus-top-diplomat-dismisses-chatter-about-ukraine-peace-deal-13845025.html
28 www.iol.co.za/sundayindependent/analysis/putin-hints-at-readiness-for-talks-to-end-ukraine-war-61501e12-300a-40b2-baf2-31f8eaae63ec#google_vignette
29 youtu.be/HkbwZCqn7BY
30 myrotvorets.center/criminal/lipp-alina/
31 norberthaering.de/propaganda-zensur/berufsverbhand-information-biblio/
32 www.kyivpost.com/opinion/38140
33 www.france24.com/en/europe/20240809-russia-must-feel-the-war-zelensky-says-as-fighting-continues-on-russian-territory
34 kyivindependent.com/uks-starmer-urges-g7-to-intensify-pressure-on-putin-with-sanctions-military-aid/
35 kyivindependent.com/trump-opposes-ukraine-launching-us-missiles-in-russia/
36 euromaidanpress.com/2024/06/21/trump-vows-not-to-send-troops-to-ukraine/
37 en.kremlin.ru/events/president/news/74285
38 www.reuters.com/world/trumps-plan-ukraine-comes-into-focus-territorial-concessions-nato-off-table-2024-12-04/
39 english.nv.ua/nation/possible-peace-talks-between-russia-and-ukraine-orban-says-war-will-end-in-2025-50476631.html
40 time.com/7203062/igor-kirillov-russia-ukraine-bombing-explained/
41 apnews.com/article/russia-ukraine-war-drones-kazan-d235822b758fd4f3540270bc324a7b77
42 www.president.gov.ua/documents/6792022-44249
43 www.rts.ch/play/tv/redirect/detail/13567586?startTime=508
44 www.politico.eu/article/eu-ukraine-russia-funding-weapons-budget-military-aid/
45 www.pravda.com.ua/eng/news/2022/05/5/7344206/
46 Tom Balmforth & Andrea Shalal, « UK’s Boris Johnson, in Kyiv, warns against ‹flimsy› plan for talks with Russia », Reuters, 24 August 2022 (https://www.reuters.com/world/europe/uks-johnson-kyiv-warns-against-flimsy-plan-talks-with-russia-2022-08-24/)
47 www.iol.co.za/sundayindependent/analysis/putin-hints-at-readiness-for-talks-to-end-ukraine-war-61501e12-300a-40b2-baf2-31f8eaae63ec#google_vignette
48 youtu.be/1xNHmHpERH8
49 blogs.lse.ac.uk//2022/03/30/why-the-us-and-nato-have-long-wanted-russia-to-attack-ukraine/
50 www.theguardian.com/world/2024/dec/22/volodymyr-zelenskyy-tells-ukraines-diplomats-to-fight-for-nato-membership
51 www.president.gov.ua/en/news/prezident-nam-potribna-dostatnya-kilkist-zbroyi-ne-pidtrimka-94285
52 www.pravda.com.ua/eng/news/2024/11/7/7483391/
53 kyivindependent.com/keep-the-jokes-zelensky-criticizes-orbans-attempts-at-mediation/
54 kyivindependent.com/zelensky-criticizes-fico/
55 kyivindependent.com/zelensky-says-he-told-trump-that-either-ukraine-will-join-nato-or-pursue-nuclear-weapons/
56 https://www.vie-publique.fr/discours/296746-emmanuel-macron-06012025-politique-etrangere
57 https://uk.ambafrance.org/Ukrainians-must-be-given-the-strongest-possible-hand-Minister
58 www.bbc.com/news/world-europe-68417223
59 www.reuters.com/world/europe/tusk-macron-hold-ukraine-talks-with-eye-troop-security-guarantee-2024-12-12/
60 mid.ru/en/press_service/photos/meropriyatiya_s_uchastiem_ministra/1981521/
61 www.nbcnews.com/news/trumps-plan-quell-protests-deport-hamas-radicals-rcna166168
62 mid.ru/en/foreign_policy/news/1986189/
63 www.washingtonpost.com/news/worldviews/wp/2015/09/15/the-west-dismissed-russian-offer-to-help-remove-assad-in-2012-says-top-diplomat/
64 https://english.iswnews.com/36303/ukraine-tries-to-open-new-front-against-russia-in-syria/
65 www.kyivpost.com/post/33695
66 www.kyivpost.com/post/39074
67 www.kyivpost.com/post/43117
68 thecradle.co/articles/hundreds-of-al-qaeda-militants-arrive-in-ukraine-from-syria
69 www.europeaninterest.eu/despite-europes-displease-russia-is-to-keep-its-military-presence-in-syria/
70 www.auswaertiges-amt.de/en/aussenpolitik/laenderinformationen/syrien-node/baerbock-syria-2692372
71 https://www.voanews.com/a/israel-continues-striking-syrian-army-positions/7922874.html
72 www.alquds.co.uk/الشرع-لزواره-عن-إسرائيل-الانتهازية-عب/
73 documents.un.org/doc/undoc/gen/n24/386/65/pdf/n2438665.pdf
74 www.voanews.com/a/french-and-german-foreign-ministers-visit-syria/7922980.html
75 news.un.org/en/story/2024/12/1158126
76 www.middleeastmonitor.com/20250106-no-rape-allegations-filed-from-7-october-reaveals-israeli-prosecutor/
77 youtu.be/Bwy-Rf15UIs?t=1498
78 Mehmet Solmaz & Enes Calli, « Despite refutations from Israeli military, headlines that Hamas ‹beheaded babies› persist », Anadolu, 11 octobre 2023 (mis à jour 12 octobre 2023) (www.aa.com.tr/en/middle-east/despite-refutations-from-israeli-military-headlines-that-hamas-beheaded-babies-persist/3016167)
79 w.ynet.co.il/yediot/7-days/time-of-darkness?externalurl=true
80 www.judicialwatch.org/wp-content/uploads/2015/05/Pg.-291-Pgs.-287-293-JW-v-DOD-and-State-14-812-DOD-Release-2015-04-10-final-version11.pdf
81 www.timesofisrael.com/yaalon-i-would-prefer-islamic-state-to-iran-in-syria/
82 www.timesofisrael.com/iran-says-it-is-in-direct-contact-with-groups-in-syrias-new-leadership/
83 www.newsweek.com/russia-iran-new-treaty-donald-trump-inauguration-2005782
84 www.dailysabah.com/business/economy/turkiye-iran-aim-to-reach-trade-volume-of-30b-minister
85 www.aei.org/op-eds/the-united-states-needs-to-prepare-to-kill-turks-in-syria/
86 europeanconservative.com/articles/news/government-report-israel-must-get-ready-for-war-with-turkey/

Erkundungen vor Ort in Syrien

von Karin Leukefeld, freie Journalistin und Nahost-Expertin

Der Grenzübergang Masnaa, über den man aus dem Libanon nach Syrien gelangt, ist belagert. Autos parken kreuz und quer, Menschenmassen strömen in das viel zu kleine Abfertigungsgebäude, in dem die Ausreise per Stempel dokumentiert wird. Für Inhaber eines ausländischen Passes verläuft die Abfertigung zügig, dann geht es zu Fuss über die Grenze, vorbei an den Fahrzeugkontrollen, bis auf der anderen Seite der Fahrer aus Damaskus winkt und schnell das Gepäck an sich nimmt

Weiter geht es zu Fuss durch die Autoschlangen bis zu dem Auto, das der Fahrer hinter einem Laster geparkt hat.

«Mabruk Syria – Herzlichen Glückwünsch Syrien», strahlt der Fahrer, als er das Gepäck verstaut hat. Zügig fährt er an den langen Autoschlangen vorbei, die sich beidseitig der Strasse stauen. Richtung Libanon stehen Lastwagen Stossstange an Stossstange und warten auf die Abfertigung. Richtung Syrien stehen Autos mit syrischen und libanesischen Nummernschildern. Hier wechselt Schmuggelware den Besitzer: Kartons mit Kaffee, Milchpulver, Schokolade, Plastikflaschen mit Benzin gefüllt, leere Gasflaschen werden gegen gefüllte Gaszylinder getauscht. Viel Geld wechselt innerhalb kürzester Zeit den Besitzer, dann fahren tiefliegende, vollbepackte Fahrzeuge Richtung Syrien und die libanesischen Fahrzeuge kehren um in den Libanon. «Alles ist zu haben», versichert der Fahrer und sagt, das Leben sei schlagartig besser geworden mit dem Abgang von Assad und «seinen Leuten», die Hals über Kopf geflohen seien. «Alles wird besser».

Der Mangel in Syrien war seit der Corona-Sperre (2020/21) und dem Inkrafttreten US-amerikanischer Finanzsanktionen immer grösser geworden. Das sogenannte «Caesar-Gesetz» des US-Finanzministeriums drohte jedem mit finanziellen Strafen, der mit Syrien Geschäfte machen und in dem Land investieren wollte. Das galt für Einzelpersonen, für Unternehmen und für Staaten. Die Besetzung der syrischen Ölfelder im Osten des Landes durch US- und kurdische Truppen trieb Strom-, Heiz- und Transportkosten in die Höhe, was sich auf den Preis bis zu jeder einzelnen Tomate niederschlug.

Die ständig steigenden Steuern, die von den Finanzbehörden mit harter Hand eingetrieben wurden, sorgten für massenhafte Geschäftsschliessungen und trieben die Arbeitslosigkeit in die Höhe. Die Bürger erhielten im Gegenzug nichts für die gezahlten Steuern. Die Assad-Regierung hatte nicht nur Taschen von Profiteuren zu füllen, für militärische Unterstützung und geliefertes Öl waren Schulden an Russland und Iran zurückzuzahlen. Bis auf die Grenzen zu Jordanien und Libanon konnte Syrien keine seiner Grenzen souverän kontrollieren. Während die von der Türkei und den USA kontrollierten Teile des Landes im Nordosten und Nordwesten florierten, wurde die Wirtschaft des souveränen Syriens erstickt.

«Wir haben jetzt KitKat»
Nun wird das Land mit Menschen und Waren geflutet. Zehntausende von Syrern nutzen täglich die Chance, ohne jegliche Kontrolle auf syrischer Seite in ihre Heimat zurückzukehren: junge Männer, die dem Militärdienst entkommen waren, Familien, die nach ihren Häusern sehen wollen, junge Leute, die sich nach vielen Jahren auf ein Wiedersehen mit Verwandten und Freunden freuen.

Die Abwesenheit von Grenze und Zoll ist ein Fest für einen völlig unkontrollierten Markt. Die alte Autorität ist verschwunden, und die neuen Machthaber haben ein neues Ordnungs- und Sicherheitssystem noch nicht etabliert. Der ausgehungerte syrische Markt ist wie ein Schwamm und saugt alles auf, was über die unbewachten Grenzen hineinkommt. «Wir haben jetzt KitKat», grinst J., der die Autorin seit Jahren in Syrien begleitet. Bei einem Rundgang durch Bab Touma in der Altstadt von Damaskus bleibt er vor zahlreichen Marktständen stehen, die mit Süssigkeiten überfüllt sind. «Alles, was auf diesen Ständen liegt, kommt aus der Türkei», sagt er und hebt Kekse und Schokolade in die Höhe. «Wir haben hier in Syrien leckere Kekse, gute Schokolade und Süssigkeiten. Aber selbst wenn unsere Produkte billiger sind, kaufen die Leute jetzt die Sachen aus der Türkei. KitKat, Hurriya, Freiheit! Jeder kann machen, was er will.»
Brot ist um ein Vielfaches teurer geworden. Bisher erhielten Familien je nach Grösse täglich mindestens zwei Rapta «Chubus», wie das Fladenbrot heisst, das in Syrien als Grundnahrungsmittel gilt. Ein Rapta besteht aus sieben Fladenbroten. Die Bäckereien werden derzeit nur mit einer bestimmten Menge Mehl versorgt. Wenn das aufgebraucht ist, wird die Bäckerei für den Rest des Tages geschlossen. Lange Schlangen bilden sich schon früh am Morgen, um Brot zu erhalten, für das nun 4000 syrische Pfund pro Rapta bezahlt werden muss. Bisher kostete ein Rapta 500 syrische Pfund.

Hohe Preise, unsichere Versorgung
Die neuen Machthaber haben die bisherigen staatlichen Subventionen auch für Benzin, Gas und Heizöl gestoppt. Geschmuggeltes Benzin aus dem Libanon wird von Verkäufern, die vermutlich für Unternehmer arbeiten, in grossen Mengen angeboten. Der belebte, zentrale Abassiyeenplatz im Osten der Stadt ist zu einem Umschlagplatz für alle Sorten von Energieträgern geworden. Vollkommen ungeschützt wird aus einem Tankwagen Gas in Gasflaschen umgefüllt, das die Syrer zum Kochen und Heizen brauchen. Daneben steht ein kleinerer Tankwagen, der «Masud-Heizöl» abfüllt, das die Syrer im Winter für Öfen oder zum Betrieb von Generatoren brauchen. Daneben sitzt ein Mann mit seinem Sohn, der Dutzende Plastikflaschen mit Benzin anbietet, und schliesslich gibt es einen grossen Gemüsestand.
Die Preise für viele Lebensmittel schwanken von Tag zu Tag, ebenso der Umtauschkurs für einen US-Dollar. Jede Währung solle fortan in Syrien akzeptiert werden, heisst es. Aus Aleppo berichtet ein Bekannter, dass die Bevölkerung aufgefordert worden sei, ihre syrischen Pfund in US-Dollar oder in türkische Lira umzutauschen, weil die syrische Währung bald nicht mehr akzeptiert werde.

Kurz vor Weihnachten tauchen auf den Strassen von Damaskus neue Sicherheitskräfte auf. Es gibt vermummte Kämpfer von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), der «Allianz zur Befreiung von Al-Sham» (Levante), die von der «Syrischen Heilsregierung» in Idlib geschickt wurden, einer von HTS eingesetzten Regierung. Es gibt Strassenpolizisten in hellvioletten Hemden und Freiwillige, die eine gelbe Sicherheitsweste tragen und versuchen, Ordnung herzustellen. Doch nichts kann den dichten Verkehr auf den Strassen von Damaskus besser regeln, als die Syrer selbst. Sie schaffen das mit Hupen und waghalsigen Fahrmanövern im Zickzack zwischen Fussgängern, Mopeds, Lieferwagen, Taxis und Verkaufsständen, die hin und her geschoben werden. Der sichtbare Alltag der Menschen geht weiter seinen gewohnten, unübersichtlichen Gang. Doch vieles und viele sieht man nicht.

Auf dem Qassioun
Nach dem Umbruch fehlt eine übersichtliche Ordnung in der Millionenstadt Damaskus. Behörden wie das Einwohnermeldeamt Zablatani, das gerade neu eröffnet und mit neuesten Computersystemen ausgestattet worden war, wurde zerstört, geplündert und in Brand gesetzt. Die Versorgung mit Strom ist weiter unzureichend, im Umland von Damaskus erhalten Haushalte täglich nur alle fünf bis sechs Stunden für eine Stunde Strom. Millionen Angestellte und Rentner wissen nicht, ob sie am Ende des Monats noch ihr Gehalt oder ihre Rente bekommen werden. Unklar ist auch, wie es mit Schulen und Universitäten nach den Ferien weitergehen wird.

Dennoch nutzen viele die Wege, die nicht mehr für sie versperrt sind. Ein Weg führt die Menschen auf den Qassioun, den Hausberg, der sich mehr als 1100 Meter über der syrischen Hauptstadt erhebt. Vor dem Krieg (seit 2011) war der Berg ein beliebter Ausflugsort. Entlang einer Strasse, die unterhalb des Gipfels rund um den Berg herumführt, waren kleine Cafés, Restaurants und Aussichtsplätze, wo die Bevölkerung an Sommerabenden, an Feiertagen und am Wochenende gern die Aussicht über die Stadt und die frische Luft genoss. Während des Fastenmonats Ramadan zogen viele in der Nacht auf den Berg, um dort ihr Frühstück einzunehmen, bevor das tägliche Fasten begann. Mit Beginn des Krieges wurde die Strasse gesperrt. Der Qassioun wurde militärische Sperrzone, Cafés und Restaurants verwaisten. Die Basis der syrischen Armee an der Rückseite des Berges wurde erweitert, Radar- und Telekommunikationstürme wurden gebaut. In den Jahren nach 2012, als bewaffnete Gruppen Damaskus aus den Vororten der östlichen Ghouta beschossen und von dort in die Stadt eindringen wollten, feuerte die Armee vom Qassioun auf deren Stellungen in Jobar, Harasta, Douma und Arbeen.

Nun ist der Weg auf den Qassioun frei, und Menschenmassen strömen mit Autos, Motorrädern oder auch zu Fuss die Strasse zum Berg hinauf. Oben herrscht Chaos. Fahrzeuge parken kreuz und quer, Händler vermieten Tische und Stühle an die Besucher, andere haben bereits begonnen, das Fundament für neue Gebäude zu bauen. Mit Zement, Steinen, Holz, Blech und Plastik werden Hütten und Plattformen errichtet, um Getränke oder Speisen anzubieten, um neue Cafés zu bauen. Es gibt keine Regeln. Wer zuerst kommt, baut zuerst.
HTS-Sicherheitskräfte der Militärpolizei und des Innenministeriums beobachten das Geschehen. Die Militärpolizei trägt khakifarbene Uniformen, die Kräfte des Innenministeriums sind schwarz gekleidet. Nicht alle sind bewaffnet, meist bewegen sie sich in Vierergruppen und haben ihre Gesichter vermummt.

Plötzlich gibt es Bewegung unter den Menschen. Einige der Sicherheitskräfte rennen zu einem grossen Bagger, der angefangen hat, Erdreich auszuheben. Vermutlich will jemand an der Stelle ein Gebäude errichten, doch die HTS-Kräfte unterbinden das. Einige Männer, deren Herkunft unklar ist, kommen mit Hacken und Schaufeln und zerstören die frisch gebauten Plattformen und Mauern. Die Mehrheit der Leute sieht dem Geschehen teilnahmslos zu, einige unterstützen das Vorgehen der Sicherheitskräfte. «Richtig so», sagt ein Mann. «Dieses wilde Bauen muss sofort gestoppt werden.»

Die Rückfahrt führt um den Gipfel des Qassioun hinunter zur Stadt. Die Militärbasis der syrischen Streitkräfte liegt verlassen. Die Autorin wirft einen Blick auf das Handy, um zu prüfen, ob Nachrichten eingegangen sind. Der syrische Anbieter MTN ist verschwunden, stattdessen gibt es einen neuen, unbekannten Anbieter namens «Cellcom». Das SMS Signal kündigt eine neue Nachricht an. Darin weist der deutsche Vertragspartner darauf hin, dass man in einem neuen Land angekommen sei. «Willkommen in Israel», steht in der Nachricht. «Um Daten nutzen zu können (zum Beispiel Internet oder E-Mail), benötigst Du eines der folgenden Angebote». Mitten in Syrien, mitten in Damaskus ist ein israelischer Mobilfunkanbieter aktiv. Hurriya, Freiheit, jubeln die Massen. Die Freiheit des Landes, die Souveränität Syriens, ist schon verkauft.

Erstveröffentlichung auf Globalbridge: https://globalbridge.ch/erkundungen-vor-ort-in-syrien
01.01.2025

Die Galapagos-Inseln, Unesco-Weltnaturerbe, sollen US-Militärstützpunkt werden

Präsidentschaftswahlen in Ecuador

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko

Zeitgeschehen im Fokus Sie verfolgen die Entwicklung in Lateinamerika, so auch in Ecuador, schon länger. Wie wird das Land regiert?
Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Ecuador wird aktuell von einem Übergangspräsidenten, Daniel Noboa, regiert. Er ist Spröss­ling einer Oligarchenfamilie, die durch Bananenhandel zu Reichtum gelangt ist. Sie hatte riesige Bananenplantagen, wovon sich unter anderem der Begriff «Bananenrepublik» ableitet. Sein Vater gilt als der reichste Mann Ecuadors. Daniel Noboa ist in Miami, in den USA, geboren und mit 35 Jahren zum Präsidenten gewählt worden. Es war zu erwarten, dass er eine Politik im Interesse der USA, aber auch der Grossgrundbesitzer, der Oligarchen, führt.

Am 10. Februar sind Präsidentschaftswahlen. Ist ein Regierungswechsel realistisch?
Das ist offen. Diese Wahl ist jedoch für den weiteren Kurs des Landes entscheidend. Daniel Noboa ist seit gut einem Jahr Interimspräsident. Der Grund dafür war der Rücktritt seines Vorgängers Guillermo Lasso. Er war rechts, das heisst ausgerichtet auf die USA und neoliberal. Daniel Noboa stellte sich für die verbleibenden anderthalb Jahre zur Wahl und gewann knapp gegen die linke Correîsta, Luisa González.

Im Westen haben wir eine Vorstellung davon, was «rechts» oder «links» ist, trifft das auf Lateinamerika auch zu?
Nein, es ist hier etwas anders gelagert. Neben einer sozialen Wirtschaftsform, die sich gegen den Neoliberalismus stellt, bedeutet «links» in Lateinamerika Schutz und Förderung der nationalen Souveränität. Das heisst, keine Abhängigkeit von den USA und somit keine Stationierung von US-Militär auf dem eigenen Territorium, während «rechts» in der Regel wirtschaftlichen Neoliberalismus und Abhängigkeit von den USA, etwa Stationierung von US-Militär, bedeutet. Das unterscheidet sich vom europäischen Sprachgebrauch. Wenn in Westeuropa ein Präsident oder ein Regierungschef eines Landes mehr Souveränität fordert, weniger Nato, mehr Unabhängigkeit, wird er meistens als «rechts» deklariert.

Durch diese Präzisierung kann man die Entwicklung verstehen, sonst ordnet man die Politik des jeweiligen Staats falsch ein. Zurück zu den Wahlen.
Am 10. Februar treten Noboa und González wieder zur Wahl an. Es gibt keine anderen relevanten Kandidaten.

In den anderthalb Jahren unter Noboa ist sehr viel geschehen, was einen alarmieren sollte. Dazu gehört unter anderem die Stürmung der mexikanischen Botschaft in Ecuador, weil der vormalige Vizepräsident von Rafael Correa, Jorge Glas, dort Asyl bekam, nachdem man ihn seit Jahren juristisch verfolgt hatte. Mit dem Vorwurf angeblicher Korruption wird die jahrelange juristische Verfolgung gegen ihn begründet.

Ich habe mich intensiv mit der Situation auseinandergesetzt und Jorge Glas im Jahre 2020 im Gefängnis besucht. Dabei gewann ich den Eindruck, dass es sich um ein sogenanntes «Lawfare», eine politisch motivierte Justiz, handelt, wie sie auch Lula da Silva oder Dilma Rousseff in Brasilien erleben mussten. Vor zwei Jahren wurde Glas aus dem Gefängnis entlassen und sollte kurze Zeit später erneut verhaftet werden, doch er floh in die mexikanische Botschaft in Ecuador. Dort gewährte man ihm Asyl. In der Folge stürmten ecuadorianische Sicherheitskräfte die mexikanische Botschaft und entführten ihn. Seit diesem Vorfall sitzt er im Gefängnis.

Das Vorgehen der Regierung ist ein eklatanter Bruch des Wiener Abkommens über diplomatische Beziehungen, eine Verletzung der Immunität von Botschaften. Das habe ich noch nie erlebt.  

Wie war das damals bei Assange?
Bei Julian Assange gab es einen anderen Ablauf. Als Correa Präsident war, floh Assange in die ecuadorianische Botschaft in London und bekam dort politisches Asyl. Nach seiner zweiten Amtszeit konnte Correa nicht wiedergewählt werden und empfahl einen Politiker aus seinen Reihen, Lenín Moreno, zur Wahl. Er wurde auch gewählt, hat seine Einstellung aber um 180 Grad geändert und mit den USA zusammengearbeitet. Unter diesem Präsidenten musste Assange die ecuadorianische Botschaft verlassen. Die Briten haben hier nicht die Botschaft überfallen, sondern die Immunität sechs Jahre lang respektiert. Das war kein Bruch des Wiener Übereinkommens. Bei Lenín Moreno war das richtiggehend ein Verrat, da der neue Präsident nach seiner Wahl, die er dank Correa gewonnen hatte, eine Kehrtwende vollzog, nicht nur in dieser Frage, sondern auch wirtschafts-, aussen- und innenpolitisch, bis er dann 2021 zurücktrat. Bei der Wahl 2021 hatte man nach dem Rücktritt von Lenín Moreno erwartet, dass wieder ein linker Kandidat oder eine linke Kandidatin haushoch gewinnt. Das war die Stimmung, die ich selbst empfunden habe, als ich zu dieser Zeit in Ecuador war.

Warum wurde der linke Kandidat nicht gewählt?
Es gibt in Ecuador zwei «linke» Strömungen: die correîstische Linke und eine links-grün alternative, indigene Linke. Letztere hatte auch recht grossen Rückhalt. Diese Spaltung führte schliesslich dazu, dass ein konservativer Bankier, Guillermo Lasso, die Wahl gewinnen konnte.

Das heisst, es gab eine gewisse Kontinuität.
Ja, Lasso setzte den Kurs der weiteren Annäherung an die USA fort und hatte bereits das Militärabkommen mit den USA unterschrieben, das den dort stationierten US-Soldaten vollständige Immunität gewährt. Dazu muss man wissen, dass die USA 800 Militärstützpunkte ausserhalb des eigenen Territoriums besitzen. Sie bauen gerade in Lateinamerika ihre Stützpunkte aus, wobei die Soldaten von jedweder Strafverfolgung ausgenommen sind, so wie das teilweise auch bei Diplomaten der Fall ist. Die Entwicklung liess sich bereits unter Lasso beobachten.

Neu ist, dass der jetzige Präsident Noboa wenige Wochen vor den Neuwahlen, also im Dezember 2024, ein Abkommen mit den USA geschlossen hat, das ihnen ermöglicht, die Galapagos-Inseln militärisch zu nutzen. Das Verfassungsgericht hat das abgesegnet, obwohl der Wortlaut der Verfassung das ausdrücklich untersagt. Das ist die aktuelle Situation. Das Verfassungsgericht beugt sich offenbar den politischen Vorgaben, letztlich den USA.

Neben dem Bruch der Verfassung scheint in Ecuador unter der konservativen Regierung auch internationales Recht keine Rolle zu spielen.
Ja, das Stürmen der mexikanischen Botschaft ist etwas Ungeheuerliches. Nach dem Vorgang habe ich auch die Bundesregierung befragt, denn Jorge Glas ist auch deutscher Staatsbürger. Er stammt aus einer jüdischen Familie, die vor den Nazis geflohen ist.
Wenn dieser Vorgang, die Stürmung einer Botschaft, in der aktuellen Weltlage Schule macht, dann ist das das Ende des internationalen Rechts, das ohnehin geschleift und durch die «regelbasierte Ordnung» – ein reiner Propagandabegriff der Nato – ersetzt werden soll. «Regelbasierte Ordnung» impliziert, dass der Westen seine eigenen Regeln definiert, nach denen die Welt sich zu richten hat. Die «regelbasierte Ordnung» führt weg von den internationalen Gesetzen und Übereinkommen. Es handelt sich beim Stürmen der mexikanischen Botschaft um einen gefährlichen Präzedenzfall, an dem sich offensichtlich kaum jemand stört. Mexiko klagt vor dem IGH, aber das Verfahren läuft noch.

Die Galapagos-Inseln haben doch für die Natur eine ganz spezielle Bedeutung?
Ja, sie sind etwas ganz Besonderes. Sie sind nicht ohne Grund Weltnaturerbe der Unesco. Dort gibt es eine einzigartige Flora und Fauna bedingt durch die geographische Lage, nämlich vom amerikanischen Festland abgetrennt. Die Inseln waren für Charles Darwin eine entscheidende Inspiration der Evolutionstheorie. Sie sind ein Juwel der Menschheit. Aus Sicht der USA haben sie eine ganz andere Bedeutung, denn sie sind im Südpazifik geostrategisch sehr relevant, um bei einer möglichen Konfrontation mit China einen weiteren Stützpunkt für die Marine und die Luftwaffe zu besitzen. Die Unesco müsste jetzt darauf reagieren, dass dort eine Militärbasis errichtet werden soll. Es gibt dort zwar Proteste, aber bislang ist mir eine Stellungnahme von der Unesco nicht bekannt. Es wäre interessant zu wissen, warum sie keinen Alarm schlägt. Oder sie tut es, aber es wird in unseren grossen Medien nicht aufgegriffen. Es ist doch von grosser Bedeutung, dass kulturelle Schätze und Naturschätze besonderen Schutz geniessen, da sie für die ganze Menschheit Relevanz besitzen. Sie müssen gesichert sein vor wirtschaftlichen und militärischen Überlegungen. Bei der aktuellen Weltlage drohen solche Errungenschaften unter die Räder zu kommen. Empörend ist, dass die etablierten Medien nicht darüber berichten.

Wie begründen die USA den Aufbau der Basis auf den Galapagos-Inseln?
Im Vertrag steht, und das ist lächerlich, dass man Drogenbanden bekämpfen möchte. Das Ganze wird mit ehrenhaften Motiven umgarnt, damit verborgen bleibt, dass es um einen geostrategischen Stützpunkt geht. Die USA hatten in den letzten Jahren Lateinamerika «vernachlässigt». Es gibt auch Regierungen, die immer mehr auf Distanz zu den USA gehen. Mexiko unter Obrador und Brasilien unter Lula da Silva verstehen sich nicht als Statthalter der USA. Es gibt auch andere Regierungen, die durchaus kritisch sind. Die Kritiker sind nicht alle so scharf wie seinerzeit Correa, Chávez und Morales, aber Regierungen, die weder den USA sehr gewogen noch von ihr kontrollierbar sind. Inzwischen gibt es Länder, die aus der Sicht der USA eine Gefahr wegen ihres Unabhängigkeitsstrebens darstellen.

Ecuador und Peru dienen sich den USA an. In Peru ist immer noch eine nicht gewählte Präsidentin an der Macht, nachdem der vor drei Jahren gewählte links-souveränistische Präsident verhaftet worden ist. Sie hat überhaupt keine Unterstützung in der Bevölkerung. Hier wird jetzt US-Militär stationiert und auch in Argentinien unter Milei. Im Süden Argentiniens sollen ebenfalls Stützpunkte der USA eingerichtet werden. Die USA versuchen, überall auszuloten, wo es politisch möglich ist, die Dominanz über den Kontinent zurückzugewinnen.

Wer gewinnt die Wahlen?
Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Präsidentschaft in Ecuador. Die Kandidatin der linken Correîsten ist Luisa González. Das wird eine spannende Wahl, und sie wird, wenn es von der Unesco keinen Widerstand gibt, auch über das Schicksal der Galapagos-Inseln entscheiden.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser

«Ein Teil unserer Arbeit ist Wissenstransfer»

Interview mit Dr. med. Walter Künzi

Dr. med. Walter Künzi

Zeitgeschehen im Fokus Sie waren und sind als Arzt immer wieder in Krisen- und Kriegsgebieten tätig.
Dr. med. Walter Künzi Mit dem IKRK war ich 1986 für drei Monate in Peshawar während des Afghanistan-Konflikts. Im Sudan-Konflikt 1989 war ich in Lokchokkio auch mit dem IKRK. 1985 war ich in Ghana, aber das war kein Kriegs­einsatz. Von 2005 bis 2018 war ich mit dem Palestine Children’s Relief Fund (PCRF), einer amerikanischen NGO, immer wieder im Gaza-Streifen. Dann war ich mit Swisscross¹ unter der Führung des IKRK in Tripolis, Libanon. Später ab 2020 ohne IKRK nur mit Swisscross in Erbil im Norden des Irak, in Kurdistan. Das ist aktuell kein Kriegsgebiet. Dort geht es um syrische Flüchtlinge und um Internally Displaced People (IDP), von denen es dort sehr viele gibt. Sie sind in Camps untergebracht und leben finanziell am Existenzminimum. Ein neues Projekt von Swisscross ist ab 2022 Kabul.

Was war der Anlass für ihre Einsätze in Kriegs- und Krisengebieten?
Das Universitätsspital Zürich hatte auf der Chirurgie B eine Oberarztstelle bekommen, bezahlt vom damaligen Schweizerischen Katastrophenhilfekorps. Dieses konnte dann auf den Oberarzt bei Katastrophen oder anderen Notwendigkeiten zugreifen und sagen, jetzt brauchen wir ihn zum Beispiel im Sudan oder in Ghana. Dann hat man gehen müssen. Das war eine schöne Arbeit, völlig anders als in einer universitären Institution. Man hatte freundliche und dankbare Leute um sich herum.

Was war Ihr Motiv für diese Einsätze?
Bei all diesen Männern und Frauen, die in solche Einsätze gehen, ist der Helfergedanke nicht so stark, wie man gemeinhin annimmt. Eigentlich hilft der «Helfer» sich selbst: Du bist gut gewesen, und du hast etwas Vernünftiges geleistet. Man geht also in solche Einsätze, um sich in seinem Beruf zu bestätigen, ich kann etwas, und ich zeige es euch. Letztlich eine Win-Win-Situation, es nützt dem Kranken, den lokalen Mitarbeitern, und ich kann mich selbst auch bestätigen.

Wir haben dann in Erbil auch begonnen, nicht nur Flüchtlinge und IDP’s zu operieren. Wir sahen ein Bedürfnis der Bevölkerung und der lokalen Plastiker in der Behandlung von Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten. Wie im Gaza-Streifen operieren wir jetzt auch in Erbil, mit der Erlaubnis des Gesundheitsministeriums und der lokalen Plastiker, wieder solche Patienten. Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind nicht meine Kernkompetenz, also musste ich jemanden finden, der das perfekt kann. Das war in diesem Fall relativ einfach. Schon bei den Einsätzen im Gaza-Streifen war Johannes Kuttenberger, heute Chef der Kieferchirurgie am Kantonsspital Luzern, immer mit dabei. Ähnliches machen wir in der Handchirurgie, der rekonstruktiven Brustchirurgie nach Tumoren, der Mikrochirurgie und der Orthopädie. Wie überall in der Chirurgie sieht man auch bei solchen Einsätzen, dass in der Chirurgie ohne Teamwork nichts geht.

Eigentlich geht es um Solidarität, «was ich habe, das müssen die anderen auch haben», oder?
Ja, genau. Wir sind in der Schweiz auf einem gewissen Level, und man versucht, die Kollegen im Ausland auf den gleichen Level zu heben. Wir wollen also nicht nur den Patienten helfen, sondern auch dem lokalen medizinischen Personal, kurz, wir möchten auch weiterbilden und die Voraussetzungen schaffen, dass wir überflüssig werden. Wenn Patienten und lokale Behandler glücklich sind, haben wir eine gute Hilfe geleistet, wir waren gut, und das macht mich glücklich.

Mit welchen Argumenten würden Sie heute jungen Berufskollegen einen solchen Einsatz empfehlen?
Ich würde sagen, ihr seht dort als Chirurgen Dinge, die ihr in der Schweiz nie sehen werdet. Ihr könnt aber nicht dorthin gehen, um Sachen, die ihr nicht könnt, dort zu lernen. Ihr müsst alles schon können. Man muss als Schweizer auch die Demut haben, sich einzugestehen, dass es viele Dinge gibt, die man nicht kann.

Neben der Medizin werdet ihr andere Kulturen kennenlernen, würde ich ihnen sagen: freundliche Menschen, schöne Landschaften, andere Religionen, andere Musik, anderes Essen.
Bei uns gibt es alles, dort eben nicht, man muss sich einschränken und lernen zu improvisieren. Wir können hier (fast) alles haben: «Ich hätte gerne das.» Dann bekomme ich es. Im Einsatz muss man irgendwann mangels Materials anfangen zu improvisieren.

Wo ist Swisscross zurzeit tätig?
Jetzt ist Swisscross im Norden des Iraks, in Erbil, mit etwa vier bis fünf Missionen jährlich tätig. Wir geniessen es, unabhängig vom IKRK zu sein. Natürlich hat das auch seine Nachteile, vor allem wenn man ans Geld denkt. Man muss wissen, dass «Hilfe» kostet, viel Geld kostet. Es ist nicht selbstverständlich, dieses Geld zu haben, man muss sich darum bemühen. Der Gründer von Swisscross, Dr. med. Enrique Steiger, macht diese nicht einfachen Betteltouren seit Jahren hervorragend.

Eine zweite Lokalisation, an der das Swisscross seit 2021 arbeitet, ist in Kabul, Afghanistan. Nach zwei Evaluationen in Kabul fand im Oktober 2024 die erste Mission statt. Neu für Swisscross ist hier die Zusammenarbeit mit der Herzchirurgie (Eurasia Heart Foundation). Auch hier also ohne das IKRK.

Weshalb?
Das IKRK ist naturgemäss als grosse Organisation mit vielen staatlichen Geldern sehr bürokratisch und darum auch langsam, es geht zu wenig schnell. Wenn man mit dem IKRK etwas Medizinisches aufbauen will, dann dauert das ein bis anderthalb Jahre. Der Kauf von Instrumenten und Medikamenten unterliegt einer speziellen Kontrolle. Das IKRK darf nicht einkaufen, wo es am günstigsten ist, sondern muss möglichst lokal kaufen. Wenn man etwas importiert, muss es verzollt werden, das geht ins Geld, das sowieso immer etwas knapp ist.
Ich spreche nicht von humanitärer Hilfe in Katastrophen- oder Kriegssituationen wie Nahrung, Wohnmöglichkeiten, sanitären Einrichtungen, von notfallmässiger medizinischer Hilfe. Hier ist das IKRK nach wie vor schnell und unersetzlich. Die notwendige Hilfe wird höchstens vom Geldmangel negativ beeinflusst, sicher nicht von bürokratischen Schikanen. Es ist also nach wie vor wichtig, dass wir finanziell und ideell hinter dem IKRK stehen.

Wie machen Sie das in Erbil?
Wir haben gute Verbindungen zur Barzani Charity Foundation, mit der wir eng zusammenarbeiten. Die Unterstützung und das Wohlwollen der Barzani-Familie ist uns eine grosse Hilfe. Man muss wissen, dass die Barzani-Familie seit den 1960er Jahren in Kurdistan eine politisch bestimmende Grösse ist. Sie helfen uns bei der Einreise nach Kurdistan mit einer kurdischen Identitätskarte. Sie sorgen dafür, dass wir keinerlei Zoll auf mitgebrachten Instrumenten, Implantaten und Medikamenten bezahlen müssen. Das ist für uns sehr hilfreich, da wir somit alle für die Mission notwendigen Dinge in der Schweiz besorgen können und das notwendige Material bei uns haben.

Im Auftrag von Herrn Barzani?
Ja, wir stehen in engem Kontakt zum Bruder des jetzigen Präsidenten, Mulla Mustafa Barzani, der unsere Missionen sehr wohlwollend unterstützt, sogar propagiert und Reklame für unsere Tätigkeit macht. Das hilft uns viel, da wir damit auch das Gesundheitsministerium hinter uns haben. Trotzdem ist es entscheidend zu betonen, dass das Gesundheitswesen Kurdistans nicht dem eines Drittweltlandes entspricht, sondern durchaus einen hohen Standard hat. Leider profitieren die Flüchtlinge, darunter viele Syrer, und die IDP, für die wir vor allem zuständig sind, nur wenig davon.

Aber Ihnen geht es ja einfach darum, einen sinnvollen Beitrag im Gesundheitsbereich zu leisten.
Ja, genau. Es ist wichtig für uns, den zum Teil ärmsten Flüchtlingen und IDP chirurgisch zu helfen. Wie vorher schon gesagt, möchten wir auch auf gewissen Gebieten die ansässigen Ärzte weiterbilden, wenn das denn gewünscht wird. Eben hier muss man besonders feinfühlig, vielleicht auch mit etwas Demut vorgehen: Weiterbildung nur dort anbieten, wo es auch gewünscht wird. Sonst macht es keinen Sinn.

Ist Swisscross, für das Sie ehrenamtlich tätig sind, neutral und unabhängig?
Ja, das muss man sein, denn sonst verliert man. Man soll sich nicht einmischen in politische Dinge, von denen man wenig bis nichts versteht. Man muss sich bewusst sein, dass man als Gast ein Fremder ist, auch wenn man sich nach mehreren Einsätzen oft wie zu Hause fühlt. Wir sind unparteiisch. Ob Mann, Frau, Kind, schwarz, weiss, katholisch, reformiert, muslimisch oder jesidisch spielt keine Rolle, wir behandeln sie.

Ich war ein paarmal mit dem IKRK auf Missionen. Das ist eine grosse Stärke des IKRK, dass es politisch neutral ist. Neutralität ist darum etwas, was man vom IKRK lernen kann. Wenn man nicht neutral ist, verliert man und gefährdet sich und seine Mitarbeiter.

Wie ist die Sicherheitslage in Erbil?
Wir fliegen immer mit Turkish- oder Austrian-Airline. Sobald irgendetwas gefährlich ist, wie zwischen Iran und Israel, dann fliegen diese Fluggesellschaften Erbil nicht an. Häufig gehen wir in ein Restaurant direkt neben der amerikanischen Botschaft. Das wird dann manchmal von den einheimischen Organisatoren verboten, weil es gefährlich sein könnte wegen einer unpräzisen Drohne oder Rakete, die die Amerikaner treffen sollte. Erbil ist aber insgesamt völlig ungefährlich.

Wie ist die wirtschaftliche Lage Kurdistans?
Der Irak hat grosse Ölvorkommen. Die Ölfelder liegen fast ausschliesslich in Kurdistan. Man kann sagen, dass vor allem Kurdistan und damit der Irak nicht arm sind, allerdings sind sie weit davon entfernt, reich wie die Schweiz zu sein. Genaue Zahlen kennt man von Kurdistan nicht.

In welchen Bereichen arbeitet Swisscross in Kurdistan?
Wir arbeiten in den Bereichen Handchirurgie, Verbrennungschi­rurgie, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Orthopädie und Brustchirurgie. Das sind die fünf Pfeiler, die wir haben. Ein ganz grosser Pfeiler ist die Handchirurgie. Man sieht dort Missbildungen, die ich in der Schweiz nur selten sah: Mehr als fünf Finger pro Hand oder Fuss, zusammengewachsene Finger, drei Daumen, verkrüppelte Arme und Beine und vieles mehr.

Wir sehen viel mehr Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten als bei uns. «Hasenscharten», wie sie im Volksmund leider auch heute noch genannt werden, sollte man nicht mehr sagen. Die Kinder haben neben der Lippenspalte auch einen offenen Gaumen und Kiefer, welcher das normale Zahnwachstum behindert, und sie haben unbehandelt auch die typisch näselnde Sprache. Wie oben schon erwähnt, behandeln wir diese Missbildungen nicht nur bei Flüchtlingen und IDP, sondern auch bei Bewohnern Erbils. Dies geschieht mit Einverständnis des Gesundheitsministeriums und der lokalen Plastiker und Kieferchirurgen. Die Ärzte haben dort wenig Erfahrung in dieser Chirurgie und bei den vielen anderen Aufgaben, man denke nur an die vielen Verbrennungen und Missbildungen, die es zu behandeln gibt, kaum die Zeit, auch noch diese Patienten zu betreuen.

Das Gleiche gilt für die Brustchirurgie bei Frauen nach Brustamputationen wegen Krebs. Es ist nicht so, dass die Plastiker dort zu brustrekonstruierenden Operationen unfähig wären, aber ihr Pensum ist überlastet und die öffentlichen Spitäler sind mit anderen Patienten überbelegt. All diese Gründe führen dazu, dass ihnen darum auch die Erfahrung bei solchen nicht ganz einfachen chirurgischen Problemen fehlt.

Mit lokalen Orthopäden und Spezialisten aus Grossbritannien und der Schweiz behandeln wir Patienten mit Problemen der Knochen: Nicht geheilte Brüche, in falscher Stellung verheilte Brüche, Knocheninfektionen und auch hier Missbildungen. Auch auf diesem Gebiet dürfen wir mittlerweile Bewohner Erbils und nicht nur Flüchtlinge und IDP behandeln. Ein Grund dafür ist vor allem, dass den kurdischen Orthopäden und den Spitälern schlicht die Kapazität zur Behandlung all dieser Kranken fehlt. Und dann viele Verbrennungen!

Verbrennungen?
Verbrennungen haben sie viel mehr als wir hier in Europa. Flüchtlinge und IDP kochen noch am offenen Feuer. Wenn da irgendetwas umkippt oder zu brennen beginnt, sind die Kleinsten, eben die Kinder, fast immer betroffen. Vor allem wenn noch auf dem Boden gekocht wird, wie in vielen Flüchtlings-Camps, dann trifft es bei Unachtsamkeiten praktisch immer die Kinder. Man muss sich als Schweizer auch klar werden, dass die Raumverhältnisse um vieles enger sind als bei uns! Der Luxus einer 5-Zimmer Wohnung ist absolut unvorstellbar. Man wohnt in einem Raum, zum Teil mit fünf Kindern, steht sich also buchstäblich auf den Füssen.
Man sieht dort schlimme Verbrennungen, wie wir sie in Europa gar nicht mehr kennen. Natürlich kommt erschwerend dazu, dass auch die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten nicht vergleichbar sind mit unseren.

Als Gast und Fremder muss man aufpassen, dass man in der Behandlung Kranker nicht zur Konkurrenz der lokalen Ärzte wird. Man darf nie vergessen, dass sie das gesamte Jahr anwesend sind, wir jedoch nur einen Monat pro Jahr und dann wieder in die Schweiz zurückkehren.

Man darf sie nicht konkurrenzieren.
Wir halten uns auch an das. All diese Aufgaben, die wir neben der Betreuung der Flüchtlinge machen, müssen unter der Leitung eines lokalen Spezialisten erfolgen! Er entscheidet, bei welchen Patienten wir gebraucht werden. Das Gesundheitsministerium hat uns mit dem Einverständnis der kurdischen Ärzte angefragt, ob wir gewisse Operationen mit den lokalen Ärzten im Sinne einer Weiterbildung durchführen.

Wie verändert Wiederherstellungschirurgie den Alltag, das Leben und die Zukunft Ihrer Patienten?
Wir haben ein Kind operiert, das so verbrannte Hände hatte, dass es mit ihnen nichts mehr machen konnte. Wir haben einen einfachen Eingriff gemacht, allerdings zeitlich aufwändig. Als ich das Kind nach drei Monaten wieder gesehen habe, konnte es seine Hand wieder gebrauchen. Das sind Erfolge, die für solche Kinder lebenslang gültig sind. Wenn man nichts machen würde, könnte es seine Hand nicht gebrauchen. Für das Kind ist dieser Eingriff ein unglaublicher Gewinn.

Ein anderes Beispiel: Wir operierten ein dreijähriges Kind, Ahmed, der bei einer kriegsbedingten Explosion ein Bein und einen Arm verloren hatte. Er konnte nicht gehen. Das Bein, das er noch hatte, war in einer unnatürlichen Beugung im Knie fixiert. Wir operierten das gebeugte Knie und ermöglichten ihm eine Prothese für das amputierte Bein. Wir haben jetzt einen Film gemacht von ihm: Er kann nicht nur gehen, er rennt.

Ein weiteres Beispiel: Patienten, die ihre Hand nach Verletzung eines Nervs wegen eines Unfalls oder im Krieg erlittener Verletzung nicht mehr richtig bewegen können, zum Beispiel eine Fallhand, also keine Bewegung im Handgelenk und der Finger. Da gibt es eine Operation, die haben wir fünf Mal gemacht, die das korrigiert und für die Verletzten ein enormer Gewinn ist, der auch eine Rückkehr ins Arbeitsleben ermöglicht. Das ist nicht besonders schwierig, man muss einfach wissen, wie es geht.

Man muss aufpassen, dass man gewisse Operationen nicht macht. Zum Beispiel kleine Narben im Gesicht oder an den Armen und Beinen, also mehr «Schönheitschirurgie» als funktionelle Chirurgie. Unser Ziel ist also, Funktion zu gewinnen. Der Patient kann die Hand wieder besser gebrauchen oder er kann zum Beispiel wieder gehen. Anders ausgedrückt, es sieht nach wie vor nicht besonders schön aus, vor allem nach Verbrennungen, aber die Gliedmassen funktionieren wieder. Wir machen also keine ästhetische Operationen. Die Brustrekonstruktionen bei Frauen nach Brustkrebs, die wir durchführen, sind keine ästhetischen, sondern wiederherstellende Operationen!

Dann haben wir die Mikrochi­rurgie eingeführt, also Operationen unter dem Mikroskop. Solche Operationen also, bei denen zum Beispiel Gewebe vom Rücken an eine andere Körperstelle gebracht wird, sind in vielen Ländern Routine. Sie sind ein Bestandteil der Unfallchirurgie, der Orthopädie, der Brustrekonstruktion nach Tumoren, der Nervenchirurgie, der Neurochirurgie und vieler anderer Spezialgebiete der Chirurgie. Dem Laien ist besser bekannt das «wieder annähen» von abgetrennten Fingern, die Replantationen also, etwas, was ohne Mikrochirurgie gar nicht möglich ist.

Das können Sie alles?
Ja, das gehört zur Grundausbildung in der plastischen Chirurgie. Am Universitätsspital in Zürich, wo ich viele Jahre arbeitete, machen die mikrochirurgischen Operationen einen wesentlichen Anteil der Tätigkeit aus.

Wie geht es in Erbil nach einer Operation weiter?
Wir gehen drei- bis viermal pro Jahr nach Erbil und sehen die Patienten wieder, die wir operiert haben. Wir haben vor Ort auch zwei Ärzte, die die Auswahl der Patienten, Nachkontrolle und Planung der Operationen organisieren. Zusätzlich haben wir drei hervorragende plastische Chirurgen vor Ort, die unsere Patienten nachkontrollieren und die bei Problemen die Ansprechpartner für die Patienten sind, wenn wir abwesend sind. Ich bekomme von ihnen Fotos: «Was soll man da machen, da ist etwas passiert.» Es ist nicht so, dass in der Chirurgie immer alles gut geht. Manchmal gibt es Infektionen, dann muss man rasch handeln und kann nicht warten bis zur nächsten Mission, und da sind diese Kollegen Gold wert.
Unsere Aufgabe sehen wir nicht nur in den Operationen. Viele Assistenzärzte kommen während unserer Missionen aus den öffentlichen Spitälern zu uns, und wir versuchen, sie so gut wie möglich weiterzubilden. Wir wollten am Anfang nur für IDP und für Flüchtlinge arbeiten. Jetzt ist es so, dass mit der Genehmigung des kurdischen Gesundheitsministeriums und mit dem nicht zu unterschätzenden Einfluss der Barzani-Familie eine Weiterbildung für kurdische Ärzte stattfindet.

… eigentlich ein Wissenstransfer?
Ja, ein Teil unserer Arbeit ist Wissenstransfer. Es ist eines unserer grossen Ziele, dass die kurdischen Kollegen all das, was wir jetzt können, selbst können, also, dass es uns nicht mehr braucht.

… Entwicklungshilfe im eigentlichen Sinn: «Hilfe zur Selbsthilfe».
Ja. Das Schönste wäre, wenn wir ersetzbar sind. Wenn sie sagen: «Wir brauchen euch nicht mehr. Ihr müsst nicht mehr kommen.» Dann ist es gut.

Gibt es noch etwas, was Ihnen wichtig ist?
Mir ist es ein Anliegen, dass man sich interessiert für all diejenigen, denen es nicht so gut geht wie uns, und dass wir nie vergessen, dass Konflikte immer auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen werden. Denen sollten wir helfen.

Herr Dr. Künzi, herzlichen Dank für das Gespräch.
Interview Henriette Hanke Güttinger


¹ Swisscross, in der Schweiz registriert, ist eine unabhängige, unparteiische humanitäre NGO, die sich auf die humanitäre Wiederherstellungschirurgie konzentriert. www.swisscross.org

Menschlichkeit ist lernbar

«Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden»¹
von Susanne Lienhard, Gymnasiallehrerin

Wenn ich mit Jugendlichen Texte über Krieg und Frieden aus der Encyclopédie von Denis Diderot las, begegnete ich häufig der Ansicht, dass es schon immer Kriege gegeben habe und es auch immer Kriege geben werde. Die schrecklichen Nachrichten auf Twitter, Instagram etc. würden es ja jeden Tag zeigen. Als Einzelner könne man daran nichts ändern. Die Philosophen der Aufklärung sahen das anders.

Sie orteten den Grund für Kriege in der Verdorbenheit der Menschen, im Machtstreben der Regierungen und bezeichneten den Krieg als Staats-Krankheit, die niemand unbeschadet übersteht – auch nicht der Sieger. «Wenn [hingegen] die Vernunft die Menschen regierte, wenn sie auf die Staatschefs den Einfluss hätte, der ihr gebührte, würden sie sich nicht unbedacht der Wut des Krieges hingeben. […] Der Krieg entvölkert die Staaten, stürzt sie in Unordnung, bedroht Freiheit und Besitz der Bürger, stört den Handel, und die Felder bleiben brach und verganden.»² Bei solchen Textpassagen staunten die Schülerinnen und Schüler, dass bereits im 18. Jahrhundert so etwas geschrieben wurde. Sie wollten zu Recht wissen: «Wenn bereits im 18. Jahrhundert klar war, dass es in einem Krieg keine Sieger gibt, warum gibt es dann trotzdem immer noch Kriege auf dieser Welt?»

Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es in der Tat nicht. Im gemeinsamen Gespräch kristallisierte sich jedoch als ein wichtiger Punkt heraus, dass der Mensch eben kein reines Vernunftswesen ist, wie die Aufklärer vermuteten, sondern auch Gefühle hat, die immer wieder der Vernunft zuwiderlaufen und Oberhand gewinnen. Wer kennt nicht Eifersuchts-, Ohnmachts- und Angstgefühle, vielleicht auch Kleinheitsgefühle, die allesamt schlechte Berater sind, wenn es gilt, mit Augenmass zu handeln und vernünftige Entscheide zu fällen.

«Kriege sind kein Naturereignis wie Meeresstürme und Erdbeben»
Was alle Völker dieser Erde vereint, ist der Wunsch nach Frieden. Niemand zöge freiwillig in den Krieg, wenn er nicht mittels Kriegspropaganda dazu gedrängt würde. Kriegspropaganda setzt vor allem auf emotionaler Ebene an. Feindbilder werden aufgezogen und mit möglichen Horrorszenarien Angst geschürt, damit die Soldaten in der stolzen Überzeugung, Land und Leute zu verteidigen, in den Krieg ziehen. Bertha von Suttner beschreibt diesen Vorgang in ihrem 1889 veröffentlichten Antikriegsroman «Die Waffen nieder» in aller Deutlichkeit. Der Roman wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, und die Autorin erhielt dafür als erste Frau den Friedensnobelpreis im Jahr 1905. «Die Waffen nieder» hat nichts an Aktualität verloren und ist lesenswerter denn je. Im Zentrum steht die Erkenntnis, «dass Kriege keine Naturereignisse sind wie Meeresstürme und Erdbeben, unaufhaltbar, gesetzmässig wiederkehrend. Es sind Menschen, die sie zu verantworten haben, Menschen, denen es einzig und allein darum geht, ihre Macht- und Einflusssphären auszuweiten, Länder zu erobern, Völker sich untertan zu machen. […] Nicht die einfachen Menschen, nicht die werktätigen Massen sind gemeint. Sie brauchen den Krieg nicht, das Volk lehnt ihn ab. […] Aber das Volk lässt sich manipulieren von denen, die für ihre Interessen sein Blut vergiessen.»³

Bald 140 Jahre später hat sich an dieser Erkenntnis nichts geändert. Die Manipulationsmöglichkeiten sind allerdings perfider geworden. Vorurteile und Feindbilder können über die «sozialen» Medien in Sekundenschnelle verbreitet werden und treffen hier im Westen auf eine unbedarfte Jugend, die selber keine Kriege mehr erlebt hat (zum Glück!), die aber auch über eine geringe geschichtliche und politische Bildung verfügt. Via Twitter bzw. X, Facebook, Instagram & Co werden sie mit Kriegsbildern aus aller Welt konfrontiert, die primär Angst, Wut und vor allem Ohnmacht erzeugen. Sie erfahren weder die Hintergründe der Kriege noch, wie Konflikte am Verhandlungstisch gelöst werden könnten.

Kriege entstehen im Geiste des Menschen
Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hat, wusste, was Krieg bedeutet. In der Präambel der Charta der 1945 gegründeten Sonderorganisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) wird Bertha von Suttners Erkenntnis bestätigt. Die unterzeichnenden Staaten ziehen folgende Schlüsse:
«Die Regierungen der Vertragsstaaten dieser Verfassung erklären im Namen ihrer Völker:
Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden.

Im Lauf der Geschichte der Menschheit hat wechselseitige Unkenntnis immer wieder Argwohn und Misstrauen zwischen den Völkern der Welt hervorgerufen, sodass Meinungsverschiedenheiten nur allzu oft zum Krieg geführt haben.

Der grosse furchtbare Krieg, der jetzt zu Ende ist, wurde nur möglich, weil die demokratischen Grundsätze der Würde, Gleichheit und gegenseitigen Achtung aller Menschen verleugnet wurden und an deren Stelle unter Ausnutzung von Unwissenheit und Vorurteilen die Lehre eines unterschiedlichen Wertes von Menschen und Rassen propagiert wurde.

Die weite Verbreitung von Kultur und die Erziehung zu Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden sind für die Würde des Menschen unerläss­lich und für alle Völker eine höchste Verpflichtung, die im Geiste gegenseitiger Hilfsbereitschaft und Anteilnahme erfüllt werden muss.

Ein ausschliesslich auf politischen und wirtschaftlichen Abmachungen von Regierungen beruhender Friede kann die einmütige, dauernde und aufrichtige Zustimmung der Völker der Welt nicht finden. Friede muss – wenn er nicht scheitern soll – in der geistigen und moralischen Solidarität der Menschheit verankert werden.»

Geistige und moralische Solidarität der Menschheit fördern
Die Schweiz ist seit 1949 Mitglied der Unesco und hat sich damit der Verbreitung von Kultur und der Erziehung zur Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden verpflichtet in der Überzeugung, dass Menschlichkeit lernbar ist. Es ist entscheidend, was die heranwachsenden Generationen von zu Hause und in der Schule mitbekommen. Ob sie sich in ihrer Freizeit beim Gamen im Kriegsspiel üben oder sich zum Beispiel bei der freiwilligen Feuerwehr oder bei den jungen Samaritern oder in einem Orchester, einem Chor engagieren, ob sie sich vorwiegend über die «sozialen» Medien informieren, was auf der Welt geschieht, oder in der Schule etwas über die Hintergründe und die Entwicklung vergangener und aktueller Konflikte erfahren, Möglichkeiten zur gewaltfreien Konfliktlösung kennenlernen und in geschichtlichem Denken geschult werden. Es ist entscheidend, ob sie im fatalistischen Glauben gelassen werden, dass der Einzelne eh nichts tun kann oder ob sie von Persönlichkeiten wie zum Beispiel Henry Dunant erfahren, die durch ihr Beispiel ermutigen, Verantwortung für mehr Menschlichkeit in dieser Welt zu übernehmen.

Die Genfer Konventionen, essentieller Bestandteil des humanitären Völkerrechts, und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz als deren Kontrollorgan haben ihren Ursprung in den Erlebnissen des Genfer Geschäftsmanns Henry Dunant nach der Schlacht von Solferino am 24. Juni 1859, die er in seinen «Erinnerungen an Solferino» wie folgt schildert: «In der Stille der Nacht hörte man Stöhnen, erstickte Angst- und Schmerzensschreie, herzzerreissende Hilferufe. Die Sonne des 25. Juni beleuchtet eines der schrecklichsten Schauspiele, das sich erdenken lässt. Das Schlachtfeld ist allerorts bedeckt mit Leichen von Menschen und Pferden. Die unglücklichen Verwundeten sind bleich, fahl und verstört. Die, deren offenen Wunden sich bereits entzündet haben, sind wie von Sinnen vor Schmerzen. Sie verlangen, dass man sie umbringt. Immer fühlbarer wird der Wassermangel. Die Gräben sind vertrocknet. Die Soldaten finden meist nur ungesundes und sumpfiges Wasser, um den Durst zu stillen.» Henry Dunant suchte eine Gruppe einheimischer Frauen zusammen und teilte sie in kleine Einheiten auf, um den Verwundeten Nahrung und Wasser zu bringen. Er trug ihnen auf, die blutenden und von Ungeziefer bedeckten Körper zu waschen, damit die Wunden behandelt werden konnten. Er organisierte ein primitives Feldlazarett in einer Kirche, sammelte Bettwäsche, um sie als Verbandmaterial zu verwenden und kaufte Nahrungsmittel und Medikamente in benachbarten Städten. Kleine Jungen wies er an, Wasser in Eimern heranzutragen. Dunant bemerkte, dass alle Helfer die Nationalität der Männer, die sie pflegten, vergassen. Sie waren nun «tutti fratelli» – alle Brüder. Er schlug vor, «Hilfsorganisationen zu gründen, deren Ziel es sein müsste, die Verwundeten in Kriegszeiten durch aufopfernde Freiwillige, die für ein solches Werk besonders geeignet sind, pflegen zu lassen.» Dunant traf sich bereits 1863 mit vier weiteren Gründungsmitglieder des späteren Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und im August 1864 wurde im Stadthaus von Genf die erste Genfer Konvention betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen von zwölf Staaten angenommen. Die Initiative eines einzelnen Menschen hatte grosse Wirkung.

Bedeutung der Schweizer Neutralität
Die Schweiz hat sich in verschiedener Hinsicht verpflichtet, alles in ihrer Macht stehende zu tun, Kriege zu verhindern und Konflikte auf diplomatischem Wege zu lösen. Sie ist seit 1865 Sitz des IKRK und Depositar-Staat der Genfer Konventionen, seit 1949 Mitglied der Unesco und seit 2002 Mitglied der Uno, die in ihrer Charta ebenfalls alle Mitglieder verpflichtet, «künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren.» Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, ist die Wahrung der Schweizer Neutralität unabdingbar. Eine glaubwürdige Neutralität ist Voraussetzung für die diplomatischen und humanitären Dienste, die die Schweiz seit vielen Jahren leistet. Der Bundesrat darf sie nicht aufs Spiel setzen, indem er vor den Mächtigen dieser Welt den Bückling macht, Milliarden an Steuergeldern ausgibt, um unsere Verteidigungsarmee Nato-kompatibel aufzurüsten, sich dem «European Sky Shield» Projekt anschliesst und damit den Schweizer Luftraum für militärische Überflüge in Kriegsgebiete freigibt oder indem er Sanktionen der USA oder der EU gegen einzelne Länder, die uns nichts angetan haben, mitträgt. Die Glaubwürdigkeit der Schweiz als neutrales Land, in dem auf diplomatischem Weg Konfliktlösungen ausgehandelt werden könnten, hat unter dieser Politik des Bundesrates schweren Schaden erlitten, den es dringend zu reparieren gilt. Die zustande gekommene Neutralitätsinitiative⁴ eröffnet dem Schweizer Volk die Möglichkeit, den eingeschlagenen Kurs des Bundesrates zu stoppen.

Erziehung zu Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden
Die Erziehung zum Frieden ist eine weitere zentrale Aufgabe. Damit eine heranwachsende Generation Zivilcourage und eigenständiges Denken entwickeln kann, braucht sie Vorbilder, emotionale Stärkung durch verlässliche menschliche Beziehungen und Bildung im umfassenden Sinn. Für Lehrerinnen und Lehrer, die ihre Schülerinnen und Schüler in humanitären Fragen und Werten unterrichten möchten, stellt das Schweizerische Rote Kreuz Lehrplan 21 kompatibles Unterrichtsmaterial zur Verfügung.⁵

So bietet zum Beispiel das Unterrichtsdossier zum Thema «Regeln im Krieg» eine Einführung ins humanitäre Völkerrecht. Es ist eine wertvolle Grundlage für Diskussionen über bewaffnete Konflikte, Regeln im Krieg, Flucht, neue Perspektiven, Heimat und Familie. Im sehr ausführlichen Lehrmittel «Entdecke das Humanitäre Völkerrecht», das in zahlreichen Sprachen zur Verfügung steht, finden sich weitere sorgfältig ausgearbeitete Unterrichtsvorschläge mit Zusatzinformationen für Lehrerinnen und Lehrer. Das Schweizerische Rote Kreuz bietet auch an, Schulbesuche zum Humanitären Völkerrecht zu machen und auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittene, didaktisch abwechslungsreiche Inputs zu geben. Das Thema eignet sich für Jugendliche ab 13 Jahren.

Das «Project Humanity» macht Menschlichkeit lernbar. Das Material steht als hybrides Lehrmittel oder zum Ausdrucken zur Verfügung. Die Jugendlichen lernen dabei die vier humanitären Prinzipien und die sieben Grundsätze der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung kennen und verstehen: Menschlichkeit – Unparteilichkeit – Neutralität – Unabhängigkeit. Für das IKRK gelten zusätzlich das Prinzip der Freiwilligkeit – Einheit – Universalität.
Eine weitere Möglichkeit, Jugendliche an Fragen von Krieg und Frieden, an die Entstehung der Genfer Konventionen und des IKRK heranzuführen, ist ein Besuch im Rotkreuz- und Rothalbmond-Museum in Genf. Es ist Teil des humanitären Erbes der Schweiz und eng mit der Schweizer Geschichte verbunden. Kern des Museums ist die Dauerausstellung, die sich mit den drei grossen Herausforderungen humanitärer Aktionen befasst: Menschenwürde verteidigen, Familienbande wieder herstellen und Risiken von Naturgefahren begrenzen.

Aussergewöhnlicher Bestandteil der Dauerausstellung sind fünf Millionen Karteikarten mit Informationen zu Kriegsgefangenen, deportierten, verletzten oder vermissten Soldaten im Ersten Weltkrieg. Dieses IKRK-Archiv wurde von der Unesco ins Weltdokumentenerbe aufgenommen. Obwohl die Dokumente über 100 Jahre alt sind, erhält das Museum noch heute viele Mails mit Anfragen zu Kriegsgefangenen.

Die Auseinandersetzung mit Fragen von Krieg und Frieden, mit Fragen der Menschlichkeit und der humanitären Tradition der Schweiz ist gerade in der aktuellen Weltlage grundlegend. Im Gespräch mit den Jugendlichen spürt man, wie sie daraus Kraft und Hoffnung schöpfen und Ohnmachtsgefühle der Frage weichen: «Was könnte mein Beitrag für mehr Menschlichkeit auf dieser Welt sein?» ■


¹ Präambel der UNESCO-Charta
² Article «Paix» in der Encyclopédie de Denis Diderot
³ Sigrid und Helmut Bock im Nachwort zu Berta von Suttner: Die Waffen nieder. Husum 1990.
⁴ neutralitaet-ja.ch/
⁵ www.redcross.ch/de/unser-angebot/aus-und-weiterbildung/ideen-und-unterlagen-fuer-den-schul-unterricht

«Humanitäres Erbe der Schweiz in Gefahr» – Soll das Genfer IKRK-Museum nach Abu Dhabi ins Exil geschickt werden?
sl. In der Thurgauer Zeitung war am 4. Januar unter obigem Titel zu lesen, dass der Bundesrat den vorgeschlagenen Sparmassnahmen der externen Arbeitsgruppe um Serge Gaillard zugestimmt habe. Um das strukturelle Defizit des Bundes zu beseitigen, empfiehlt die Gruppe mit der Massnahme 4,3 der Beilage 2, die jährliche Subvention von 1,1 Millionen Franken für das IKRK-Museum beim Aussendepartement zu streichen. Neu soll das Bundesamt für Kultur für Subventionen zuständig sein. Laut Museumsdirektor Pascal Hufschmid kann dieses aber maximal 300 000 Franken für sein Museum sprechen, was bei einem Jahresbudget von 4,5 Millionen zu einem nicht reduzierbaren Defizit von 800 000 Franken führen würde. «Wenn es keine Lösung gebe, führe das zur Schliessung des Museums. Es gebe bereits Stimmen, die das Museum in eine Stadt wie Abu Dhabi verschieben wollten.» Das wäre absurd, da es sich um ein Museum zur Schweiz handle. Eine Verlegung in die Vereinigten Arabischen Emirate würde die Position der Schweiz schwächen. Hufschmid gibt die Hoffnung nicht auf, dass gemeinsam noch eine Lösung gefunden werden kann. «In der Dezembersession hat die SP-Nationalrätin Estelle Revaz eine Motion eingereicht, in der sie fordert, der Bund müsse das Museum finanziell ausreichend unterstützen: ‹Es bewahrt ein einzigartiges Kulturerbe und macht es der Öffentlichkeit zugänglich.›»¹
Es ist eine Unverschämtheit: Um die Armee Nato-kompatibel aufzurüsten werden für die Jahre 2025 bis 2028 39,8 Milliarden Franken Steuergelder gesprochen. Um im Schoss der EU aufgenommen zu werden, ist der Bundesrat unter anderem dazu bereit, von 2025 bis 2036 insgesamt 3,1 Milliarden Franken «Marktzutrittsgebühren» an die EU zu leisten. Aber für den Erhalt des humanitären Schweizer Erbes bleiben lediglich 300 000 Franken übrig.
Das Museum zeigt das Erbe von Henry Dunant und General Dufour als Begründer des Roten Kreuzes und der Genfer Konventionen – und damit des humanitären Völkerrechts. Wie Hufschmid zu Recht sagt, gehört das alles zur Schweizer DNA. Das Museum verkörpert die Gründungsprinzipien der Schweiz: Frieden, Solidarität und die Einhaltung der Menschenrechte. Wenn es nach dem Bundesrat geht, kann es ohne weiteres nach Abu Dhabi ins Exil geschickt werden.
Das kommt nicht in Frage. Es wäre ein weiterer Verrat an der humanitären Tradition der neutralen Schweiz. Die Motion von Nationalrätin Revaz verdient kräftige Unterstützung. Es ist höchste Zeit, der Zersetzung des Modells Schweiz durch den Bundesrat Einhalt zu gebieten.
¹ Othmar von Matt: «Humanitäres Schweizer Erbe in Gefahr». In: Thurgauer Zeitung vom 04.01.2025.